Univ. Prof. Gio­vanni Maio: Von nicht mess­ba­ren Werten

10.05.2016 | Politik

Ein Pati­ent ist kein Kunde, eine The­ra­pie kein plan­ba­rer Pro­zess und Medi­zin ist keine Geschäfts­be­zie­hung. Sie lebt von sozia­len Wer­ten, die öko­no­misch nicht mess­bar sind. Öko­no­mie soll Medi­zin ermög­li­chen, aber sie nicht steu­ern. Der Medi­zin­ethi­ker Univ. Prof. Gio­vanni Maio erklärt, wieso Öko­no­mie in der Medi­zin nicht funk­tio­nie­ren kann wie in der Industrie.Von Marion Huber

Medi­zin ist keine Pro­fit-getrie­bene Geschäfts­be­zie­hung, son­dern die Bereit­schaft der Heil­be­rufe, sich sach­lich und mensch­lich für ihre Pati­en­ten ein­zu­set­zen – und das kann man nicht kau­fen! Schö­ner könnte man es kaum for­mu­lie­ren wie der Medi­zin­ethi­ker Univ. Prof. Gio­vanni Maio kürz­lich zu Beginn sei­nes Plä­doy­ers für die ärzt­li­che Frei­heit bei einer Ver­an­stal­tung in Wien.

Um Medi­zin zu ermög­li­chen, braucht es Öko­no­mie – im Sinne eines ver­nünf­ti­gen Ein­sat­zes von Res­sour­cen. Öko­no­mie darf aber nicht die Rich­tung vor­ge­ben, in die sich Medi­zin zu bewe­gen hat. Das Ver­nunft-ori­en­tierte Den­ken der Öko­no­mie darf das Wesen der Medi­zin nicht ver­for­men. Die Medi­zin dient näm­lich nicht der Gewinn­ma­xi­mie­rung; sie ist eine soziale Pra­xis. Pati­en­ten sind keine Kun­den, sie wol­len keine Ange­bote ein­ho­len und Dienst­leis­tun­gen kau­fen; sie suchen Hilfe, Unter­stüt­zung und soziale Inter­ak­tion. Sie wol­len ver­trauen kön­nen, brau­chen jeman­den, der sich ihrer Not annimmt – ohne Kal­kül, in einer selbst­ver­ständ­li­chen, empa­thi­schen Art. Das macht Medi­zin aus.

Wenn Medi­zin indus­tria­li­siert wird, ver­än­dern sich das Den­ken, die Abläufe und die Atmo­sphäre. Es ent­wi­ckeln sich unter ande­rem drei Tendenzen:

1. Zeit wird zu einem nega­ti­ven Aufwand

Die „Per­so­nal-inten­sive“ Zeit mit dem Pati­en­ten wird nur noch als Auf­wand gese­hen, der mini­miert wer­den muss. Die Indus­trie ruft nach Effi­zi­enz­stei­ge­rung und damit zugleich nach einer Ver­knap­pung der Zeit. Was für die Indus­trie gilt, gilt aber nicht für die Medi­zin. In der Indus­trie ist Auf­wand nur gut, wenn er die Pro­duk­tion stei­gert; der ein­zige Wert, der zählt, ist das Pro­dukt, das man ver­kauft. Unter die­ser Prä­misse ist es ratio­nal, den Weg zum Pro­dukt zu beschleu­ni­gen. Der Gedanke wird auf die Medi­zin über­tra­gen: Zeit wird nega­tiv gese­hen und wer sich Zeit nimmt, kommt in den Ver­dacht der Ver­schwen­dung, der Inef­fi­zi­enz. Er soll schnel­ler machen, Zeit spa­ren. In der Medi­zin ist die Zeit mit dem Pati­en­ten aber nicht nega­tiv als Auf­wand zu sehen, son­dern im Gegen­teil: als zen­trale Inves­ti­tion! Zeit mit und für den Pati­en­ten hat einen Mehr­wert und macht gute The­ra­pie erst mög­lich. Der Arzt – als freier Beruf – muss die Frei­heit haben, selbst zu ent­schei­den, wo und wann mehr Zeit inves­tiert wer­den muss, um gute Behand­lung zu leis­ten. Spart man an der Zeit, spart man am Kern der Medi­zin und an der Qua­li­tät. Das gewähr­leis­tet keine bes­sere Medi­zin, son­dern gefähr­det gute Medizin.

2. Kom­plexe Ent­schei­dun­gen wer­den in Sche­mata gezwängt 

The­ra­pie wird als Anein­an­der­rei­hen von Ent­schei­dun­gen ver­stan­den, die nach einem fes­ten Schema funk­tio­niert. Ein streng plan­mä­ßi­ges Vor­ge­hen wird zu einem Ideal, das über allem steht. In der Indus­trie ist das Pro­dukt von Beginn an vor­ge­ge­ben, der Weg dahin steht fest. Medi­zin funk­tio­niert aber nicht so. Wenn kom­plexe, indi­vi­du­elle Ent­schei­dun­gen linea­ri­siert, also ver­ein­heit­licht wer­den und der Plan zum Ideal wird, muss der ein­zelne Mensch die­sem Plan unter­ge­ord­net wer­den. In der Indus­trie dient Linea­ri­sie­rung viel­leicht der Qua­li­täts­si­che­rung; Nivel­lie­rung und Rou­ti­ni­sie­rung sind nicht Kern der Medi­zin. Die echte Qua­li­tät der Medi­zin ist die situa­tive Anpas­sung an die Unver­wech­sel­bar­keit des indi­vi­du­el­len Pati­en­ten. In der Medi­zin geht es um schritt­wei­ses, situa­ti­ons­be­zo­ge­nes Han­deln, nicht um das Abspu­len eines Plans oder um starre Regel­be­fol­gung. Es geht um Fein­sinn, Behut­sam­keit, Ruhe und Erfah­rung – Inter­ak­tion macht die Qua­li­tät aus. Das genaue Gegen­teil zur indus­tri­el­len Produktion.

3. Was nicht mess­bar ist, ist nichts mehr wert

Medi­zin wird gezwun­gen, an all dem zu spa­ren, was nicht in objek­ti­vier­bare Para­me­ter gegos­sen wer­den kann. Im Umgang mit dem Pati­en­ten geht es aber nicht nur um die Qua­li­tät der Pro­zesse, um das Mess­bare; es geht um die Qua­li­tät des Zuhö­rens, der Begeg­nung, das Mit­füh­len, das Bespre­chen. Es zählt nicht nur die Ein­hal­tung einer for­ma­len Vor­gabe, son­dern auch immer das Wie. Es genügt nicht, das Not­wen­dige zu tun – nur das, was man über­prü­fen und kon­trol­lie­ren kann. Kon­trolle ist wich­tig, aber sie erfasst nicht die ganze Wahr­heit. Indus­tria­li­sie­rung wer­tet alle nicht mess­ba­ren Qua­li­tä­ten radi­kal ab – und das demo­ti­viert die Heil­be­rufe, weil der soziale Gedanke der Sinn ihres Han­delns ist. Zer­stört man die Moti­va­tion, ver­min­dert man die Effizienz.

So wird die Kern­leis­tung der Medi­zin unsicht­bar gemacht: Anstelle sozia­ler Werte wer­den indus­tri­elle Werte geför­dert. Neben der Ori­en­tie­rung an Wis­sen­schaft braucht es aber eine Auf­wer­tung des Zwi­schen­mensch­li­chen. Medi­zin soll den Pati­en­ten nicht nur durch Ratio­na­li­tät hel­fen, son­dern auch durch Empa­thie und Für­sorge. Nur dann wird die Medi­zin eine mensch­li­che Medi­zin blei­ben. Rein for­mal wird in der Medi­zin alles ange­bo­ten, aber es wird an der fal­schen Stelle gespart: an der Bezie­hung, der Atmo­sphäre, dem Zwischenmenschlichen.

Aber Medi­zin ist eben kein Indus­trie­pro­zess, Gesund­heit ist kein Pro­dukt und man kann sie nicht kaufen.

* Vor­trag von Univ. Prof. Gio­vanni Maio beim Forum Hos­pi­tal Manage­ment, Wien, April 2016

Zur Per­son

Univ. Prof. Gio­vanni Maio hat Medi­zin und Phi­lo­so­phie stu­diert und ist seit 2005 an der Albert-Lud­wigs-Uni­ver­si­tät Frei­burg tätig, wo er Direk­tor des Insti­tuts für Ethik und Geschichte der Medi­zin ist. Er ist Mit­glied in ver­schie­de­nen über­re­gio­na­len Ethik­kom­mis­sio­nen und Ethik­bei­rä­ten und Mit­glied des Aus­schus­ses für ethi­sche und juris­ti­sche Grund­satz­fra­gen der deut­schen Bun­des­ärz­te­kam­mer. Außer­dem ist Maio Autor von zahl­rei­chen medi­zin­ethi­schen Publi­ka­tio­nen wie „Medi­zin ohne Maß? Vom Dik­tat des Mach­ba­ren zu einer Ethik der Beson­nen­heit.“ oder „Geschäfts­mo­dell Gesund­heit: Wie der Markt die Heil­kunst abschafft.“

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 9 /​10.05.2016