NS-Verfolgung von Ärzten: Aufarbeitung der Schicksale

25.01.2016 | Politik

Nach NS-Rassekriterien war 1938 rund ein Drittel der österreichischen Ärzte „jüdisch“; allein in Wien waren etwa 3.500 Ärzte bedroht. Die „Entrechtung, Vertreibung, Ermordung“ von jüdischen Ärzten in der NS-Zeit war lange ein Tabu-Thema; jetzt wurde es in einem Forschungsprojekt und einer Konferenz der Ärztekammer Wien aufgearbeitet.Von Marion Huber

Rund 70 Jahre hat es gedauert, bis das Thema ‚NS-Verfolgung von Ärztinnen und Ärzten‘ vonseiten der Ärztekammer Wien behandelt wurde“, sagte Univ. Prof. Thomas Szekeres, Präsident der Ärztekammer Wien, kürzlich zu Beginn der gleichnamigen Konferenz in Wien. Mit dem Forschungs- und Buchprojekt „Ärzte und Ärztinnen in Österreich 1933–1945. Entrechtung, Vertreibung, Ermordung“ habe man nun begonnen, dieses Thema, das jahrzehntelang verschwiegen wurde, aufzuarbeiten.

Die Entrechtung von jüdischen Ärzten hat in Deutschland wie in Österreich zu einer völligen Umstrukturierung des Ärztestands geführt. In Deutschland wurde mit den Zielen der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik und der „Rassen-hygiene“ ein völlig neues Denken in die Medizin gebracht, wie Rebecca Schwoch vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf erzählte. Die „Säuberung einer verjudeten Medizin“ und die Verwirklichung vom Traum des „arischen Volkskörpers“ waren die erklärten Ziele. Um die Volkskraft zu vermehren, begann man, Menschen als „wert“ und „unwert“ für die Gesellschaft einzuteilen. Ein „rassenreiner, arischer Volkskörper sollte erschaffen werden – „erbgesund und leistungsstark“, schilderte Schwoch, die auf dem Gebiet der Geschichte der Medizin im Nationalsozialismus forscht. „Die Ärzteschaft sprang auf diesen Zug auf und wollte ihn mitlenken.“ Gegipfelt sei das in einer „gnadenlosen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik“.

Willkürliche Entlassungen

Begonnen habe es im April 1933, als das Berufsbeamtengesetz („Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“) erlassen wurde. Damit wurde das Amtsverbot für jüdische und politisch missliebige Beamte, Ärzte etc. befohlen und deren willkürliche Entlassung ermöglicht. „Wer Mut und politische Weitsicht hatte, verließ das Land schon jetzt. Noch ging es einigermaßen“, schilderte Schwoch. Bald danach wurde das Gesetz auf jüdische Kassenärzte ausgeweitet. Insgesamt gab es sieben Verordnungen, um jüdische Ärzte gänzlich aus der Ärzteschaft zu verdrängen. „Es musste nach und nach geschehen, weil es sonst zu einem akuten Ärztemangel gekommen wäre“, erklärte sie. Eine Ausnahme gab es: Um jüdische Zwangsarbeiter ärztlich zu versorgen und arbeitsfähig zu erhalten, wurden jüdische Ärzte als „Juden- oder Krankenbehandler“ tätig.

Ihr erklärtes Ziel, alle jüdischen Ärzte aus dem Gesundheitswesen auszuschließen, glaubten die Nationalsozialisten schließlich mit dem Approbationsentzug am 30. September 1938 tatsächlich erreicht zu haben. Weil aber nicht genügend frei gewordene Arztstellen mit „arischen Jungärzten“ besetzt werden konnten, wurde der Ärztemangel vor allem in Berlin nicht behoben: So war auch die medizinische Versorgung der „erbgesunden, förderungswürdigen“ Bevölkerung nicht mehr gegeben. „Die Kriegsjahre zeigten es schließlich: Der Traum vom arischen Volkskörper blieb auch ein Traum“, betonte Schwoch.

Dennoch könne die Rolle der Ärzte bei der Diskriminierung nicht bestritten werden, so Schwoch: „Ärztliche Standespolitiker waren maßgeblich daran beteiligt, jüdischen Ärzten ein Leben in Deutschland unmöglich zu machen.“ Ihre berufliche Existenz wurde vernichtet, sie wurden in die Emigration gezwungen; viele andere wurden in Konzentrationslager deportiert.

Auch in Österreich kam es gleich nach dem „Anschluss“ an das Deutsche Reich zu ersten „Säuberungen“ und Schikanen für jüdische Ärzte, wie Univ. Prof. Ilse Reiter-Zatloukal vom Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien erklärte. Sie leitet auch das besagte Forschungsprojekt „Ärzte und Ärztinnen in Österreich 1933–1945“. Nach den NS-Rassekriterien war 1938 rund ein Drittel der österreichischen Ärzte „jüdisch“; allein in Wien waren etwa 3.500 Ärzte akut von Verfolgung bedroht. Die „Säuberung“ und Entrechtung begann mit ersten Maßnahmen in den Spitälern: diese waren vom Status der Person abhängig und reichten vom Widerruf der Zulassung bei Gastärzten bis zur Nichtzulassung zum „Eid auf den Führer“.

Schon ab Mai 1938 waren Entlassungen und Zwangspensionierungen in Österreich durch die „Verordnung zur Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums“ des Reichsinnenministeriums geregelt. Betroffen waren „jüdische“ Beamte und Beamte, die „jüdische Mischlinge“ waren, mit „Juden“ oder „Mischlingen“ verheiratete Beamte sowie politisch missliebige Beamte. Ab Sommer 1938 erfolgte die „vollständige Entjudung“ der Spitäler; die Dienstverhältnisse von politisch missliebigen Ärzten wurden bis Ende März 1939 beendet.

Durch den Approbationsentzug erloschen im gesamten Deutschen Reich die Approbationen von jüdischen Ärzten mit 30. September 1938. Die Ausübung der Heilkunde war ihnen von da an verboten. Einzige Ausnahme: Mit einer Genehmigung unter Auflagen konnte – wie in Deutschland – ein „jüdischer“ Arzt als „Krankenbehandler“ ausschließlich zur Behandlung von „Juden“ berechtigt werden.

Als dritte zentrale Maßnahme der Entrechtung kam es schließlich zum Entzug der Kassenverträge. Weil in Österreich – anders als in Deutschland – Kassenärzte meist fest bei der Krankenversicherungsanstalt angestellt waren, erfolgte die Ausschaltung in Österreich nicht wie im Deutschen Reich durch Verordnungen, sondern durch Vertragskündigungen. Damit wurden jüdische Kassenärzte über die Anwendung der Berufsbeamtenverordnung „fristlos und ohne Entschädigung außer Dienst gestellt“.

Obwohl es wegen der unterschiedlichen Systeme und Rechtsordnungen immer wieder zu Reibereien zwischen reichsdeutschen und österreichischen Behörden kam, erfolgte die Entrechtung und „Säuberung“ in Österreich innerhalb weniger Monate nach dem „Anschluss“ an das Deutsche Reich. Am 1. Oktober 1938 wurde die „erfolgreiche Entjudung des österreichischen Ärztestandes“ bekannt gegeben. „Für jüdische Ärzte gab es kaum mehr Arbeitsmöglichkeiten in Österreich“, so Reiter-Zatloukal. Sie flüchteten ins Ausland. Auch in Österreich wurde dadurch – angesichts des hohen Anteils von jüdischen Ärzten an der Ärzteschaft – ein Ärztemangel ausgelöst.

Emigration in die USA

Rund 3.000 österreichische Ärztinnen und Ärzte sind zwischen 1933 und 1942 in die USA ausgewandert. Auch wenn die Hindernisse groß waren: die meisten ließen sich in den vier Staaten New York, Kalifornien, Illinois und Ohio nieder.
Von Agnes M. Mühlgassner

Bei ihren Arbeiten über die Emigration von jüdischen Ärzten hätte sie sich vor allem auf jene aus Wien konzentriert, erklärte Renate Feikes, selbstständige Historikerin, da die Bundesländer „schwer“ zu erforschen seien. In Wien waren nach dem März 1938 rund 3.500 Ärztinnen und Ärzte gefährdet; rund 3.000 konnten sich vermutlich ins Ausland retten. Bis 1938 hatten sich fast 12.000 amerikanische Ärzte in Wien weitergebildet – war doch das medizinische Wien der 1920er und 1930er Jahre weltweit anerkannt. So konnten viele Wiener Ärzte bei der Flucht auf internationale Kontakte und Netzwerke zurückgreifen. „Die Auswanderungsmöglichkeiten der Ärzte beschränkten sich hauptsächlich auf Großbritannien und die USA“, so Feikes – mit sehr komplizierten formellen Einreisebedingungen durch die Gesetzgebung der 1920er Jahre. Allein zwischen 12. März und 7. April 1938 stellten im amerikanischen Konsulat in Wien rund 30.000 Menschen ein Einwanderungsgesuch. Weder organisatorisch noch personell sei das Konsulat diesem Ansturm gewachsen gewesen. Täglich wurden rund 500 Einreise-Willige interviewt; dazu kamen pro Tag noch rund 800 Briefe und Anfragen. Feikes: „Die Österreicher hatten auch noch das Pech, dass ihre Quote mit der deutschen Quote zusammengelegt wurde.“ 1938 etwa lag die österreichische Quote bei 1.413 Ärzten.

Dass jüdische Ärzte in Deutschland unter Repressalien zu leiden hatten, war der medizinischen Gesellschaft in New York schon rasch nach der Machtübernahme Hitlers im März 1933 bewusst. Bereits im Juli 1933 wurde eine Protest-Petition verfasst. Auch spezielle Hilfsorganisationen für Ärzte wie etwa das „Emergency Committee in Aid of Displaced Physicians“ und das „National Committee for Resettlement of Foreign Physicians“ wurden gegründet. Ziel war es, den vertriebenen Wissenschaftern zu helfen, an Medical Schools oder in Laboratorien ihre Forschungen fortsetzen zu können. Zwei Drittel der geflüchteten Ärzte hatten sich im Staat New York niedergelassen, weil viele der Ansässigen in den Bezirken Manhattan und Queens Ärzte bevorzugten, die ihre Muttersprache beherrschten. So war der Bezirk Manhattan Zentrum der medizinischen Spezialisten, die sich auf ihre Diplome aus Wien berufen konnten.

Schwieriger Start

1933 startete die American Medical Association eine Kampagne für die Beschränkung der Zulassung von ausländischen Ärzten. In zehn Staaten mussten ausländische Ärzte an einer American Medical School neuerlich graduieren; in 13 Staaten mussten sie ein Internship in einem Krankenhaus absolvieren. Viele Ärzte konzentrierten sich in der Folge auf eine Niederlassung im Staat New York, wo die Zulassungsbestimmungen einfach waren; Mitte Oktober 1936 wurden sie auch hier verschärft. Erst aufgrund des Ärztemangels während des Zweiten Weltkriegs wurden die Zulassungsbedingungen wieder erleichtert. Die meisten Ärzte flüchteten 1938 in die USA; die Mehrzahl von ihnen musste schriftliche und mündliche medizinische Prüfungen sowie Sprachtests absolvieren. Was zur Folge hatte, dass zu Beginn die Durchfallquote bei über 70 Prozent lag. Viele mussten als Tellerwäscher oder Kellner arbeiten, bis sie wieder antreten konnten. Im Jahr 1941 praktizierten 1.500 lizensierte emigrierte Ärzte, während rund 1.500 noch auf ihre Zulassung warteten.

Die Reimmigration nach 1945 war schwierig: Jüdische Ärzte sahen sich mit bürokratischen Schikanen aller Art konfrontiert. „Die Stimmung lässt sich mit ‚unerwünscht‘ beschreiben“, wie Feikes ausführte. Demzufolge kehrten auch die wenigsten vertriebenen Ärzte nach Österreich zurück. Es gab aber auch praktische Gründe dafür: Weil man sich in den USA eine Existenz aufgebaut hatte, die Erinnerungen an das erlittene Unrecht – aber auch eine gewisse Dankbarkeit und Wertschätzung gegenüber dem Land, in das man emigriert war.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 1-2 / 25.01.2016