Interview Markus Müller: MedUni an Turning point

25.06.2016 | Politik



Die MedUni Wien steht an einem Turning point: von einem ineffizienten, historisch gewachsenen System zu einem international salonfähigen und kompetitiven System. Wie das gelingen soll – angesichts der Flucht der Jungabsolventen ins Ausland und der riesigen ungesteuerten Patientenströme – erklärt der Rektor der MedUni Wien, Univ. Prof. Markus Müller, im Gespräch mit Agnes M. Mühlgassner.

ÖÄZ: Was unterscheidet Sie – abgesehen von einem Altersunterschied von rund 20 Jahren – von Ihrem Vorgänger?
Müller: Die Generation ist ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal. Mein Vorgänger stammt aus der Babyboomer-Generation und ist daher nicht mit dem Internet groß geworden. Auch die Frage des Umgangs mit Hierarchien oder die Internationalität unterscheiden uns. Die meisten meiner Studienkollegen waren so wie ich lange Zeit im Ausland. Insofern ist das sicher ein Generationenwechsel, der vielleicht auch an der Zeit war.

Der Generationenwechsel zeigt sich auch bei der Generation Y.
Die jetzige Generation der jungen Ärzte agiert wieder ganz anders. Sie ist zu einer Zeit geprägt worden, als es das Internet schon gab und daher ist es völlig natürlich, dass die Kommunikation eine andere ist. Auch die Ansprüche an eine strukturiertere Ausbildung sind ganz anders als zu meiner Zeit. Die jetzige Generation wächst sehr selbstbewusst auf. Jeder, der Medizin studiert, hat eine 100-prozentige Jobgarantie und das führt einfach zu einem völlig anderen Mindset als in meiner Generation.

Was war das Prägende in Ihrer Ausbildung?
Ab Mitte der 1990er-Jahre gab es einen Aufschwung der Medizin in Österreich. Davor waren wir einfach nicht auf Augenhöhe mit der internationalen Spitze. Als ich am AKH zu arbeiten begonnen habe, haben wir das Gefühl gehabt: Wir schaffen es wieder, an die internationale Spitze anzuschließen. Also das war schon eine tolle Zeit. Und das war auch der Grund, warum mir persönlich der Generationenwechsel auch wichtig war. Ich habe mir mein Team so ausgesucht, dass es diesen Generationenwechsel auch symbolisiert.

Wie soll denn der neue Weg der MedUni Wien aussehen?

Ein gewisses Maß an Hierarchie wird man immer brauchen, das ist strategisch einfach gar nicht anders möglich. Aber wenn man sich zum Beispiel die Medienberichte der letzten 15 Jahre über unsere Universität ansieht, sieht man, dass es einen internen und externen kommunikativen Aufholbedarf gibt. Es waren aber auch riesige Themen, die in relativ kurzer Zeit bewältigt werden mussten: die Ausgliederung aus dem Ministerium, das neue Studium, ein komplett neues Dienstrecht, die Dualität AKH und MedUni Wien. Die Zeit zwischen 2004 bis 2008 war unglaublich turbulent, die Universität war sehr stark unter Druck.

Turbulenzen hat es dann rund um die Implementierung des KA-AZG wieder gegeben.
Nach 2008 gab es eine gewisse Phase der Ruhe. Dann ist es mit den realen Budgetzwängen und den massiven Umstrukturierungszwängen losgegangen. Das hat sich bis zum vorigen Herbst durchgezogen. Ein Meilenstein war die Einigung bezüglich der neuen Betriebsvereinbarung, die allein für höhere Ärztegehälter einen Zusatzbedarf von über 70 Millionen Euro bedeutet. Das Problem, das wir dabei hatten: Das Universitätsbudget für die Jahre 2016 bis 2018 war schon fertig ausverhandelt, bevor das KA-AZG schlagend geworden ist. Es war einfach nicht berücksichtigt.

Die Österreichische Ärztekammer ist ganz klar dafür, dass das Opt out wie gesetzlich vorgesehen im Jahr 2021 ausläuft. Sie haben gefordert, dass es für Universitätsärzte ein unbefristetes Opt out geben soll. Warum?
Das ist ganz simpel, weil aufgrund des neuen KA-AZG eine Ungleichbehandlung der universitären Spitäler gegeben ist, die ja im Gegensatz zu nicht-universitären Spitälern mehrere Aufgaben haben: Patientenversorgung, Forschung und Lehre. Ich glaube nicht, dass man das in 48 Stunden, wenn man es ernst nimmt, machen kann. Man kann beispielsweise in den manuell tätigen Fächern nicht dieselbe Qualifikation erlangen wie früher, weil man einfach eine gewisse Zeit braucht, um diese Fähigkeiten zu entwickeln. Das ist eine Problematik, die ich sehe. Dazu kommt noch, dass das KA-AZG in Österreich im Gegensatz zu anderen Ländern extrem scharf interpretiert wurde und das Opt out im Juli 2021 endet. Meine Forderung lautet, dass es an den Universitätskliniken ein unbefristetes Opt out über 2021 hinaus geben soll so wie in anderen europäischen Ländern.

Rund 40 Prozent der Medizinabsolventen sagen kurz vor Ende Ihres Studiums, sie wollen erst gar nicht in diesem System zu arbeiten beginnen und Österreich verlassen. Wie wollen Sie hier gegensteuern?

Österreich hatte traditionell immer einen offenen Hochschulzugang. Zu meiner
Zeit hat es in Wien 16.000 Medizinstudenten gegeben, weniger als die Hälfte davon hat das Studium auch tatsächlich abgeschlossen. Zum Vergleich: Die Harvard Medical School hat insgesamt 500 Medizinstudenten. Wir nehmen derzeit jährlich rund 750 Studenten pro Jahr auf, bieten ein Gratis-Studium an aber danach ein sehr schlecht strukturiertes System mit einer im internationalen Vergleich hohen Bettendichte, hoher Spitalslastigkeit und bis vor kurzem niedrigen Ärztegehältern. Diese waren im internationalen Vergleich so niedrig, weil die Ressource Arzt in Österreich im Überfluss vorhanden war und man die Personalkosten über Jahrzehnte niedrig halten konnte. Ich unterstelle, dass es hier sogar eine gewisse Absicht gab. Es war leichter, Ärzte zu finden als Pflegepersonal, was wiederum zur Folge hatte, dass Ärzte Tätigkeiten machen mussten, für die sie eigentlich überqualifiziert waren. Das hat zu einer Qualifikationsspirale nach unten geführt: Ärzte haben Pflegetätigkeit gemacht, Pflegekräfte haben Stationshelfertätigkeit gemacht usw. Ein Irrsinn. Die heutigen Studenten werden gut ausgebildet – wir stehen immerhin auf Platz 58 im internationalen Ranking der medical schools – und stoßen danach auf ein historisch gewachsenes, unkoordiniertes und in meinen Augen nicht mehr akzeptables System. In einer Zeit der Globalisierung sagen sie dann zu Recht: Warum soll ich mir das antun? Deshalb habe ich mich auch immer gegen weitere Medizinstandorte positioniert.

Warum?
Das ist so, als ob sie in einen Kübel mit einem Loch von oben immer wieder Wasser nachschütten. Wir verlieren die Jungabsolventen deswegen, weil die Versorgungsstruktur bei uns schlecht ist. Ich glaube, dass durch die 30-prozentige Gehaltserhöhung und die Tatsache, dass die Ärzte nicht mehr ausgebeutet werden können, in dem Sinn, dass sie nur durch viele Stunden auf ein akzeptables Gehalt kommen, ein Anreiz sein wird, eher in Österreich zu bleiben. Diejenigen Spitäler, die eine sehr gute Ausbildung im KPJ und in der Basisausbildung mit einer entsprechenden Bezahlung und entsprechender Umgebung schaffen, wo die Jungärzte mit Respekt behandelt und nicht als billige Arbeitskräfte missbraucht werden, werden in Zukunft kein Problem mit dem Nachwuchs haben. Die Standorte, die es nicht schaffen, diesen Mindset zu drehen, werden wahrscheinlich Probleme bekommen.

Themenwechsel. Dem Vernehmen nach plant die Stadt Wien, die Ambulanzen herunterzufahren. Das wird vermutlich zu einem weiteren Ansturm auf die Ambulanzen im AKH führen.
Das ist wieder ein Strukturproblem. In den USA wäre es undenkbar, dass als erste Anlaufstelle eine Spitalsambulanz aufgesucht wird. Man geht dort nur dann ins Spital, wenn man wirklich schwer krank ist. Die hohe Spitalslastigkeit in Österreich wird uns auf den Kopf fallen: Sie ist extrem teuer und in dieser Form sicher nicht weiter aufrecht zu erhalten. Man muss unbedingt den niedergelassenen Bereich stärken. Wir haben im AKH rund 1.500 ärztliche Mitarbeiter und etwa 500 Spezialambulanzen. Damit herrscht das ‚All you can eat-Prinzip‘: Quasi ein Aushängeschild vor dem AKH, auf dem steht: Was immer Sie brauchen, bekommen Sie hier. Und das ist eine komplette Fehlsteuerung.

Wie wollen Sie das ändern?
Wir möchten uns auf den sogenannten Supramaximalbereich konzentrieren. Die AKH-Ambulanzen haben eine Frequenz von circa 1,2 Millionen pro Jahr. Seit Jänner dieses Jahres gibt es einen Vertrag zwischen der Gemeinde Wien und dem AKH, der eine gemeinsame Betriebsführung sicherstellt. Davon erwarte ich mir einiges. Bis jetzt haben zwei separate Unternehmen suboptimal koordiniert vor sich hingearbeitet. Wir haben zumindest für den stationären Bereich einmal abgegrenzt, was die Stadt Wien macht und was wir machen. Wenn also in Zukunft in irgendeinem Wiener Krankenhaus eine Abteilung geschlossen oder heruntergefahren werden soll, und wir bekommen Signale, dass bei uns die Fallzahl hinaufgeht, habe ich die Hoffnung an das Management im KAV, dass das vorab mit uns abgesprochen wird.

Heißt das im Umkehrschluss: Wenn jemand am Wochenende mit einem Schnupfen in die HNO-Ambulanz des AKH kommt, wird er zum niedergelassenen HNO-Facharzt am Montag überwiesen?
Genauso würde ich mir das vorstellen. Das Problem, das wir haben: Wir treffen jetzt auf eine Struktur, die sich seit 30 Jahren weitgehend ohne Koordination entwickelt hat. Es gab viele Ärzte, es gab viele Spitäler und deswegen keinen Druck, den niedergelassenen Bereich auszubauen. Das müssen wir jetzt ändern. Es wird nicht von heute auf morgen gehen und ich nehme auch an, dass es zu vielen Konflikten führen wird. Aber ich kann es mir anders gar nicht vorstellen, weil wir von unglaublichen Patientenströmen reden, die koordiniert werden müssen.

Welchen Stellenwert werden denn künftig Fächer wie Ernährungsmedizin, Gerichtsmedizin oder Arbeitsmedizin haben? Sie wurden ja in den letzten Jahren sukzessive zurückgefahren.
Beginnen wir mit der Gerichtsmedizin. Wir haben hier eine nicht unähnliche Situation wie im Gesundheitssystem: Wir finden einen Endzustand einer historischen Entwicklung vor. Man kann die Gerichtsmedizin mit einem gesunden 85-Jährigen vergleichen, der fit und vital ist und seine Aufgaben erfüllen kann. Aber es ist absehbar, dass er irgendwann einmal das Zeitliche segnen wird. Ähnlich ist die Situation bei der Ernährungsmedizin und der Arbeitsmedizin. Auch hier treffen wir auf Endzustände. Es sind historisch gewachsene Systeme, die man in dieser Form nicht weiterführen kann. Und die Transition ist schwierig.

Wo liegen denn die Forschungsschwerpunkte der MedUni Wien?

Wir haben unzählige Fächer an der Universität und es ist undenkbar, alle in der gleichen Intensität zu betreiben. Wir sind aufgefordert, Schwerpunkte zu setzen, derzeit sind es fünf Forschungscluster: Onkologie, Immunologie, medizinische Neurowissenschaften, kardiovaskuläre Medizin und medizinische Bildgebung. Arbeitsmedizin wird es bei uns immer auf einem gewissen Niveau geben. Eine Zusammenlegung mit der Physikalischen Medizin zu einem Zentrum für Rehabilitation würde zum Beispiel Sinn machen. Aber nicht jede Disziplin kann und wird auf einer internationalen Spitzenwelle dahinreiten. Das ist schon allein aufgrund der Ressourcensituation nicht möglich. Bei der Ernährungsmedizin gibt es sehr viele Aktivitäten in verschiedenen Bereichen. Was fehlt, ist eine Bündelung. Mein Zugang ist darwinistisch. Ich zwinge Mitarbeiter nicht, zusammenzuarbeiten. Aber ich sage ihnen: Wenn ihr zusammenarbeitet, gibt es einen Mehrwert und den kann ich unterstützen. Also Differenzierung durch Wettbewerb.

Was wird man denn am Ende Ihrer Amtszeit über Sie sagen? Was möchten Sie gerne erreicht haben?
Wir stehen derzeit an einem Turning point, auch mit dem neuen Rektorat. So, wie es in der Vergangenheit gelaufen ist, geht es nicht weiter – und zwar auf vielen Ebenen. Ich glaube, es ist eine Zäsur von einem ineffizienten, historisch gewachsenen System hin zu einem international salonfähigen und kompetitiven System. Und das wird alle Bereiche betreffen.

Zur Person
Geboren 1967 in Klagenfurt, 1985 Matura am öffentlichen Gymnasium der Stiftung Theresianische Akademie in Wien. Studium der Humanmedizin an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien. 1993 Promotion sub auspiciis praesidentis. Ausbildung zum Facharzt für Innere Medizin an den Universitätskliniken für Notfallmedizin und Innere Medizin I – III am AKH. Forschungsaufenthalt in Göteborg; Gastprofessor an der University of Florida. 2004 Ernennung zum Universitätsprofessor und Leiter der Universitätsklinik für Klinische Pharmakologie. Seit 1. Oktober 2015 Rektor der Medizinischen Universität Wien. Mehr als 250 wissenschaftliche Publikationen wie zum Beispiel im New England Journal of Medicine, The Lancet Infectious Diseases, British Medical Journal und Nature Medicine.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 12 / 25.06.2016