Im Gespräch Michael Landau: „Sind Ärzten und Freiwilligen dankbar“

10.05.2016 | Politik

Für bundesweite Standards in der Pflege sowie die gemeinsame Steuerung des Gesundheits- und des Sozialwesens spricht sich Michael Landau, Caritas-Direktor der Erzdiözese Wien, aus. Der Druck auf die sozial Schwächsten steigt, sagt er im Gespräch mit Claus Reitan.

ÖÄZ: Die Caritas Österreich steht angesichts mancher Notlagen wohl vor zahlreichen, drängenden und zugleich höchst unterschiedlichen Aufgaben.
Landau: Unserer Überzeugung zufolge ist jeder Mensch gleich in seiner Würde. Kernaufgabe der Caritas ist die Arbeit an den Rändern der Gesellschaft. Die Kurzformel lautet: Not sehen und handeln. Als Caritas sind wir zuallererst eine Organisation, die an den Rändern der Gesellschaft Nachschau hält, wo Menschen auf der Strecke bleiben. Wo wird – so haben wir zu fragen – Menschen der Zugang zur Mitte der Gesellschaft verstellt? Daher bieten wir etwa eine niederschwellige medizinische Versorgung für jene Menschen an, die sich nicht mehr in eine Ambulanz wagen, weil sie schon so lange auf der Straße leben. Andere Menschen lassen sie es spüren, dass man ihnen dieses Leben ansieht. Mit Ärztinnen und Ärzten, unterstützt durch die Stadt, betreiben wir den Louisebus, eine fahrende Ambulanz in Wien. Diese aufsuchende Arbeit ist bedeutsam, denn aus einer kleinen Wunde kann ein lebensbedrohender Zustand werden. Allein in Wien wurden heuer über 10.000 Behandlungen geleistet, weitere Hunderte in Graz über die stationäre Marien-Ambulanz. Wir sind den Ärztinnen und Ärzten, aber auch den Freiwilligen, die dieses Projekt tragen, sehr dankbar. Caritas bedeutet Nächstenliebe ohne Wenn und Aber. Es gibt hier nur die Maßeinheit Mensch. Dessen Würde nimmt uns bedingungslos in Anspruch.

Das deckt sich mit der Universalität der Menschenrechte, die auch von Philosophen postuliert wird.
Es gibt eine Vielzahl an Zugängen zur Caritas, und sie alle berühren einander beim Menschen, konkret in dessen tieferer Dimension, auch aus der Geschöpflichkeit heraus. Um es mit Johannes Metz auszudrücken: Es gibt keine Not, die uns gar nichts angeht. Wir haben die Aufgabe, die Frage nach den Ursachen von Leid wach zu halten. Das Zweite Vatikanische Konzil sagt sehr klar, man darf nicht als Liebesgabe anbieten, was schon aus Gerechtigkeit geschuldet ist. Daher sind die Ursachen der Übel zu bekämpfen, nicht nur die Symptome. Unsere Erfahrungen aus der täglichen Arbeit bringen wir in Diskussionen ein. Wir unterbreiten Vorschläge für die weitere Entwicklung von Sozial- und von Gesundheitssystemen, für die Bildung.

Wo verläuft denn die Grenze zwischen gebotener Hilfe einerseits und – salopp ausgedrückt – Gutmenschen-Tum andererseits?
Wir tragen als Menschen Verantwortung für uns selbst, also Eigenverantwortung, aber ebenso Verantwortung füreinander. Das eine lässt sich nicht gegen das andere ausspielen. In allen unseren Einrichtungen ist es das Ziel, dass die Menschen wieder auf eigenen Beinen stehen. Armut wird jedoch sehr oft vererbt, aus Kindern armer Eltern werden arme Eltern. Bildung ist der wesentliche Faktor, das zu ändern, denn es besteht ein Zusammenhang zwischen Langzeitarbeitslosigkeit und Armutsgefährdung. Manche Menschen brauchen mehr Hilfe, manche weniger. Unser Prinzip für Klienten lautet: So selbstständig wie möglich, so betreut wie nötig. Gerade in der gegenwärtigen Situation darf es nicht um Neiddebatten gehen. Damit kämen wir nicht weiter. Die wesentliche Frage ist jene nach den Grundfunktionen der Gesellschaft, nach den Zielen und wie jeder nach seinen Kräften etwa zu Bildung, Gesundheit und Pflege beitragen kann.

Dafür gibt es Projekte, allerdings auch Bedarf an Reformen, oder?
Es besteht Potential für Verbesserungen. Es ist beispielsweise in der Pflege unverständlich, warum für Versorgung, Qualität und Finanzierung nicht bundesweit vergleichbare Standards gelten. Es ist doch vorstellbar, dass ein gemeinsames System kostengünstiger ist als neun einzelne. Weiters fehlt es für den Ausbau der Palliativ- und Hospizversorgung an einer gemeinsamen Steuerung, denn das Gesundheits- und das Sozialwesen verweisen die Zuständigkeit dafür jeweils an den anderen. Eine bessere gemeinsame Steuerung fehlt auch beim Entlassungsmanagement, wodurch es zu Drehtür-Effekten kommt. In der Pflege ist es gelegentlich extrem schwierig, einen Angehörigen aus der Steiermark nach Niederösterreich zu holen. Also Österreich leistet sich etwas viel an Föderalismus. Und zur Finanzierung: Was in den Plänen der Enquete-Kommission etwa zum Hospiz vorgeschlagen wird, entspricht dem finanziellen Aufwand des Baues von einigen wenigen Kilometern Autobahn. Der gegenwärtige Sozialminister war zuvor Infrastrukturminister und kennt die Zahlen.

Gibt es etwas, woran unsere Gesellschaft, unsere Zeit Ihrer Beobachtung nach in irgendeiner Weise krankt?
Eine der großen Nöte der Zeit scheint mir mit Einsamkeit zusammenzuhängen, die besonders in Städten ein Thema ist. Die am Gemeinwesen orientierte Sozialarbeit gewinnt daher an Bedeutung. In der täglichen Arbeit beobachten wir einen zunehmenden Druck auf die sozial Schwächsten. Im vorigen Jahr wurden im Obdachlosen Betreuungszentrum Gruft in Wien 117.000 Mahlzeiten ausgegeben, mehr als jemals zuvor. Darunter auch an Menschen, die noch eine Wohnung haben, aber sich das Essen nicht mehr leisten können. Ein anderes Phänomen ist die ständig steigende Zahl hochbetagter Personen, was die Behandlung dementieller Erkrankungen zu einer großen Aufgabe werden lässt. Und aktuell stehen wir vor einer neuen Herausforderung durch die vielen Menschen auf der Flucht. Wir haben Acht zu geben, dass aus der Quartierkrise von heute nicht die Integrationskrise von morgen wird, weswegen wir mehr Energie in die Integration investieren müssen. Spracherwerb ist wesentlich, aber ebenso etwa, die neu Angekommenen mit dem für sie völlig neuen Gesundheitswesen vertraut zu machen.

Gelegentlich wird bei aller Wertschätzung an der Caritas kritisiert, sie würde die Integrationsleistung vor allem von jenen einfordern, die schon da sind, also den Autochthonen.
Integration ist immer ein wechselseitiger Prozess, der nur gemeinsam gelingen kann. Beide Seiten sind daher gefordert. Aber den Blick umzukehren in eine andere Richtung ist mir wichtig. Richten wir unser Augenmerk auf die Probleme – oder auf die Chancen? Auf die Stärken oder die Schwächen? Fremdsprachige Kinder, die zu uns kommen, können in naher Zukunft eine bedeutsame Brückenfunktion erfüllen. Es ist doch kein Defizit, wenn sie zuerst noch Deutsch lernen müssen, dann aber mehrere Sprachen beherrschen. Oder nehmen wir Traiskirchen: Die Situation war im Sommer des vergangenen Jahres tatsächlich schwierig. Inzwischen ist sie deutlich besser. Wir haben gemeinsam gezeigt, was wir können. Wir sollten also die Stärken entfalten, anstatt den Blick auf Ängste zu fokussieren.

Nochmals zur Gesundheit: Was ist denn das Gesündeste an Ihrem Leben?
Ich versuche, etwas Sport zu betreiben, konkret Ausdauer- und Krafttraining. Das ist für die Lebensqualität bedeutsam. Zudem bin ich bemüht, den Rhythmus der Vorsorgeuntersuchungen einzuhalten. Aber die stärkste Anforderung an gesunde Lebensführung liegt darin, Augenblicke des gänzlichen Abschaltens in den Alltag zu integrieren. Andererseits ist die Caritas eine Aufgabe, die man nicht einfach an der Bürotüre abgeben kann. Das ist zugleich das Schöne daran.

Einige Berufe haben es an sich, die Lebensführung zu bestimmen.
Das gilt für Ärztinnen und Ärzte ebenso. Deren Beruf ist ebenfalls eine Aufgabe, die man nicht einfach ablegen kann. Aber es ist wesentlich, trotzdem Freundschaften zu pflegen, gelegentlich ein Konzert zu hören, in einem Buch zu lesen, Sport zu betreiben. Das ist gut für die Seele.

Zur Person

DDr. Michael Landau ist katholischer Geistlicher, seit 1995 Caritas-Direktor der Erzdiözese Wien und seit 2013 auch Präsident der Caritas Österreich. Er promovierte 1988 an der Universität Wien in Biochemie, absolvierte 1999 ein Doktoratsstudium in Kirchenrecht, nachdem er 1980 getauft worden und 1988 in das Priesterseminar eingetreten war. Landau wurde u.a. mit dem Großen Ehrenzeichen für die Verdienste um die Republik Österreich und mit dem Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien ausgezeichnet.

Info-Box

Einige Projekte der Caritas werden wesentlich über Spenden finanziert. Dazu gehören der Canisibus, der an acht Stationen in Wien täglich bis zu 400 Personen deren einzige warme Mahlzeit bietet. Weiters der Louisebus, in dem Menschen ohne Krankenschein und jene, die den Weg in eine Ordination oder Ambulanz nicht schaffen, eine kostenlose medizinische Betreuung und Versorgung erhalten. Dazu kommt die Mobile Notversorgung, eine aufsuchende Sozialarbeit für obdachlose Menschen. Aus den Spenden werden Lebensmittel, Medikamente und Schlafsäcke finanziert.
Erste Bank – BIC: GIBAATWWXXX – IBAN: AT23 2011 1000 0123 4560
Kennwort: Louisebus

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 9 / 10.05.2016