Im Gespräch – Lore Hostasch: Der Einzelne fühlt sich hilflos

15.07.2016 | Politik



Ansprüche der Patienten, neue Erkenntnisse der Medizin, dazu Bürokratie und Dokumentation – das alles lässt die Anforderungen an Ärztinnen und Ärzte ansteigen, sagt die frühere Gesundheits- und Sozialministerin Lore Hostasch im Gespräch mit Claus Reitan. Die Gegenwart sei von Hektik geprägt, der Einzelne fühle sich gelegentlich hilflos. Für den Umgang mit Stress hat Lore Hostasch schon früh einen Weg gefunden.

ÖÄZ: Sie waren in Unternehmen tätig, in der Kommunalpolitik Wiens und in der Bundespolitik, Sie sind mit dem Zeitgeschehen weiterhin stark verbunden. Welches Bild zeigt sich Ihnen, blicken Sie auf Gesellschaft und Gegenwart?
Hostasch: Einerseits ist unsere Gegenwart von einer gewissen Hektik geprägt, das ist spürbar. Andererseits wird von vielen ein gewisser Druck empfunden, jedenfalls subjektiv. Starke Erwartungshaltungen lösen Belastungen und Stress aus, erzeugen Frustrationen, manches macht Angst. Eine der Ursachen dafür liegt im raschen Ablauf von Veränderungen. Die Zeiträume, sich mit neuen Umständen und neuer Technik zu befassen, fehlen. Beispielsweise mit neuen Technologien am Arbeitsplatz. Doch wer bei einem neuen Schub an Technik nicht dabei ist, meint, ein Verlierer zu sein. Man erhält damit das Gefühl, kaum mehr kontrollierend eingreifen zu können, sondern – im bildlichen Sinne gesprochen – gestaltet zu werden. Der Einzelne hat weiters den Eindruck, dass selbst hoch gebildete Persönlichkeiten oder jene in hohen Funktionen keine Antwort auf die Probleme hätten. So stellt sich ein Gefühl der Hilflosigkeit ein, woraufhin sich jeder lediglich um seine Angelegenheiten sorgt. Daraus entstehen Egoismen, und die erschweren es, die Probleme zu lösen.

Worin liegen denn dafür die Ursachen? In der Digitalisierung, im sogenannten Neo-Liberalismus, in der ständigen Konkurrenz, vielleicht in der Gier?
Alles trifft irgendwie zu. Wesentlich ist, dass mehrere Faktoren gleichzeitig wirken. Es kam zu einer extremen Entwicklung des Kapitalismus, dem seit 1989 – ohne jegliche Sympathie meinerseits für den Kommunismus – das Gegengewicht fehlt. Wir haben es nicht geschafft, diesem Turbo-Kapitalismus etwas entgegenzusetzen, das demokratisch ist und korrigierend wirkt. Der Freiheit der Märkte fehlt eine politische Kontrolle, wie etwa die Panama-Papers zeigen oder die ökonomischen Blasen in den USA. Die Finanzkrise und die Wirtschaftskrise überlappen einander, Lösungen hinken hinterher. Digitalisierung und Globalisierung erfolgen sehr rasch. Politiker wiederum werden verantwortlich gemacht, erleben aber ihrerseits, angesichts der Macht des Kapitals wenig bewegen zu können. Unter diesem Druck fühlen sie sich frustriert. Und Druck wird weiters auch auf den Einzelnen ausgeübt, denn der muss die Leistungen bringen, der muss Punkte erreichen, Abschlüsse schaffen.

Wie geht denn das Gesundheitssystem damit um? Handelt es sich um bloße Reparaturmedizin? Oder werden die angesprochenen Probleme Ihrer Beobachtung zufolge erkannt?
Das Gesundheitssystem, vor allem einzelne Akteure, haben dies alles bereits erkannt und Konsequenzen gezogen. An diesem System wirken viele Kräfte mit, die Selbstverwaltung in der gesetzlichen Sozialversicherung bringt die Erfahrungen aus den Betrieben in die Gesundheitspolitik ein. Unter anderem die Gesundheitsförderung wurde bereits während meiner Amtsperiode ständig bedeutsamer. Wir machen keinesfalls nur bloße Reparaturmedizin, aber das Gesundheitswesen ist in seinen quantitativen und qualitativen Dimensionen sicherlich gefordert, in mancherlei Hinsicht schon überfordert. Einer der Gründe dafür ist das Umdenken der Menschen. Ständig mehr Personen fordern Leistungen des Gesundheitswesens und treten nicht mehr als Bittsteller auf sondern als selbstbewusste Versicherte. Zugleich hat sich die Anzahl der Anbieter von Gesundheitsdienstleistungen erhöht, ebenso das Angebot an medizinischen Geräten, die angeschafft und ausgelastet werden sollen. Im Rahmen von Umstellungen in der Finanzierung des Gesundheitssystems, etwa auf das Punktesystem, hat sich dann da oder dort die Anzahl von Operationen oder Untersuchungen erhöht, obwohl sich die Bevölkerung in den statistischen Daten nicht verändert hatte. Das Gesundheitswesen wurde zu einer Branche, die wie jede andere auch im vollen Wettbewerb steht. Ich wage es zu bezweifeln, ob dieser Wettbewerb zu Gunsten des Patienten besteht oder ob er im Sinne der Akteure ist. Die niedrigere Lebenserwartung und die gesundheitlichen Belastungen für Ärzteschaft und andere Gruppen der Gesundheitsberufe lösen jedenfalls Zweifel aus.

In einigen Ortschaften und Sprengeln ist es schwierig geworden, Kassenstellen zu besetzen. Wie das?
Die niedergelassenen Ärzte beklagen, die Tarife seien nicht angemessen. Schwierigkeiten, Kassenstellen zu besetzen, gelten für einzelne Fächer und für ländliche Regionen. Die Betroffenen sagen, die Arbeit sei in der Stadt angenehmer. Am Land sei es hingegen schwieriger, ein entsprechendes Einkommen zu erzielen, und die erforderlichen Bereitschaftsdienste seien kaum mit der üblichen Lebensqualität vereinbar. Gerade Ärzte auf dem Land müssen in vielen Aspekten medizinischer Tätigkeit ziemlich firm sein, zudem gibt es stets neue Erkenntnisse. Ärzte können dann in eine Überforderung geraten, denn zu den wachsenden fachlichen Herausforderungen kommen jene der Bürokratie und der Dokumentation. Selbstverständlich müssen Ärzte und Spitäler alles dokumentieren können, aber die Entwicklung hin zu einem Rechtssystem wie in den USA erachte ich für verwerflich und als unpassend. Im Übrigen erachte ich Gruppenpraxen für eine passende Idee. Es müsste die Zusammenarbeit gelingen, obwohl Ärzte darin ausgebildet werden, als Einzelne eine individuelle Verantwortung zu übernehmen.

In der Politik tätig zu sein, hat Folgen für die Lebensführung. Was ist denn das Gesündeste an Ihrem Leben?
Als ich zur Bundesministerin berufen wurde, fragten mich Journalistinnen, wie gesund ich denn lebe. Ob ich Obst oder Gemüse esse, regelmäßig turnen oder schwimmen würde? Da hatte ich nicht viel zu bejahen, und plötzlich sagte eine Kollegin: Ich hab‘s, Sie lachen gerne! Dazu habe ich Ja gesagt. Das ist es. Die Freude an der Arbeit, am Kontakt mit Kolleginnen und Kollegen. Ein Team, in dem man gut arbeiten kann. Sachlich kompetent, menschlich loyal und eine Prise Humor. Die Gewissheit, ich kann mich zurücklehnen und auf andere verlassen, das ist es. Denn in den ausgesetzten Positionen der Politik wird man einsam. Absolut einsam. Ich freue mich zudem auch über kleinste Erfolge. Die gaben mir immer den Schwung für die nächste Sache.

Dennoch erleidet man Verwundungen oder Verletzungen. Heilen diese mit der Zeit?
Nicht jeder Misserfolg ist eine Verwundung. Von völlig unerwarteter Seite jedoch eine persönliche Enttäuschung zu erleben, kann schon als Verletzung empfunden werden. Mir ist das glücklicherweise niemals widerfahren. Es ist aber als Selbstschutz erlaubt, mit einem gewissen Selbstbewusstsein manches nicht zu sehr an sich herankommen zu lassen. Andererseits habe ich sogar bei harten Konfrontationen darauf geachtet, niemals verletzend zu sein. Jemanden zu verletzen – das bringt nichts ein.

Zur Person
Lore Hostasch wurde 1944 in Wien geboren. Matura 1962 an einer Handelsakademie. Ihre berufliche Laufbahn begann sie 1962 als Angestellte bei der BAWAG Wien, wo sie zunächst Vorsitzende des Betriebsrats und danach des Zentralbetriebsrats war. Hostasch ist langjährige SPÖ-Politikerin; von 1987 bis 1989 war sie Mitglied des Wiener Gemeinderates und Abgeordnete zum Wiener Landtag. Von 1989 bis 1994 war sie Vorsitzende der Gewerkschaft der Privatangestellten sowie von 1991 bis 1995 Vizepräsidentin des Österreichischen Gewerkschaftsbundes. Von 1994 bis 1997 war sie Präsidentin der Bundesarbeitskammer und der Kammer für Arbeiter und Angestellte Wien. Hostasch war lange Jahre Abgeordnete im Nationalrat. Von 27. Jänner 1997 bis 4. Feber 2000 war sie Bundesministerin für Arbeit, Gesundheit und Soziales. In dieser Zeit ersetzte sie im Gesundheitsbereich den KRAZAF (Krankenanstaltenzusammenarbeitsfonds) durch die LKF (Leistungsorientierte Krankenanstaltenfinanzierung). Nach dem Ausscheiden aus der Regierung war sie Mitglied in der Taskforce für Qualifikation und Mobilität, einer Initiative der Europäischen Kommission. Bis 2007 war sie in verschiedenen Funktionen der Gewerkschaft für Privatangestellte und des österreichischen Gewerkschaftsbundes tätig.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 13-14 / 15.07.2016