Im Gespräch Johanna Rachinger: Die Sehnsucht nach realen Orten bleibt

25.04.2016 | Politik

Die Österreichische Nationalbibliothek digitalisiert in einer Kooperation mit Google ihren urheberrechtsfreien Bestand an Büchern. Inhalte sollen einfach, schnell und weltweit abrufbar sein, erläutert Generaldirektorin Johanna Rachinger im Gespräch mit Claus Reitan.

ÖÄZ: In der Österreichischen Nationalbibliothek liegt das Zentrum der analogen Buchwelt, doch die Digitalisierung klopft an die Tür.
Rachinger: Die Österreichische Nationalbibliothek speichert das Wissen aus Vergangenheit und Gegenwart für zukünftige Generationen. Die Digitalisierung unserer Bestände ist bereits weit fortgeschritten. Dazu erwerben wir laufend auch sogenannte born-digital Medien, also Publikationen, die nur noch online erscheinen. Wir haben die Chancen der modernen Informationstechnologien angenommen und uns das Ziel gesetzt, unseren gesamten urheberrechtsfreien Bestand an Büchern möglichst rasch zu digitalisieren. Die Inhalte sollen im Sinne der Demokratisierung des Wissens möglichst einfach, schnell und weltweit abrufbar sein. Es besteht heute die Gefahr, dass das, was nicht im Netz vorhanden ist, nicht mehr wahrgenommen wird. Damit würde der Verbindungsfaden zu dem über Generationen gesammelten Wissen reißen. Das ist mit ein Grund, warum wir mit dem Internetunternehmen Google vor einigen Jahren ein großes Public Private Partnership eingegangen sind, das es uns ermöglicht, unseren gesamten urheberrechtsfreien Buchbestand zu digitalisieren. Es handelt sich um insgesamt 600.000 Bücher. Hätten wir das Projekt alleine durchgezogen, hätte uns das 40 Millionen Euro gekostet.

Also werden digitalisierte Texte tatsächlich an einem Bildschirm gelesen?
Ja, durch die erwähnte Public Private Partnership können heute bereits rund 340.000 Bücher online durchsucht und gelesen werden. Zusätzlich sind bereits 15,5 Millionen Zeitungsseiten im Netz, jährlich kommt etwa eine Million Seiten hinzu. Wir verzeichnen täglich 3.000 Leser im digitalen Zeitungslesesaal, also rund drei Mal so viele wie in den 19 Lesesälen vor Ort, die von Montag bis Sonntag geöffnet sind. Die Menge an virtuellen Besuchern unserer Online-Angebote könnten wir physisch gar nicht unterbringen. Dennoch beobachten wir nach wie vor ein großes Bedürfnis, in unserer Bibliothek zu arbeiten. Die Besucherzahlen steigen trotz der vielen im Internet angebotenen Inhalte. Menschen, die zunehmend in virtuellen Welten kommunizieren, haben immer noch die Sehnsucht, an realen Orten reale Menschen zu treffen.

Aber in den Lesesälen gab es an der Schnittstelle von digitaler und analoger Welt durchaus Reibungen, etwa zwischen jüngeren Studierenden und älteren Lesern.
Wir haben in den letzten 20 Jahren einen enormen Umbruch erlebt – von der analogen in die digitale Welt. Das hat natürlich auch vor den Lesesälen nicht Halt gemacht. Die Arbeitsweisen der Leser haben sich dem dynamischen Prozess angepasst und entsprechend verändert. Früher kam kaum jemand mit einem Laptop, heute nahezu jeder. An das leise Tippen haben sich inzwischen alle gewöhnt. Wenn ich durch die vollen Lesesäle gehe, freue ich mich, denn dort sehe ich die Zukunft unseres Landes. Wir haben aber auch auf die steigende Zahl der Studierenden reagiert und zusätzliche Lesesäle gebaut. Dass immer mehr Besucher keine analogen Bestände bestellen, ist auch eine Folge unseres rasch wachsenden Online-Angebotes.

Unsere Gegenwart ist von höchst unterschiedlichen Bildungsmilieus geprägt.
Bildung war immer bedeutsam und lange Zeit ein Privileg bevorzugter Schichten. Aber etwas Wesentliches hat sich geändert. Mit einem Pflichtschulabschluss hat man früher in der Regel einen Arbeitsplatz gefunden. Doch die einfachen Tätigkeiten werden heute durch Maschinen und Robotersysteme erledigt – oder ins Ausland verlagert, wo das Lohnniveau niedriger ist. Zudem kann ein Drittel der Abgänger einer Pflichtschule nicht oder nur kaum sinnerfassend lesen. Das ergibt eine Einbahnstraße in die Arbeitslosigkeit. Hier ist die Politik gefordert, gegenzusteuern.

Für die einen prägt die Digitalisierung unsere Gegenwart, für die anderen ist es der Neoliberalismus. Wie blicken Sie auf die Gegenwart und die Lebensumstände?
Was unsere Gesellschaft heute vielleicht irritiert, ist das häufige Erleben eines Ohnmachtsgefühls, da wir zahlreiche Prozesse nicht mehr zu durchschauen vermögen. Wir leben in einer globalisierten Welt. Es ereignet sich etwas anderswo, doch es hat auch Auswirkungen auf unser Leben. Wir sind nicht mehr in der Lage, das wirklich zu steuern. Es wird zunehmend schwierig, verantwortungsvoll zu handeln, eben weil die weltweiten komplexen Zusammenhänge schwer durchschaubar sind.

Apropos Verantwortung: Was ist denn das Gesündeste an Ihrem Leben?
Die positive Grundstimmung. Für mich ist das Glas halbvoll und nicht halbleer. Ich achte auf gesunde Ernährung, pflege phasenweise den Verzicht und versuche, Bewegung in den Alltag zu integrieren. Ich gehe zu Fuß in die Arbeit und nach Hause.

Und ein digitaler Wegbegleiter zählt die Schritte?
Das mache ich nicht mit, denn ich möchte von diesen Dingen nicht abhängig sein. Alles zu zählen und zu messen würde lediglich nur Stress nach sich ziehen. Bequeme Schuhe sind das Zugeständnis, aber ich verzichte auf Schrittzähler und Pulsmesser. Im Gehen will ich mich beispielsweise auf die kommenden Termine vorbereiten, und im Gehen entstehen immer wieder gute Ideen.

Wer sollte denn hier, umgangssprachlich formuliert, dagegenhalten? Wer könnte Tempo aus dem Alltag nehmen?
Es geht darum, klare Prioritäten zu setzen, zu wissen, was ist mir wichtig. Ärzte empfehlen ohnedies häufig, man möge gesünder leben, etwas mehr Bewegung machen, aber der Rat wird nicht immer angenommen. Jeder Einzelne ist für seinen Lebensstil verantwortlich, dennoch haben Führungskräfte die Aufgabe, für ein gutes Betriebsklima und gute Rahmenbedingungen zu sorgen.

Und die Ärztinnen und Ärzte …
Wir können uns glücklich schätzen, in Österreich eine medizinische Versorgung auf höchstem Niveau zur Verfügung zu haben. Doch gerade junge Ärztinnen und Ärzte stehen in einer schwierigen beruflichen Situation. Sie sind nicht besonders gut bezahlt, leisten jedoch Enormes, etwa mit Nacht- oder Wochenenddiensten. Wenn wir dieses Gesundheitssystem weiter erhalten wollen, sind Reformen notwendig. Die Möglichkeit von Gruppenpraxen mit längeren Öffnungszeiten begrüße ich, nicht zuletzt aus persönlichen Gründen, denn ich kann nach einem langen Arbeitstag noch einen Arztbesuch einplanen.

Zu Ihren Tätigkeiten gehört auch jene an dem seit Jahrzehnten projektierten Haus der Geschichte. Das ist/war ein in der Politik besonders heftig umstrittenes Vorhaben, für welches nun Beschlüsse gefallen sind.
Ich freue mich sehr, dass die Entscheidung über die Realisierung gefallen ist. Wir sind als Nationalbibliothek in dieser Sache außerordentlich engagiert, denn wir sehen, dass es ein sehr starkes Interesse an einer Auseinandersetzung mit historischen Themen, vor allem mit Zeitgeschichte, gibt. Unter den gegenwärtigen Bedingungen des Wertewandels und der Globalisierung nimmt die Sehnsucht nach einer Verwurzelung in der eigenen Vergangenheit zu. Aber selbstverständlich ist hier der kritische, offene Blick das Entscheidende.

Österreichs Vergangenheit wird immer noch kontroversiell betrachtet.

Es gibt unterschiedliche Sichtweisen beispielsweise zum Jahr 1934, wo noch immer ideologische Grabenkämpfe geführt werden. Im Haus der Geschichte soll nicht eine, sondern verschiedene Sichtweisen dargestellt und so zur Meinungsbildung beigetragen werden. Zudem sollen neue Zugänge geschaffen werden, etwa zur Migrationsgeschichte und den Migrationsbewegungen.

Welche Lehren sollten wir denn aus der ideologisch be- und überfrachteten Geschichte ziehen?
Wenn wir auf die Habsburger Monarchie und den Vielvölkerstaat zurückblicken, dann ist dieses Modell eines multi-ethnischen Vielvölkerstaates auch heute wieder interessant. Und Europa, das so schreckliche Kriege erlebt hat, darf nicht bloß auf eine Wirtschaftsunion reduziert werden, sondern muss eine Friedensunion sein. Jetzt, in einer der größten Krisen der Europäischen Union, sollten die Nationalstaaten die übergeordneten Interessen über die eigenen stellen. Wir müssen sensibel sein für politische Strömungen, die zu sehr ins Populäre abgleiten, und wir müssen achtsam sein, sobald rassistische Tendenzen spürbar sind. Da ließe sich aus der Geschichte lernen, denn wir wissen, wohin das führen kann.

Von Vergangenheit und Gegenwart in einem: Heilt die Zeit alle Wunden?
Nein, die Zeit heilt nicht alle Wunden. Ereignisse wirken oftmals lange nach und tiefe Verletzungen sind schwer zu vergessen. Auch wenn die Wunde nicht mehr schmerzt, bleibt eine Narbe, die an die Verletzung erinnert. Wichtig ist ein ehrlicher und kritischer Umgang mit der eigenen Vergangenheit, ohne blinde Flecken, die sonst immer wieder Anlass zu neu aufbrechenden Konflikten werden.

Zur Person

Die gebürtige Oberösterreicherin Johanna Rachinger studierte in Wien Theaterwissenschaft und Germanistik und promovierte 1986. Nach ersten Tätigkeiten in Verlagen war sie von 1995 bis 2001 Geschäftsführerin des Verlags Ueberreuter, seit 2001 ist sie Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek. Damit ist sie auch für das Haus der Geschichte zuständig. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen (Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst, 1. Klasse), ist Mitglied des Senats der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sowie Aufsichtsrätin u.a. der Wiener Konzerthausgesellschaft.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 8 / 25.04.2016