Im Gespräch – Heinz Nuß­bau­mer: „Mein Leben ver­danke ich allein der Medizin“

10.09.2016 | Politik

Eine Per­sön­lich­keit per­sön­lich befragt: Heinz Nuß­bau­mer, lang­jäh­ri­ger Außen­po­li­tik-Res­sort­lei­ter des Kurier und Spre­cher zweier Bun­des­prä­si­den­ten, im Inter­view mit Claus Reitan über Gesund­heit und Krank­heit – und über die Cha­rak­te­ris­tik unse­rer Zeit: Wir sind als Ein­zelne über­for­dert, als Gesell­schaft nicht kri­sen­fest. Einer, „der über­lebt hat“, in umfas­sen­der Reflektion.

ÖÄZ: Was ist für Sie – im Blick auf Gegen­wart und Gesell­schaft – eine der Zeit­krank­hei­ten, oder anders­rum: Woran krankt unsere Zeit?
Nuß­bau­mer: Unsere Zeit lei­det an vie­len Krank­hei­ten. Für mich die Gefähr­lichste ist, dass wir offen­kun­dig unfä­hig sind, mit unse­ren über Jahr­tau­sende gepräg­ten Instink­ten in die Glo­ba­li­sie­rung ein­zu­tau­chen: Auf die Ent­gren­zun­gen, die wir gegen­wär­tig erle­ben, sind wir nicht vor­be­rei­tet. Wir sind viel klei­nere, über­schau­bare Ver­ant­wor­tun­gen gewöhnt, jene der Fami­lie, des Clans, des Ortes usw. Die neue Gren­zen­lo­sig­keit sind wir nicht gewöhnt. Das löst, glaube ich, alles Mög­li­che aus, vor allem Ängste, aber auch eine Gier, um das Eigene vor dem Zugriff des Ande­ren, des Frem­den zu schüt­zen. Selbst der Gerech­tig­keits­sinn funk­tio­niert nur inner­halb erkenn­ba­rer Begren­zun­gen. Im Gro­ßen geht viel Grund­ver­trauen ver­lo­ren. Die ein­ge­üb­ten Ver­hal­tens­mus­ter füh­len sich über­for­dert. Die Ent­gren­zung ist zu schnell über uns gekommen.

Damit stellt sich die Frage nach der Resi­li­enz: Ist unsere Gesell­schaft kri­sen­fest?
Über­haupt nicht. Die Abwehr gegen die erwähnte Über­for­de­rung hat viele Gesich­ter – und sie erschüt­tert sogar halb­wegs sozial erprobte, homo­gene Gesell­schaf­ten. Heute wird jeder noch so kleine Kri­sen­fall, jede noch so ent­fernte Bedro­hung, medial ver­stärkt, ja mul­ti­pli­ziert, vor allem durch die soge­nann­ten ‚sozia­len Medien‘. Jede Bedro­hung irgendwo ist auch für uns eine reale Belas­tungs­probe. Auf die­sen enor­men, ein­strö­men­den Fluss an Nach­rich­tensind wir ein­fach nicht vor­be­rei­tet. Die Digi­ta­li­sie­rung, das Inter­net, die Glo­ba­li­sie­rung – all das beein­flusst unmit­tel­bar unsere Lebens­voll­züge: tech­nisch, wirt­schaft­lich, poli­tisch, ja, auch huma­ni­tär. Nichts hat mehr erkenn­bare Gren­zen. Im Grunde hät­ten wir uns jetzt für alles zu inter­es­sie­ren, schaf­fen – und wol­len? – es aber nicht. Unser Fas­sungs­ver­mö­gen erweist sich als begrenzt. 

Wie lie­ßen sich die Fol­gen behe­ben? Worin bestünde Hei­lung?
Noch habe ich – so wie wir alle – kaum eine Ant­wort. Offen­kun­dig aber ist, dass der gesamte Kom­plex der ‚Zeit­krank­heit‘ auch zeit­gleich mit dem Zusam­men­bruch von wert­schöp­fen­den Insti­tu­tio­nen ein­her­geht. Wir haben noch keine Insti­tu­tio­nen ent­wi­ckelt, die etwa an die Stelle der ver­duns­ten­den Reli­gio­si­tät tre­ten könn­ten. Viele Leute ver­wei­sen jetzt auf das ‚gebil­dete Gewis­sen‘ von jedem von uns. Ich frage mich aller­dings, wer heute eigent­lich ‚Gewis­sen‘ bil­det. Die Eltern? Die arbei­ten meis­tens und sind wenig zuhause. Die Schule? Ich fürchte, sie ist mit der Gewis­sens­bil­dung über­for­dert. Die klas­si­schen gewis­sens­bil­den­den Kräfte, also die Reli­gio­nen, Kir­chen, aber auch Insti­tu­tio­nen wie die Par­teien, sie haben nur noch wenig Prä­ge­kraft. Was ist denn heute noch christ­lich-sozial? Und was ist mit ‚sozi­al­de­mo­kra­tisch‘ wirk­lich gemeint? Wer also bil­det ‚Gewis­sen‘ – zudem eines, das über die natio­na­len Gren­zen hin­aus gül­tig ist? Ich weiß es nicht. Sicher ist nur: Reli­giös geprägte Bevöl­ke­rungs­grup­pen haben noch immer einen wei­ter rei­chen­den Hori­zont der Soli­da­ri­tät als nicht-reli­giöse. Das bewei­sen viele Unter­su­chun­gen – und das zeigt die Praxis.

Benö­ti­gen wir neue Begriffe von Bil­dung, von Hei­mat, von gutem Leben oder von Gerech­tig­keit?
Es geht nicht um Begriffe, son­dern um die Inhalte hin­ter den Begrif­fen. Da hinkt unser Reform­ver­mö­gen – auch das unse­rer poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen – weit hin­ter der Dring­lich­keit hin­ter­her. Und das nicht nur aus Rat­lo­sig­keit: Die Erfah­rung zeigt, dass jedes Ver­las­sen der ‚Gemüt­lich­keits­zone‘ poli­tisch keine Punkte bringt. Meist wird es sogar vom Wäh­ler bestraft. Dabei spü­ren wir, dass lang­fris­tig das ‚gute Leben‘ nur über mehr Bil­dung, mehr Gerech­tig­keit etc. zu haben ist. Dazu ein Bei­spiel, um zu zei­gen, wie sehr wir den Anschluss an die Ent­wick­lung ver­passt haben: Als sich Öster­reich für ein grö­ße­res Europa ent­schied und Europa seine Grenz­zäune nach Osten zu über­win­den hatte, da habe nicht nur ich gewusst, was zu tun ist – und habe dies in man­che Ent­würfe für Reden von Bun­des­prä­si­den­ten auf­ge­nom­men: Der Natio­nal­staat wird in die­sem Europa mehr und mehr Kom­pe­ten­zen nach oben abge­ben, dafür aber auch Ver­ant­wor­tung nach unten dele­gie­ren müs­sen – an die Regio­nen, Län­der und Kom­mu­nen. Sonst ver­lie­ren die Men­schen die Behau­sung, die sie benö­ti­gen. Was aber ist gesche­hen? Der Trans­fer nach oben, nach Brüs­sel, hat statt­ge­fun­den, der nach unten nicht. Was haben wir damals von grenz­über­schrei­ten­den regio­na­len Zusam­men­schlüs­sen gere­det: etwa in der Arge Alp, Arge Alpen-Adria oder Arge Donau­raum. Wie oft hören wir heute noch davon? Das heißt: Der Natio­nal­staat ver­liert Kom­pe­tenz nach oben, ver­tei­digt sie aber nach unten mit Zäh­nen und Klauen.

Zum Gesund­heits­we­sen: Wie wird die­ses in und von der Öffent­lich­keit ein­ge­schätzt? Wel­ches Bild haben Sie von Ärz­tin­nen und Ärz­ten?
Wie die Öffent­lich­keit denkt, weiß ich nicht. Mein per­sön­li­cher Zugang aber ist ganz klar: Dass ich hier sit­zen und diese Fra­gen beant­wor­ten kann, ver­danke ich allein der Medi­zin und ihrem Personal.

Wie kam es dazu?
Im Alter von 16 Jahre hatte ich mei­nen ers­ten Krebs. Spä­ter noch einen. Und dazwi­schen war noch eine Menge: Das bestrahlte Gewebe am Rücken löste sich auf und machte eine schwie­rige Trans­plan­ta­tion not­wen­dig. Dazu kamen alle mög­li­chen Ope­ra­tio­nen an Ver­dau­ungs­or­ga­nen, die höchs­tens in einer Ärz­te­zei­tung inter­es­sie­ren: Vago­to­mie, Re-Vago­to­mie, Bill­roth – und am Ende der radi­kale Ein­griff: „Whipple makes a boy a man“, sagen die Medi­zi­ner dazu. Daher kann ich sagen: Mein Leben ver­danke ich der Medi­zin. Ich bin das ‚lebende Trotz­dem‘ – ein Glücks­fall, der sehr viel über­lebt hat.

An den Rän­dern unse­res Lebens ent­ste­hen neue Fra­gen, etwa jene, wann denn das Gebot der Lebens­ver­län­ge­rung endet?
Dafür gel­ten mei­ner Ansicht nach zwei Kri­te­rien. Zum einen: Die ärzt­li­che Behand­lungs­pflicht – sie endet, sobald keine medi­zi­ni­sche Maß­nahme mehr sinn­voll ist. Zum ande­ren gibt es einen Punkt, an dem der Pati­ent mit sei­nem Selbst­be­stim­mungs­recht ein Ende der Behand­lungs­pflicht vor­schla­gen kann. Aus eige­ner Erfah­rung weiß ich aller­dings, wie insta­bil sol­che Aus­sa­gen sein kön­nen. Unter enor­men Schmer­zen rei­ßen viele Sicher­heits­netze. Tiefe Ver­zweif­lung kann aber auch in einen neuen Lebens­mut umschla­gen, wenn einem eine beru­hi­gende Hand, ein für­sorg­li­cher Blick geschenkt wird. Oder wenn es sein muss eine Mor­phium-Pumpe. Die oft geäu­ßerte Angst, davon abhän­gig zu wer­den, habe ich immer für falsch gehal­ten. Grund­sätz­lich ist für mich in die­ser gan­zen heik­len Frage immer der Arzt der letzt­lich Entscheidende.

Apro­pos Gesund­heit, Digi­ta­li­sie­rung und Inter­net: Ist Dr. Google der neue Haus­arzt?
Dr. Google ist sicher nicht der neue Haus­arzt. Aber ohne die enorme Ver­net­zung und den Daten­ab­gleich der Medi­zi­ner, der Kran­ken­häu­ser, der For­schung, würde es den unglaub­li­chen Fort­schritt nicht geben. Wenn sich dies alles im rech­ten Maß mit der ärzt­li­chen Hin­gabe ver­bin­det, dann ergibt das sol­che Erfolge, wie es auch mein Über­le­ben war. Mit Dr. Google allein wird es nicht gehen. Übri­gens: Mich ängs­tigt die Ent­wick­lung in den USA, wo Haus­ärzte wegen mög­li­cher Kla­gen wegen Kunst­feh­lern lie­ber nicht mehr ins Haus kom­men. Das ist schlimm! Das Grund­ver­trauen eines Pati­en­ten zum Arzt kann nur in der per­sön­li­chen Bezie­hung und in der ärzt­li­chen Hin­gabe wach­sen. Sollte die Medi­zin mit der Digi­ta­li­sie­rung nicht mehr am ‚Schau­platz Mensch‘ prä­sent sein, so nimmt sie sich den gesam­ten tech­nisch-wis­sen­schaft­li­chen Fortschritt.

Haben Sie eine Pati­en­ten­ver­fü­gung oder Vor­sor­ge­voll­macht abge­schlos­sen?
Die For­mu­lare dafür lie­gen seit drei Jah­ren in unse­rem Wohn­zim­mer. Unaus­ge­füllt. Warum? Weil ich fälsch­li­cher­weise glaube, dass keine Dring­lich­keit besteht.

Zur Per­son

Prof. Heinz Nuß­bau­mer begann seine jour­na­lis­ti­sche Lauf­bahn in der Hei­mat­stadt Salz­burg, wech­selte 1966 von der Salz­bur­ger Volks­zei­tung zum Kurier, des­sen Außen­po­li­tik-Res­sort er von 1971 bis 1990 lei­tete. Von 1990 bis 1999 war Nuß­bau­mer Spre­cher der Prä­si­dent­schafts­kanz­lei und der Bun­des­prä­si­den­ten Kurt Wald­heim und Tho­mas Kle­stil. Er war Gast­ge­ber der ORF-Sen­dung „phi­lo­so­phi­cum“ („kreuz&quer“), lei­tete Dis­kus­sio­nen bei inter­na­tio­na­len Kon­fe­ren­zen in Öster­reich. Seit 2003 ist Nuß­bau­mer Her­aus­ge­ber der Wochen­zei­tung „Die Fur­che“. Zu den Büchern des mehr­fach aus­ge­zeich­ne­ten Publi­zis­ten gehö­ren „Der Mönch in mir – Erfah­run­gen eines Athos-Pil­gers für unser Leben“ und „Meine kleine große Welt“.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 17 /​10.09.2016