Im Gespräch – Brigitte Ederer: Der Wohlfahrtsstaat ist keine Bürde

15.08.2016 | Politik

Im Gesundheitssystem ließen sich manche Ineffizienzen beheben und der technische Fortschritt stärker nutzen, sagt Brigitte Ederer im Interview mit Claus Reitan. Kritik am Aufwand für Gesundheit weist die Politikerin und Managerin zurück: Gesundheit sei wesentlich für die Lebensqualität der Menschen und für ein effektives Wirtschaftssystem.

ÖÄZ: Ihr beruflicher Weg – als Tochter einer alleinerziehenden Mutter – führte steil nach oben: Sie waren die erste Abgeordnete der SPÖ unter 30, waren Europa-Staatssekretärin sowie im Siemens-Vorstand, sind heute Vorsitzende des ÖBB-Aufsichtsrates. Wie geht das?
Ederer: Ich werde häufig gefragt, wie man Karriere macht. Ein wesentliches Element ist Disziplin. Man sollte zeitlich verfügbar sein, sich auf Themen gut vorbereiten, die Arbeit leisten. Disziplin ist eine Voraussetzung für eine Karriere, ganz sicher. Sie ist niemandem in die Wiege gelegt. Ohne Disziplin hätte ich nicht diesen Lebensweg genommen.

Wo lässt sich das heute noch erlernen?

Das ist mir nicht bekannt. Ich habe es bei meiner Mutter gelernt. Die Wirkung eines Vorbildes ist bedeutsam.

Worin besteht die ebenso erforderliche Motivation?
Ich wollte stets verändern, gestalten und Entwicklungen in die von mir als richtig erachtete Richtung bewegen. Dazu muss man stets die Stakeholder von der Notwendigkeit einer Veränderung überzeugen.

Was hält Sie bei so viel an Arbeit gesund?
Bewegung. Und bei der Bewegung nicht telefonieren! Zügig zu wandern, leicht bergauf, wie bei den Wiener Hausbergen, das halte ich für das Gesündeste. Für mich soll der Puls nicht über den Wert von 120 Herzschlägen pro Minute ansteigen. Wenn ich zwei, drei Stunden gehe, vorzugsweise mit meinem Ehemann, dann ist das sehr entspannend. Mein Kopf wird frei.

Unsere Gegenwart ist eher von Hektik geprägt.

Das Leben hat sich in den vergangenen Jahren enorm beschleunigt, vor allem wegen der neuen technischen Möglichkeiten, zu kommunizieren. Das ist rund um die Uhr möglich, Zeitpunkt und Ort wurden bedeutungslos. Das war vor 20 Jahren noch anders, völlig anders, und hat zwei unmittelbare Auswirkungen: Ständig kommunizieren zu können, erfordert Aufmerksamkeit, was im Alltag einen erheblichen Teil der Energie bindet. Und wir gehen in eine Zeit des selbst Fotografierens, des selber Beratens und sogar der Selbstmedikation. Manche meinen, Ärzte belehren zu können. Andere glauben, alles zu wissen, denn sie hätten das Internet zur Verfügung.

Ein Trugschluss?
Es bedeutet jedenfalls insofern eine Verminderung der Lebensqualität, als die qualifizierte direkte Beratung fehlt, für die eigens ausgebildete Persönlichkeiten zur Verfügung stehen. Es fehlt weiters die Pflege von persönlichen Beziehungen, durch die zudem Werte weitergegeben werden. Am Stammtisch erhielt jeder bei besonders skurrilen Beiträgen umgehend kritische Rückmeldungen. Doch in der Anonymität des Internets folgen einige Likes und der Autor wähnt sich in der Mehrheit.

Unternehmen wie Siemens und ÖBB arbeiten an technischem Fortschritt, um Raum und Zeit noch schneller zu überwinden. Ergibt sich mit dem Blick auf das menschliche Maß daraus für Führungspersönlichkeiten nicht ein Spannungsfeld?
Auf den ersten Blick mag hier eine Schwierigkeit vorliegen. Doch technische Innovationen soll man nicht aufhalten, denn in der Regel bedeuten sie eine Erleichterung des Lebens. Zudem ändern sich die gesellschaftlichen Anforderungen und die Bedingungen des Lebens. Automatische Systeme steuern Züge, füllen Boxen etwa mit Lebensmitteln, kontrollieren Werte und Daten, leisten vieles andere mehr. Wesentlich in allen Bereichen ist das Bedürfnis nach Sicherheit, weswegen auch in technischen Belangen ein Mensch da sein sollte, der in Krisensituationen eingreift. Dieses Sicherheitsbedürfnis steigt gegenwärtig generell.

Menschen sind gegenseitig nicht nur hilfreich, sondern auch verletzend. Heilt die Zeit alle Wunden?

Jeder erleidet Verletzungen. Erfolgt ein einigermaßen vernünftiger Umgang, bleiben zwar Narben, aber es hat keine weiteren Auswirkungen mehr. Das lässt sich erlernen. Als Staatssekretärin im Bundeskanzleramt bin ich anfänglich medial und öffentlich wirklich schlecht behandelt worden. Damit fertig zu werden fiel mir tatsächlich schwer, wobei sich nach den Beitrittsverhandlungen die Berichte und Kommentare besserten. Aber auch mit dem Abschied von Siemens sind für mich noch einige Fragen unbeantwortet. Zu einem ausgefüllten und spannenden Berufsleben gehören eben Höhe- und Tiefpunkte. Wesentlich ist, aufgrund von Kränkungen nicht zu verbittern.

Was ist Ihre Strategie, wenn Sie mit komplizierten Themen und mit Komplexität konfrontiert sind?

Ein gewisser Hausverstand hilft. Wenn der Bauch etwa Unsicherheit oder Unklarheit signalisierte, dann lasse ich mir Themen mehrfach erläutern. Es ist eine Frage des Mutes, jemanden um eine weitere Erklärung zu bitten. Diesen Mut hatte ich stets. In nahezu allen Fällen intensiven Nachfragens fand sich ein Haken an der Sache.

Warum wurde die Ökonomie, namentlich die Finanzwirtschaft, kompliziert bis zur Unverständlichkeit?
Die Denkweisen des Finanzwesens haben sich mit der Deregulierung in der Ära von Ronald Reagan und Margaret Thatcher verselbständigt. Es begann in den USA, wurde von Europa in erheblichen Teilen übernommen. Wäre man bei den ursprünglichen strengen Regularien der Finanzwirtschaft geblieben, wäre es nicht zur Immobilienblase gekommen. Aber über ein Jahrzehnt lang marschierten die innovativsten Köpfe von den Hochschulen direkt in die Finanzinstitute. Sogar in den Technik-Unternehmen hatten die für Finanzen zuständigen Vorstände das Sagen und dominierten die europäische Wirtschaft. Dazu gehörte die Betrachtungsweise in Quartalsberichten, für die Margen von zehn, 15 oder sogar 18 Prozent gefordert wurden. Doch in der Realwirtschaft lassen sich auf Dauer nicht mehr als sechs oder sieben Prozent verdienen.

Das Gesundheitswesen wird zu einem Markt, auf dem sich Wettbewerb und Kostendebatte verschärfen könnten. Andere Kritiker sehen darin pure Reparaturmedizin. Wie lautet Ihre Einschätzung?

Zum Gesundheitswesen als Ganzes oder zum Spitalswesen möchte ich mir kein Urteil anmaßen. Aber ich gehe davon aus, dass man auch dort von einem verstärkten Einsatz technologischer Entwicklungen profitieren würde zum Wohle der Patienten und des medizinischen Personals. Leerläufe und Ineffizienzen ließen sich beheben, die Verfügbarkeit von Patientendaten bringt Vorteile mit sich, wie die E-Card beweist. Die Gesellschaft muss an der Gesundheit interessiert sein, denn sie ist wesentlich für die Lebensqualität der Menschen und für ein effektives Wirtschaftssystem. Behauptungen, Menschen seien nur bis zum Alter von 40 Jahren produktiv und würden dann nicht mehr benötigt, sind absolut unzulässig. Das Älterwerden ist entsprechend zu begleiten, damit Gesundheit und Lebensqualität erhalten bleiben. Der Wohlfahrtsstaat ist eine Errungenschaft der Menschheit, keine Bürde.

Zur Person

Brigitte Ederer ist seit 2014 Präsidentin des Aufsichtsrates der ÖBB, war zuvor u.a. Mitglied des Aufsichtsrates der ÖIAG. Die ehemalige Politikerin und Managerin war Abgeordnete zum Nationalrat, Bundesgeschäftsführerin der SPÖ, von 1992 bis 1995 Staatssekretärin im Bundeskanzleramt, anschließend Finanz- und Wirtschaftsstadträtin von Wien. Im Jahr 2000 wechselte sie in den Vorstand von Siemens, war von 2006 bis 2010 Generaldirektorin der Siemens AG Österreich und bis 2013 Personal-Vorstand der Siemens AG in München. Seit 2010 ist sie Obfrau des Fachverbandes der Elektro- und Elektronikindustrie in der WKO.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 15-16 / 15.08.2016