INFUSION16: Die große Herausforderung

25.05.2016 | Politik

Die Umsetzung der KA-AZG-Novelle, die immer stärkere Arbeitsverdichtung von Spitalsärzten und der ungesteuerte Zustrom zu Spitalsambulanzen – das sind die zentralen Herausforderungen des österreichischen Spitalswesens. Diese und weitere Themen standen im Mittelpunkt bei der von der Bundeskurie angestellte Ärzte ins Leben gerufenen Veranstaltung INFUSION Ende April in Wien.

                                
Ernüchternd fällt die Situationsanalyse des angestellten Arztes Univ. Doz. Rudolf Knapp aus: „Das derzeitige System behindert die berufliche Entfaltung des freien Berufes Arzt.“ Und weiter: „Es ist zu einer Art Industrialisierung in der Medizin gekommen“. Diese Entwicklung habe zu einer Demotivierung vieler Spitalsärzte geführt, zu enormem Stress im Arbeitsalltag und sei letztlich auch Mitverursacher der mangelnden Attraktivität des Berufes. Weswegen Knapp für „ein neues Selbstverständnis als angestellte Ärzte“ plädiert.

Die gesundheitspolitischen Herausforderungen, vor denen die österreichische Spitalslandschaft insgesamt steht, sind enorm:

KA-AZG-Novelle
Die Umsetzung der Novelle zum KA-AZG hat wohl für die Ärztinnen und Ärzte Verbesserungen bei der Arbeitszeit gebracht; gleichzeitig eine enorme Verdichtung derselben. Schon allein durch das KA-AZG wurden ärztliche Personalressourcen um rund 20 Prozent verringert; was auch 20 Prozent weniger Ressourcen in der Patientenversorgung bedeutet. Den Trägern war diese EU-Vorgabe sehr wohl bewusst – und das seit mehr als zehn Jahren; trotzdem haben sie im Vorfeld keine Vorbereitungen dafür getroffen.

Der ungelenkte Zustrom zu den Spitalsambulanzen
Alle Österreicherinnen und Österreicher können jederzeit – ohne Zuweisung – eine Spitalsambulanz aufsuchen und werden hier – um auf Nummer sicher zu gehen – komplett durchuntersucht. Das bringt die Spitalsambulanzen an die Grenzen ihrer Leistung.

Die überbordende Dokumentation

Rund 40 Prozent der Arbeitszeit von Spitalsärztinnen und Spitalsärzten wird ausschließlich für Dokumentation, Patientenadministration und Leistungscodierung aufgewendet.

Rund 200 Interessierte waren zu dieser als Netzwerk konzipierten Veranstaltung gekommen – und nutzten sie als Möglichkeit zum Informationsaustausch und zur Diskussion der unterschiedlichen Standpunkte. Eingeladen waren nicht nur Ärzte, sondern auch Geschäftsführer und Vorstände von Spitalsträgern. „Es ‚zwickt‘ an allen Ecken und Enden“, betonte Bundeskurienobmann Harald Mayer, Initiator der Veranstaltung. „Die Verantwortlichen bei den Spitalsträgern verschweigen gegenüber den Politikern die Probleme. Und niemand sagt den Menschen, dass es derzeit viele Leistungen in den Spitälern, die es früher gegeben hat, jetzt nicht mehr gibt.“ Es sei aber nicht Aufgabe der Ärzte, die immer größeren Mängel gegenüber den Patienten zu rechtfertigen. Dass man alle Perspektiven des Gesundheitswesens betrachten und beachten müsse, betonte ÖÄK-Präsident Artur Wechselberger. „Es darf nicht nur um die Ökonomisierung gehen, sondern auch um die Perspektive der Patienten sowie die Sichtweise aller, die im österreichischen Gesundheitswesen arbeiten und auch der Gesellschaft“. Mit einer rein ökonomischen Sichtweise komme man nicht vorwärts, betonte der ÖÄK-Präsident. „Wenn man nur Zahlen betrachtet, wird man nur Zahlen ernten.“ Univ. Prof. Thomas Szekeres, Präsident der Ärztekammer Wien, wiederum spannte den Bogen zur Gesundheitsreform – für ihn bislang „nur viel heiße Luft“. Die Politik suche den Best Point of Service – werde ihn aber noch lange nicht finden, wenn sie die Expertise der Ärzte einfach weiter ignoriere. „Ohne Ärzte kann man eine Gesundheitsreform nicht umsetzen“, stellte Szekeres klar.

Das österreichische Gesundheitssystem ist geprägt von vielen Vorgaben, unterschiedlicher Finanzierung, Fragmentierung der Verantwortlichkeiten und schlecht organisierten Schnittstellen – darüber waren sich Gottfried Koos vom Vorstand der VAMED AG und Andrea Samonigg-Mahrer, Geschäftsführerin des privat geführten öffentlichen Kärntner Krankenhauses Spittal/Drau, einig. Samonigg-Mahrer gestand im Hinblick auf das KA-AZG ein, dass ein Arzt „in kürzerer Zeit die gleiche Leistung erbringen muss“. Die Produktivität sei gestiegen und – so laute die „schlechte Nachricht: sie wird noch weiter steigen“. Wieso es in dem von ihr geführten Krankenhaus trotzdem noch möglich ist, weiter den Betrieb aufrechtzuerhalten? Samonigg-Mahrer: „Gott sei Dank waren viele Ärzte in unserem Spital bereit, die Opt out-Regelung zu unterschreiben“. Vor allem über 50-jährige Fachärzte seien es gewesen, die unterschrieben hätten, und „die halten das System derzeit auch aufrecht“. Die Turnusärzte hingegen hätten die Opt out-Regelung geschlossen nicht unterschrieben.

Stationärer Bereich muss entlastet werden

Die unterschiedlichen Standpunkte und Herausforderungen beschrieben Experten von Vorarlberg über die Steiermark bis ins Burgenland. Tenor dabei: Der stationäre Bereich muss entlastet werden. Univ. Prof. Wolfgang Buchberger, Medizinischer Direktor der Tirol Kliniken erklärte: „Das System Krankenhaus hat massive Probleme – um nicht zu sagen: Es steckt in der Krise.“ Auch sei das österreichische Krankenhaussystem nicht nur fehl-, sondern unterfinanziert. In den Tirol Kliniken versuche man daher, Prozesse zu optimieren: Ärzte würden – wo möglich – durch Dokumentationsassistenten oder medizinisch-organisatorische Assistenten von Organisation und Administration entlastet. In diese Kerbe schlug auch Karlheinz Kornhäusl, stellvertretender Bundeskurienobmann angestellte Ärzte und Obmann der Bundessektion Turnusärzte. Auch müssten die Spitalsambulanzen vom ungebremsten Zustrom entlastet werden. Kornhäusl weiter: „Die Spitäler und jene, die darin arbeiten, können nicht mehr alles schaffen. Er sieht das Gesundheitssystem insgesamt „vor enormen Umbrüchen“. Besonders für die junge Generation gäbe es – Stichwort Arbeitszeit – noch „Luft nach oben“. Die Politik wird also weiter daran arbeiten müssen, dass die Tätigkeit im Spital wieder attraktiver wird…

Krankenhaus Hietzing: Termin-Ambulanzen und Zentrale Notaufnahme

Den Eindruck, dass „alles ins Spital strömt“, hat auch die Ärztliche Direktorin des Krankenhauses Hietzing in Wien, Brigitte Ettl. Von den im Jahr 2015 knapp 1,4 Millionen Leistungen wurden insgesamt rund 881.000 ambulant erbracht. Vor allem in den letzten Jahren sei der Druck enorm groß geworden. Wie hat man im Krankenhaus Hietzing darauf reagiert? Dort, wo es alternative Angebote im niedergelassenen Bereich gibt, wurde reduziert. Für disponierbare Ambulanzkontakte wurde auf Termin-Ambulanzen umgestellt. Zentrale Notaufnahme-Konzepte wurden ebenso umgesetzt wie das Manchester Triage System. Und trotzdem: Es staut sich immer noch, berichtet Ettl. Wiewohl sie auch eingesteht, dass „ein Teil dieser Sogwirkung in die Ambulanzen wohl selbst erzeugt ist – wird doch den Patienten vermittelt, dass ihnen im Spital zu jeder Tages- und Nachtzeit alles in hoher Qualität zur Verfügung steht – frei nach dem Motto: Offene Türen ohne „gatekeeper“. Ettl hält es für „legitim“, darüber nachzudenken, ob manche Patienten nicht beim Hausarzt oder niedergelassenen Facharzt besser aufgehoben wären. Denn: „Das Ganze können wir nicht mehr schaffen.“

Ambulante Versorgung in Deutschland

Die ambulante Versorgung sei „ein schwieriges Thema“, gestand Armin Ehl, Hauptgeschäftsführer des Marburger Bundes, dem Verband der angestellten und beamteten Ärzte in Deutschland, ein. In Deutschland gibt es rund 140.000 niedergelassene Ärzte und in den rund 2.000 Krankenhäusern rund 180.000 angestellte Ärzte. Ehl zur aktuellen Situation der Spitalsambulanzen in Deutschland: „Man geht nicht erst zum niedergelassenen Arzt, sondern man geht in die Ambulanz. Und das nicht nur nach 20Uhr, sondern zunehmend tagsüber.“ Es gehe darum, Übergänge zwischen dem niedergelassenen und dem Spitals-Bereich zu schaffen – und auch für eine entsprechende Vergütung zu sorgen.

Als Beispiel führte er die ambulante Notfallversorgung an. Von den rund 20 Millionen Notfallpatienten im Krankenhaus werden rund 60 Prozent ambulant versorgt, 40 Prozent im stationären Bereich. Die Kosten pro Fall betragen zwischen 120 und 126 Euro (für einen Patienten der GKV = Gesetzliche Krankenversicherung). Davon entfallen rund 80 Prozent auf die Notaufnahme selbst, 13 Prozent werden für radiologische Untersuchungen aufgewendet, fünf Prozent für das Labor. Der Erlös für das Krankenhaus pro Fall beträgt 32 Euro (GKV-Patient). Ehl dazu: „Das entspricht dem, was der niedergelassene Arzt für die Betreuung bekommt.“ Damit entsteht pro Fall ein Defizit von 88 Euro. Die Abhilfe? Im Krankenhausstrukturgesetz wurde die Schaffung von vertragsärztlichen Notdienstpraxen – sogenannten Portalpraxen – an Kliniken beschlossen. Dort wird entschieden, ob ein Patient stationär aufgenommen werden muss oder nach der gesundheitlichen Stabilisierung zurück an den Hausarzt verwiesen werden kann. Fazit von Ehl: „Alle Akteure sind unzufrieden“. Die Lage sei unübersichtlich, es werde uneinheitlich vergütet.

Rechtliche Situation in Österreich

Das Gesundheitswesen in Österreich steckt in einem sehr engen rechtlichen Korsett. Die Kompetenzen für die Gesetzgebung, aber auch die Verwaltung von Angelegenheiten des Gesundheits-, Krankenanstalten- und Sozialwesens sind äußerst komplex und zwischen den unterschiedlichen Körperschaften Bund/Ländern/Gemeinden/Sozialversicherung aufgeteilt. Dies führe zu zahlreichen Kompetenzkonflikten und Abgrenzungsproblemen sowie unterschiedlichen Finanzierungen, erklärte ÖÄK-Juristin Renate Wagner Kreimer. Beispielsweise obliegt die Gesetzgebung für das Krankenanstaltenwesen in den Grundsätzen dem Bund und in den Ausführungsgesetzen und der Vollziehung den Ländern. So gibt es in Österreich nicht nur ein, sondern zehn Krankenanstaltengesetze. Das österreichische Spitalswesen arbeitet eng mit dem Rettungswesen, mit Alten- und Pflegeinstitutionen, Rehabilitationseinrichtungen, niedergelassenen Ärzten und vielen weiteren Stellen zusammen, für die wiederum (zum Teil) andere, jedenfalls spezielle rechtliche Rahmenbedingungen gelten. Dadurch entsteht eine äußerst inhomogene Gesundheitsversorgung mit zahlreichen Schnittstellenproblemen. Zudem stehen Ärzte auf Grund der Vielfalt und kasuistischen Bestimmungen in den Gesundheitsberufegesetzen oftmals vor der Frage, welche Tätigkeit an wen delegiert werden kann beziehungsweise delegiert werden darf. Diese rechtliche Ausgangslage wirke permanent als Hemmschuh, nicht nur für das Gesundheitssystem in Österreich, sondern auch für eine optimale individuelle Krankenbehandlung, so Wagner Kreimer.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 10 / 25.05.2016