Im Gespräch Sabine Haag: Die Patienten werden mündiger

10.06.2016 | Politik

Das Kunsthistorische Museum und dessen Kreativ-Atelier werden auch von Ärztinnen und Ärzten als besonderer Ort für Fortbildung und Auseinandersetzung genutzt. Die Generaldirektorin des KHM-Museumsverbandes, Sabine Haag, erläutert im Gespräch mit Claus Reitan die Qualität der Kunst und ihre Sicht auf Gesundheit und das Gesundheitswesen.

ÖÄZ: Das Kunsthistorische Museum hütet in seinem Inneren zeitlos wertvolle Schätze der Kunst. Außen um das Haus herrschen hingegen wechselnde Bilderflut und rasende Beschleunigung. Ist unsere Gegenwart krank, macht sie krank?
Haag: Sie erfordert sicherlich einen bewussteren Umgang mit Zeit. Die verfügbare Zeit gehört zu unseren kostbarsten Gütern, denn sie hat durch die Technik und die Globalisierung eine neue Qualität bekommen. Ständig sind wird mit einer Flut an Informationen und Bildern konfrontiert, permanent sind wir eingebunden in Beobachtung und in Austausch, etwa durch den Mailverkehr. Der Rhythmus des Alltags hat sich gesteigert, die Zeit wird als schneller ablaufend empfunden. Andererseits hat sich die Welt geöffnet, es werden Netzwerke geknüpft und unser Wissen wird erweitert. Wir lernen gerade, damit umzugehen.

Unsere Gegenwart ist getrieben von neuer Technik und geprägt von Kritiklosigkeit gegenüber dieser Technik. Diese Umstände liegen diametral entgegengesetzt zu Kunst und Kultur, namentlich jener dieses Hauses.
Vor allem in der Undifferenziertheit der Betrachtungsweise. Kunst und Kultur sind eigenständige Werte, sie erfordern eine gänzlich andere Art der Aufmerksamkeit. Jedes Museum, insbesondere das Kunsthistorische, ist für die Besucher eine Einladung und eine Herausforderung, sich Zeit nehmen, sich zu entschleunigen, zu versenken und in einen Dialog einzutreten, dessen Geschwindigkeit nicht von äußeren Umständen bestimmt wird. Die Motive für die Befassung mit Kunst sind vielfältig. Sie können darin liegen, dem Alltag etwas an Hektik zu nehmen oder Schönheit zu erschließen, Wissen zu erweitern und Neugierde zu stillen oder mit anderen Menschen ein Erlebnis zu teilen. Aus Kunstwerken lässt sich Kraft schöpfen. Wir versuchen, das zu vermitteln.

Ein Museum als ein Ort, dem Treiben der Stadt etwas an Tempo zu nehmen?

Absolut – es ist ein Angebot für jede und jeden, welches letztlich mit Wohlbefinden zu tun hat. Das ist nicht mit Wellness zu verwechseln. Es ist ein kleiner Ausstieg aus dem Alltag.

Der Schritt ins Museum als einer vom Sehen zum Erkennen? Für alle, für Ärztinnen und Ärzte ebenso?
Vielen ist das bewusst, doch manche Besucher sind sichtlich überrascht, was mit ihnen passiert, wenn sie Originale sehen und erleben: dass Erkenntnisse ausgelöst werden, nicht nur rein intellektueller Natur. Die Befassung mit Kunstwerken verändert uns stets ein wenig. Es macht uns nicht umgehend zu besseren Menschen, aber es öffnet uns und zeigt, worauf wir unsere Aufmerksamkeit lenken. Wer in einer aufgewühlten, aggressiven Stimmung die Gemälde betrachtet, richtet den Blick eher auf die Szenen von Krieg und Gewalt. Die Aufmerksamkeit von Paaren oder von verliebten Personen hingegen widmet sich eher den gefühlsbetonten, erotischen Darstellungen. Der Dialog mit einem Kunstwerk ist sehr, wirklich sehr subjektiv, so wie Künstler sehr subjektiv gestalten. Kunstwerke zu betrachten bedeutet auch, loszulassen und sich einzulassen auf die Rezeption von Kunst. Es ist entspannend und setzt Energie frei. Das Ambiente des Kunsthistorischen ist in dieser Hinsicht sehr förderlich, im Haus werden etwa die Fortbildungsreihe ‘Medizin im Museum‘ und einige Workshops für Ärztinnen und Ärzte abgehalten. Angehörige des Faches Plastische Chirurgie beispielsweise befassen sich zuerst im Saal und dann im Kreativ-Atelier mit Porträts und mit Schönheit.

Apropos Mediziner: Welches Bild zeigt sich Ihnen, wenn Sie auf das Gesundheitswesen und die Ärzteschaft blicken? Die einen sprechen von einer wachsenden Branche, die anderen von Reparaturmedizin.
Gesundheit hat einen hohen Stellenwert im Leben, nicht zuletzt wegen der steigenden Lebenserwartung. Patienten wissen mehr, sie werden mündiger. Die Götter in Weiß herrschen nicht mehr unbeschränkt. Die Wahrnehmung ist nach wie vor von einem Zwei-Klassen-System geprägt, das jedoch zunehmend kritisch hinterfragt wird. Die Mediziner und die im Gesundheitswesen tätigen Personen sind gefordert, mit den Patienten in das kritische Gespräch einzutreten. Sie sollen das Herrschaftswissen nicht für sich beanspruchen, sondern Antworten und Argumente auf gestellte Fragen bieten. Informierte Patienten nehmen nicht nur Verschreibungen entgegen, sie hinterfragen einiges kritisch. Der Einzelne will seine Gesundheit stärker positiv bestimmen und erwartet sich, darin vom Gesundheitswesen unterstützt zu werden. Andererseits ist es für Patienten mit einem guten Vertrauensverhältnis zum jeweiligen Arzt sehr angenehm, sich fallen zu lassen.

Was ist denn das Gesündeste an Ihrem Leben?
Das sind einerseits Personen und andererseits Umstände, die ich mir schaffe, weil sie mir gut tun, die also Wohlbefinden auslösen, die mich entspannen und fröhlich machen. Grüner Tee wurde mir zu einem Grundnahrungsmittel. Ich brauche, wie jeder, Ausgleich und daher Bewegung. Ich bin leidenschaftliche Skifahrerin und gehe sehr gerne auf den Berg. Beim Tourengehen spüre ich jeden Höhenmeter, wie es mir gut tut. Und natürlich gehört dazu, mit meiner Familie zusammen zu sein – oder gelegentlich alleine zu sein. Es ist die Balance, die Gesundheit ausmacht.

Nochmals zum Kunsthistorischen und dem gerade hier so klaren Blick auf Geschichte und auf Zeitläufe. Heilt die Zeit alle Wunden?
Die Zeit macht die Wunden kleiner, definitiv. Aus zeitlicher Distanz betrachtet stellt sich vieles anders dar. Dieser Abstand kann zu einer Heilung beitragen, es muss aber nicht so sein. Von manchen Wunden bleiben wulstige Narben, von anderen hingegen nur feine, kaum wahrnehmbare Striche. Es hat mit dem Prozess der Gesundung zu tun, wie sehr ich mich als Person mit erlittenen Verletzungen befasse. Man hat es in der Hand, das ständig mit sich zu tragen oder loszulassen.

Künstler ihrerseits haben es in der Hand, ob sie ein Bild der Verletzung oder der Heilung anfertigen.
Darin liegen die Subjektivität und die Emotionalität von Kunst. In jedem Kunstwerk äußert sich Individualität: zuerst jene des Künstlers, dann im Dialog mit dem Werk jene des Betrachters. Daraus entsteht, was Kunst aus uns macht. Darin liegt, wie ich meine, ihre Qualität.

Zur Person

Dr. Sabine Haag ist seit 2009 Generaldirektorin des KHM-Museumsverbandes (Kunsthistorisches Museum, Weltmuseum Wien, Kaiserliche Schatzkammer Wien, Kaiserliche Wagenburg Wien, Schloss Ambras Innsbruck, Theatermuseum). Sie hatte in Innsbruck und in Wien Anglistik, Amerikanistik und Kunstgeschichte studiert, 1995 promoviert. Das KHM zählt zu den größten und bedeutendsten Museen der Welt. Der Impact-Studie von 2014 zufolge beschäftigt der KHM-Museumsverband 728 Personen und erzielte eine Wertschöpfung von 26 Millionen Euro; durch indirekte und induzierte Effekte insgesamt eine von 42 Millionen Euro. Die von der öffentlichen Hand bereit gestellte Leistungsabgeltung kommt dem österreichischen BIP somit 1,8 mal zugute.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 11 / 10.06.2016