Gesundheitssystem: In der Krise

10.10.2016 | Politik

Die Krise im Spitalsbereich könnte auf den niedergelassenen Bereich übergreifen und so das Gesundheitssystem insgesamt in Gefahr bringen, sagt der Bundesobmann der niedergelassenen Ärzte, Johannes Steinhart. Von Agnes M. Mühlgassner

Die aktuelle Krise in den Spitälern des Wiener Krankenanstaltenverbundes (KAV) sei lediglich ein Symptom dafür, dass es im Gesundheitssystem „an allen Ecken und Enden bröselt“, erklärte Johannes Steinhart, Kurienobmann der niedergelassenen Ärzte in der ÖÄK, kürzlich vor Journalisten. „Die Patienten merken, dass wir in eine der spürbarsten Krisen des Gesundheitswesens hineinrutschen.“ Dass die Situation mehr als brenzlig ist, lässt sich auch daran erkennen, dass beispielsweise erst kürzlich die Tageszeitung „Kurier“, die deutsche „Die Zeit“ und auch das Magazin „Profil“ ins gleiche Horn stoßen und den Notstand ausrufen. Doch die Politik zieht nicht die richtigen Konsequenzen daraus. Durch die Entscheidung der Wiener Politik, die vorhandenen Übergangsbestimmungen nicht anzuwenden, komme es – zusammen mit de facto-Aufnahmestopps und Überstundenverboten – zunehmend zu längeren Wartezeiten, was sich gleichermaßen in den Spitalsambulanzen zeige als auch bei immer längeren Wartezeiten auf Operationen. Steinhart weiter: „Die Probleme sind nicht neu“, wie er ausdrücklich betont. Sie seien schon lange vorhanden, die ÖÄK hätte immer wieder darauf aufmerksam gemacht – jedoch sei von Seiten der Politik jegliche Reaktion oder gar Lösung ausgeblieben. Und nun, nachdem die Situation in den Wiener Spitälern an einem kritischen Punkt angelangt sei, die Ärzte bereit waren, auf die Straße zu gehen, nun drohe dies auch auf den niedergelassenen Bereich überzuschwappen.

Die konsequente Ausdünnung der Versorgung mit niedergelassenen Kassenärzten trägt zur Verschärfung der Situation bei: Derzeit haben in etwa so viele niedergelassene Ärzte (es sind 8.165) einen Vertrag wie im Jahr 1999 – und das, obwohl rund 700.000 Menschen mehr zu versorgen seien. „Die Bereitschaft der niedergelassenen Ärzte, diese Versorgung zu übernehmen, ist vorhanden“, betonte Steinhart neuerlich. Allerdings: Man müsste sie nur lassen und rasch die fehlenden rund 1.400 Kassenstellen schaffen. Aber auch die Rahmenbedingungen – Stichwort Deckelungen, Degressionen, chefärztliche Bewilligungen etc. – müssten rasch verbessert werden.

Angesichts des großen Patientenandrangs in den Ordinationen bliebe den Menschen vielfach nichts anderes übrig, als in den wahlärztlichen Bereich auszuweichen. Der Vorschlag des Hauptverbandes, Nebenbeschäftigungen von Ärzten verbieten zu wollen, sei jedenfalls „entbehrlich“. Denn genau diese Wahlärzte seien es nämlich, die das System – allen Widrigkeiten zum Trotz – aufrechterhalten. Dass sich der Hauptverband außerdem so gerne als „Zahler“ bezeichnet, stößt Steinhart ganz besonders auf: „Zahler sind immer noch die Bürgerinnen und Bürger. Der Hauptverband ist nur Verwalter.“ Insgesamt sei es an der Zeit, diese Organisation überhaupt ernsthaft zu hinterfragen. Dazu sollten auch die Bürgerinnen und Bürger befragt werden. Sie sollen entscheiden, was mit ihren Versichertengeldern passieren soll: „Das Bezahlen einer aufgeblasenen Bürokratie oder eine ausreichende medizinische Versorgung“, schlägt Steinhart vor. Was dem Kurienobmann darüber hinaus Sorgen bereitet: der sich mit geradezu „beängstigender Geschwindigkeit“ abzeichnende Ärztemangel. So wird im Jahr 2030 nur noch die Hälfte der jetzigen niedergelassenen Ärzte aktiv sein.

Weitere „offene“ Baustellen: ELGA mit den nach wie vor ungeklärten Fragen der Usability, Finanzierung sowie des Datenschutzes. „Mystery Shopping“ bezeichnet Steinhart als „Katastrophe“ – greift sie doch unmittelbar in das Arzt-Patienten-Verhältnis ein. Auch bei der Primärversorgung sei man noch immer nicht zu sinnvollen Lösungen gekommen. All die Bewilligungs- und Kontrollsysteme in den Ordinationen abzuschaffen könnte nicht nur viel Zeit und Geld einsparen, sondern den Ärztinnen und Ärzten wieder die Zeit geben, sich ihren Patienten zu widmen. „Das alles trägt nicht zur Attraktivierung des Berufs Kassenarzt bei – im Gegenteil: Die Jungen zeigen dem System die kalte Schulter.“ Fazit von Steinhart: Der Orientierungslosigkeit im Gesundheitswesen muss endlich Einhalt geboten werden.

Wien: aktuelle Entwicklungen

Inzwischen hat es bereits ein Gespräch des Präsidiums der Wiener Ärztekammer mit der Wiener Gesundheitsstadträtin Sonja Wehsely (S) sowie der Obfrau der Wiener Gebietskrankenkasse, Ingrid Reischl gegeben, um aktuelle Probleme im niedergelassenen Bereich zu besprechen. Der Kurienobmann der niedergelassenen Ärzte der Ärztekammer Wien, Johannes Steinhart, hat dabei ein „10-Punkte-Programm“ präsentiert. Dieses beinhaltet u.a.

  1. 300 zusätzliche Kassenfachärzte in Wien, unmittelbare Ausschreibung der offenen Gruppenpraxisansuchen, Schaffung von 100 zusätzlichen Kassenplanstellen bis Ende 2016, von weiteren 200 bis Ende 2018.
  2. Kein Ersatz freiberuflicher Ärzte durch Großkonzerne als Praxisbetreiber und keine Auflösung des Gesamtvertrages (= Kollektivvertrag) durch das PHC-Gesetz.
  3. Ausbau des Ärztefunkdienstes (zum Beispiel Spezialprojekte wie TEWEB sollen ökonomisch sinnvoll und medizinisch qualitativ hochstehend im Ärztefunkdienst umgesetzt werden).
  4. Rücknahme der Richtlinie zum Mystery Shopping.
  5. Aufhebung sämtlicher ärztlicher Leistungsdeckelungen in Kassenordinationen, um bereits aufgetretene Engpässe und lange Wartezeiten zu vermeiden.
  6. Stärkung der Hausärzte in der Versorgung – Umsetzung des Wiener Modells, das eine Vernetzung und Leistungsausweitung der Allgemeinmedizin vorsieht.
  7. Alle EDV-Anwendungen (ELGA, e-Medikation, etc.) müssen Userfreundlich und voll von der öffentlichen Hand finanziert werden.
  8. Ausbildungsoffensive, um dem drohenden Ärztemangel zu begegnen (zum Beispiel Finanzierung der Lehrpraxis, mehr Studienplätze).
  9. Entbürokratisierung der Ordinationen (zum Beispiel Abschaffung von ABS).
  10. Modernisierung des Leistungsspektrums des Kassenvertrages (Aufnahme neuer Fachgebiete wie Nuklearmedizin, Onkologie, Schmerztherapie und Strahlentherapie. Das radiologische Schnittbild MR, CT sollte in den ärztlichen Gesamtvertrag integriert werden).

An einem Punkt waren sich die drei Verhandlungspartner – trotz aller Unterschiede im Detail – grundsätzlich einig, zeigt sich Steinhart erfreut: „Wien braucht den Ausbau des niedergelassenen Bereichs – und das ganz ohne Tabuthemen, also endlich auch Gespräche über die Schaffung neuer Fachgebiete im niedergelassenen Kassenbereich wie Onkologie, Nuklearmedizin und Strahlentherapie.“

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 19 / 10.10.2016