Akuter und chronischer Schmerz: Therapie kontrollieren

10.04.2016 | Medizin

Neben der Schmerzlokalisation und Ermittlung der Intensität ist die Erhebung der Schmerzcharakteristik wesentlich, um zwischen nozizeptivem und neuropathischem Schmerz oder einer Kombination aus beidem unterscheiden zu können. Bei der Therapie sind regelmäßige Kontrollen unerlässlich, um Dosierungsfehler rasch zu ermitteln. Von Marlene Weinzierl

Die ausführliche Schmerzanamnese ist von zentraler Bedeutung, wie Univ. Prof. Rudolf Likar vom Zentrum für Interdisziplinäre Schmerztherapie und Palliativmedizin (ZISOP) im Klinikum Klagenfurt sowie Univ. Prof. Andreas Schlager von der Schmerzambulanz der Universitätsklinik für Anästhesie und Allgemeine Intensivmedizin Innsbruck betonen. Jedoch: „Erfahrungsgemäß scheitert es meist am Zeitmangel, ein richtiges Anamnesegespräch zu führen, um die korrekte Schmerzdiagnostik stellen und in weiterer Folge die passende Therapie anbieten zu können“, weiß Schlager aus der Praxis. So komme es häufig vor, dass bei Schmerzen im Arm fälschlicherweise über Wochen hinweg Medikamente gegen Nervenschmerzen verschrieben werden, obwohl der Schmerz vom Schultergelenk ausgeht. Umgekehrt passiere es, dass Patienten mit starken Nervenschmerzen aufgrund von Herpes zoster Nichtopioid- Analgetika erhalten. Schlager dazu: „Ärzte scheuen oftmals zu lange davor zurück, Opiate mit entsprechenden Ko-Analgetika zu verordnen.“ Andere wiederum bekämen Opiate verschrieben, obwohl sie gar nicht indiziert seien.

Voranamnese beachten

Der Patient sollte daher gefragt werden, woher die Schmerzen kommen und wie sie beeinträchtigen, sind sich die Experten einig. „Wichtig ist es dabei, zu eruieren, ob die Schmerzen erstmalig auftreten, regelmäßig vorhanden sind oder ob es sich um eine Schmerzverstärkung handelt“, betont Schlager. Beachtet werden sollte auch die Voranamnese. Immer wieder komme es vor, dass Patienten von einem orthopädischen Kollegen bereits ein Medikament verordnet bekommen haben und der aktuell behandelnde Arzt – weil er von der ersten Verordnung nichts weiß – zusätzlich ein nicht-steroidales Medikament verschreibt, sagt Univ. Prof. Sabine Sator-Katzenschlager von der Ambulanz für Schmerztherapie der MedUni Wien. Dies ist ein Eindruck, den Schlager teilt: „Patienten nehmen häufig mehrere nicht-steroidale Antirheumatika parallel ein. Das ist neben der fehlenden Zeit eine Folge dessen, dass zu wenige Arztbriefe gelesen werden.“ Er sieht darin eine massive Verschlechterung der Schmerztherapie bis hin zur Gefahr, dass verstärkt Nebenwirkungen und Komplikationen aufgrund von Überdosierung oder Unverträglichkeiten auftreten. Zur Anamnese-Erhebung gehöre für ihn daher auch, die Patienten zu befragen, was sie bisher gegen ihre Schmerzen getan haben (Stichwort: Hausapotheke). Neue Patienten wiederum sollten hinsichtlich Vorbehandlungen und Vorerkrankungen beziehungsweise Verletzungen in früheren Jahren befragt werden: Gab es im Falle von Rückenschmerzen bereits Bandscheibenvorfälle? Stehen die Schmerzen mit einer Tumorerkrankung in Zusammenhang oder leidet der Patient an Osteoporose?

Fragebögen: Informationsgewinn

Eine gängige Praxis in Schmerzzentren sei die Verwendung von kategorisierten Schmerzfragebögen, die der Patient im Idealfall vorab im Wartezimmer ausfüllen kann. „Das bedeutet Informationsgewinn bei geringerem Zeitaufwand“, weiß Schlager aus Erfahrung. Grundsätzlich müsse man immer zwischen Akutschmerz und chronischem Schmerz unterscheiden, sagt Likar: Während der Akutschmerz oft mit einem Medikament, einer Infusion oder einer Blockade behoben werden könne, gingen chronische Schmerzen meistens mit psychischen und sozialen Beeinträchtigungen einher, für die es spezielle Therapiepakete benötige. Generell dürfe man die Psyche bei der Anamnese nicht außer Acht lassen, merkt Sator- Katzenschlager an. Oftmals liegen somatoforme Schmerzstörungen vor, die auf keinen Fall mit einem Basisprogramm der WHO-Stufe I in Kombination mit Stufe II behandelt werden dürfen, sondern mit Adjuvantien in einem multimodalen Setting. Andere chronische Schmerzerkrankungen beziehungsweise Tumorschmerzen hingegen sollten mit einem Basisprogramm begonnen werden. Sator-Katzenschlager: „Primär geht es einmal darum, eine Basiseinstellung vorzunehmen. Erst wenn der Erfolg ausbleibt, sollte an einen Spezialisten verwiesen werden. Die therapeutischen Möglichkeiten selbst hängen unter anderem von der Schmerzintensität und Schmerzakutität ab, betont Schlager. Regelmäßige Kontrollen der Therapie seien „unerlässlich“, wie Schlager betont. „Ich erlebe immer wieder, dass Kontrollintervalle etwa bei Opiatpatienten zu gering sind oder dass bei Tumorpatienten die Opiatdosis zu niedrig ist.“ Bei der Schmerzbehandlung von Kindern und Senioren gilt es, einige Kriterien zu beachten. Die meisten Medikamente seien für Kinder „off-label“, wodurch es unter anderem von der Erfahrung des Arztes abhängt, welche Therapie er wählt, meint Sator-Katzenschlager. Für Kinder zugelassenen Medikamenten sollte nach Möglichkeit der Vorzug gegeben werden. Laut Schlager sind beispielsweise Paracetamol, Metamizol, Naproxen-Saft und Ibuprofen-Sirup für Kleinkinder Optionen, während die meisten nicht-steroidalen Antirheumatika und Opioide je nach Substanz erst im höheren Alter zugelassen sind oder gänzlich wegfallen.

Likar weist darauf hin, dass die Dosierung der Medikamente jedenfalls dem Körpergewicht angeglichen werden muss. Je nach Alter des Kindes sollte die Schmerzeinschätzung auch in diesem Fall vom Patienten selbst kommen und die Behandlung möglichst zügig voranschreiten, so Schlager. „Auch bei Kindern sollte man die Möglickeit einer psychosomatischen Erkrankung nicht übersehen“, unterstreicht Sator-Katzenschlager. Dies könnte sich etwa in chronischen Kopfschmerzen bemerkbar machen.

Organdysfunktionen beachten

Bei älteren Personen müssen zunächst die Organdysfunktionen beachtet werden, erklären die Experten. Geriatrische Patienten hätten meist eine eingeschränkte Nierenfunktion. Hier ein nicht-steroidales Antirheumatikum oder COX2-Hemmer als Infusion zu verabreichen, bezeichnet Schlager als „fatal“. Gleiches gilt für Komorbiditäten des Magen-Darm-Trakts und des Herzens. Lebererkrankungen und pulmonale Beeinträchtigungen kommen als Begleiterkrankungen oft hinzu. Sator-Katzenschlager empfiehlt, die Blutbefunde genau zu betrachten und auf mögliche Interaktionen der verordneten Medikamente zu achten. „Fehleinstellungen passieren vor allem bei Medikation in der WHO-Stufe I“, weiß Sator-Katzenschlager. Bei älteren Personen gilt laut Schlager der Grundsatz: „Start low and go slow“ – beginnend mit einer niedrigen Dosierung der Anfangsmedikation sollte die Dosis nur langsam gesteigert und bei Bedarf reduziert werden. Viele Präparate – vor allem Opiate – sollten bei über 70-Jährigen vorsichtig und niedriger dosiert werden. Als ergänzende oder alternative Behandlungsmethoden kommt – speziell beim chronischen Schmerz – eine Reihe von komplementärmedizinischen Verfahren infrage, so die Experten. Die physikalische Therapie mit Haltungstraining, Kälte-Wärme-Anwendung, Elektrotherapie etc. sei bei Patienten mit Schmerzen im Bewegungsapparat angezeigt, berichtet Schlager.

Die meisten dieser Patienten leiden an Beschwerden der Wirbelsäule, die sich durch Bewegung und Kräftigung der Rücken- und Bauchmuskulatur sowie durch Beckenbodentraining mildern lassen. Transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) kann – so Schlager – nicht nur bei Schmerzen des Bewegungsapparates sondern auch bei Muskel- und teilweise bei Nervenschmerzen eingesetzt werden. Die Akupunktur stellt eine weitere Möglichkeit der Unterstützung dar. „Bei manchen Patienten sind psychologische Unterstützung und Verhaltenstherapie sinnvoller als alles andere“, weiß Sator-Katzenschlager aus Erfahrung.

Tipp: www.schmerznetz.at

Grundregeln der Schmerztherapie

  • regelmäßige Einnahme nach einem fixen Zeitschema
  • individuelle Dosierung
  • kontrollierte Dosisanpassung
  • Antizipation (nächste Medikamentengabe muss erfolgen, bevor der schmerzstillende Effekt der vorangegangenen Applikation aufgebraucht ist); das löscht Erinnerung und Furcht vor dem Schmerz aus.
  • Prophylaxe von Nebenwirkungen

Quelle: Univ. Prof. Sabine Sator-Katzenschlager

Standardfehler in der Schmerztherapie

  • Verschreiben nach Bedarf
  • Standarddosierung
  • zu schwaches Analgetikum
  • Unterschätzung der Schmerzintensität
  • Angst vor Sucht-Erzeugung durch Vorurteile gegenüber Opioiden
  • unzureichender Einsatz von Begleitmedikamenten
  • i.m.- oder i.v.-Applikation, wenn oral möglich

Quelle: Univ. Prof. Sabine Sator-Katzenschlager

Schmerzanamnese

Bei der Erhebung der Schmerzanamnese ist Folgendes zu beachten:

  1. Schmerzlokalisation: Maximum des Schmerzes, ausstrahlend
  2. Schmerzdauer: Dauerschmerz, intermittierend
  3. Schmerzverlauf: plötzlicher Beginn, schleichend
  4. Qualität des Schmerzes: stechend, pochend, bohrend, einschießend, kribbelnd, brennend, u.a.
  5. Schmerzintensität: 0-10 (0 = kein Schmerz – 10 = maximaler Schmerz) nach NAS (numerische Analog-Skala), VAS (visuelle Analogskala) und VRS (verbale Rating-Skala)
  6. Begleitsymptome: Übelkeit, Erbrechen (Migräne), Schlaflosigkeit beziehungsweise Schlafstörungen (Polyneuropathien, Tumorschmerzen)
  7. Verhalten beim Schmerz: zum Beispiel Schonhaltung
  8. Bisherige Therapie: medikamentös und nicht-medikamentös
  9. Persönliche Entwicklung: biographische Anamnese
  10. Krankheitskonzept: Vorstellungen des Patienten von der Entstehung seines Schmerzes und mögliche Therapiekonzepte
  11. Fremdanamnese

Quelle: Univ. Prof. Sabine Sator-Katzenschlager

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 7 / 10.04.2016