Raupendermatitis: Kleine Haare mit großer Wirkung

10.06.2016 | Medizin

Die Raupen des Eichenprozessionsspinners können vor allem von Ende April bis Ende Juni für Mensch und Tier unangenehme Folgen haben. Ursache sind Setae, spezielle Brennhaare. Da deren Gift mehr als sieben Jahre aktiv bleibt, können Symptome auch außerhalb der klassischen Periode auftreten. Vor allem nach warmen, trockenen Wintern sind die Raupen des Eichenprozessionsspinners auf manchen Eichen zu finden. Von Irene Mlekusch

Ausflüge und Arbeiten im Wald, in Parkanlagen oder im Garten können vor allem in der Zeit von Ende April bis Ende Juni für Mensch und Tier unangenehme Folgen haben. In Zentraleuropa entwickeln sich in dieser Zeit die Raupen des Eichenprozessionsspinners. „Das Tier macht einen Entwicklungszyklus mit fünf bis sechs Larvenstadien durch“, erklärt Univ. Prof. Harald Maier von der Universitätsklinik für Dermatologie der MedUni Wien. Witterungsabhängig schlüpfen die Larven des vierten Stadiums Ende April bis Mitte Mai, wobei die Raupen ab dem vierten Larvenstadium mit mikroskopisch kleinen Brennhaaren, sogenannten Setae, bewehrt sind. Jedes Individuum hat viele Tausende dieser Setae, die bei leichten Berührungen oder durch die Luftströmung abgebrochen werden. Diese speziellen Brenn- oder Gifthaare enthalten zur Abwehr von Freßfeinden das Eiweißgift Thaumetopoein. „Dieses Protein kann die Mastzellen der Haut zum degranulieren bringen. Das führt wiederum zur Ausschüttung von Histamin und zur Ausbildung von Quaddeln“, berichtet Univ. Prof. Tamara Kopp, Dermatologin in Wien. Vor allem nach warmen, trockenen Wintern finden sich die Raupen des Eichenprozessionsspinners auf manchen Eichen. Auch andere Raupen- beziehungsweise Schmetterlingsarten bedienen sich dieser Form der Verteidigung, wobei in Europa – abgesehen vom Eichenprozessionsspinner – auch die Haare der Pinien- und Kieferprozessionsspinner sowohl zu Haut- als auch zu systemischen Reaktionen führen können.

Systemische Erkrankung: Lepidopterismus

Unter dem Begriff Lepidopterismus versteht man eine systemische Erkrankung, welche durch direkten Kontakt mit Raupen oder deren Setae, aber auch durch Luftübertragung derselben ausgelöst wird. Die aerogene Übertragung kommt laut Maier viel häufiger vor; vermutlich können die Setae mehrere 100 Meter weit mit dem Wind vertragen werden. Zum Krankheitsbild gehören Urtikaria, Kopfschmerzen, Konjunktivitis, Pharyngitis, Müdigkeit, Übelkeit, Schwindelgefühl oder Fieber, bis hin zu Bronchospasmus mit entsprechender Dyspnoe. Aufgrund der Verbreitung der Gifthaare durch die Luft geht Maier von einer großen Risikopopulation um ein Befallsgebiet (EPS-Biotop) aus. „Wie hoch der Anteil der Bevölkerung ist, bei denen Symptome von Lepidopterismus auftreten, wird derzeit von einer von mir geleiteten Arbeitsgruppe in einer epidemiologischen Studie untersucht.“ Diese wissenschaftliche Untersuchung ist Teil eines umfassenden Forschungsprojekts, mit dessen Durchführung Maier vom Deutschen Umweltbundesamt betraut wurde.

Österreich: kaum schwere Zwischenfälle

Aus den Niederlanden ist sogar der Fall eines anaphylaktischen Schocks durch den Kontakt mit Eichenprozessionsspinnern bekannt. Derart heftige Auswirkungen wurden nach Auskunft von Univ. Prof. Norbert Reider von der Allergieambulanz der Universitätsklinik für Dermatologie und Venerologie in Innsbruck, in Österreich noch nicht beobachtet. Praktisch kaum Berichte über schwere Zwischenfälle im Zusammenhang mit dem Eichenprozessionsspinner sind auch Maier bekannt. „Das Auftreten eines allergischen Schocks setzt das Vorhandensein einer echten Typ I-Reaktion voraus, wie sie der mit dem Eichenprozessionsspinner verwandte Pinienprozessionsspinner, der in Südeuropa sehr weit verbreitet ist, sehr wohl hervorruft.“

Während der Raupensaison sieht Kopp pro Jahr fünf bis zehn Patienten mit Kontaktdermatitis und manchmal auch allgemeinem Krankheitsgefühl, Konjunktivitis, Bronchitis und asthmaartigen Beschwerden. „Meist sind zur gleichen Zeit Epidemie-artig mehrere Menschen betroffen. Manchmal kommen ganze Familien zur Untersuchung“, so Kopp. Im Jahr 2003 wurde in Wien eine Epidemie durch eine Massenvermehrung des Eichenprozessionsspinners von Maier et al. untersucht. Ein Großteil der Menschen, die im Umkreis von 500 Metern der befallenen Bäume lebten, berichtete über Pruritus und Dermatitis. Etwa 14 Prozent der Betroffenen klagten über Konjunktivitis und Pharyngitis; ein äußerst geringer Anteil über eine respiratorische Beeinträchtigung. Maier zufolge gaben die Probanden an, dass die Beschwerden von Jahr zu Jahr geringer ausgefallen wären, also eine Art Gewöhnungseffekt eintrat. Trotzdem muss diese Frage sehr ernst genommen werden, da in Zeiten der Massenvermehrung der Eichenprozessionsspinner ein weit verbreitetes Problem darstellt. „Da das Gift der Setae über mehr als sieben Jahre aktiv bleibt, kommt es auch zum Auftreten von Krankheitsfällen außerhalb der klassischen Giftraupenperiode beispielsweise beim Spielen unter befallenen Eichenbäumen, beim Laub rechen im Herbst oder Hantieren mit kontaminiertem Feuerholz“, weiß Maier. Auch Haustiere – vor allem Hunde – können die Härchen aufstöbern und in die häusliche Umgebung verschleppen, wobei die Tiere selbst innerhalb kurzer Zeit Symptome wie Speichelfluss, Juck- und Würgereiz zeigen können. Kopp beschreibt in diesem Zusammenhang einen interessanten Fall. Ein Patient stellte sich in den Wintermonaten, nachdem er den Kamin mit Eichenholz angeheizt hatte, mit stark roten Papeln, Papulovesikeln und Quaddeln an den Innenseiten der Unterarme vor – das Brennholz war mit toxischen Härchen der Raupe kontaminiert.

Der Eichenprozessionsspinner wird als potentielle Noxe bei bestimmten Risikoberufen wie Förster, Waldarbeiter, Landwirt, Gärtner, Baumpfleger und anderen Außenberufen zu wenig beachtet. Maier fordert, Arbeitseinsätze in Befallsgebieten bei windigen Wetterlagen zu vermeiden und ausreichende Schutzkleidung. Flächendeckende Schädlingsbekämpfung mit Bioziden – unabhängig von der Befallsstärke – seien abzulehnen. Neben dem Kollateralschaden bei Nutzinsekten werde auch die Resistenzentwicklung der Schädlinge gegen die eingesetzten Mittel diskutiert.

Die Hautreaktionen stellen sich klinisch unterschiedlich dar, Maier unterscheidet zwischen drei Formen des kutanen Lepidopterismus: die Kontakt-Urtikaria, die klassische Raupendermatitis und Persistent Itchy Papules. Die häufigste Form stellt die Raupendermatitis dar; sie entspricht einer Kontaktdermatitis. Besonders die dritte Exanthemform sei für die Betroffenen besonders unangenehm: Sie setzt sich aus heftig juckenden, großen entzündlichen Knoten zusammen, die über Wochen bestehen bleiben und an Prurigoknoten erinnern.

Deren Behandlung ist langwierig und erfordert manchmal den Einsatz von systemischem Kortison und potenten Antihistaminika. „Die Strophulus-artigen, papulourtikariellen Läsionen an frei getragenen Hautarealen sind oft aufgekratzt“, beschreibt Reider. Die Reaktionen können heftig sein und treten innerhalb von zwölf Stunden nach Kontakt mit den Raupen oder Setae auf. Den ersten Hinweis auf die richtige Diagnose geben die Anamnese und die Tatsache, ob auch andere Personen betroffen sind. Auskünfte über die aktuelle Befalls-Situation kann – bei Verdacht auf Raupendermatitis – auch die Forstbehörde geben.

Differentialdiagnostisch kommen Kopp Wanzenbisse, Urtikaria, polymorphe Lichtdermatose oder auch urtikarielle Reaktionen auf multiple Mückenbisse in Frage. Im Kindesalter spielt auch der Strophulus infantum eine differentialdiagnostische Rolle. Unbehandelt ist die Raupendermatitis in der Regel auf ein bis zwei Wochen limitiert.

Eine Übertragung der Setae ins Auge findet sich bei ungefähr zehn Prozent der von Raupendermatitis betroffenen Patienten und geht mit einer akuten Konjunktivitis, Lichtscheu und Ödemen der Augenlider einher. Eine Beteiligung der Augen kann von der eigentlichen Diagnose ablenken, bedarf aber in jedem Fall einer ophthalmologischen Untersuchung, um einer Zunahme der inflammatorischen Reaktion entgegenzuwirken und Komplikationen wie Glaukom, Uveitis oder Panophthalmitis zu verhindern.

Pathogenese: dualer Mechanismus

Derzeit geht man von einem dualen pathogenetischen Mechanismus, der einerseits mechanisch, andererseits toxisch pharmakologisch abläuft, aus. „Die Haare verhaken sich mechanisch in der Haut und sind fast nicht zu entfernen“, so Reider. Maier ergänzt, dass man bis heute nicht wisse, ob es sich bei den durch die Setae verursachten Haut- und Schleimhautläsionen um echte allergische oder um toxische Reaktionen handelt. „Auch dies ist eine Fragestellung, der wir in dem Forschungsprojekt nachgehen“, berichtet Maier. Es handelt sich dabei um das erste Forschungs- und Entwicklungsvorhaben des deutschen Umweltbundesamtes, das an eine Forschungsgruppe außerhalb Deutschlands gegeben wurde. Vor allem beim europäischen Pinienprozessionsspinner wurde in vitro und in vivo eine IgE-mediierte Hypersensitivität nachgewiesen. Reider betont, dass es sich um Einzelfälle vor allem bei beruflich exponierten Menschen handelt, aufgrund der innerhalb von Minuten eintretenden Reaktion, aber auch schwerere Krankheitsverläufe möglich sind. „Im Unterschied zum Pinienprozessionsspinner, der vornehmlich in geschlossenen und damit entlegenen Pinienbeständen auftritt, befällt der Eichenprozessionsspinner einzeln stehende Bäume, Baumgruppen, Bäume in Alleen und an Waldrändern, auch im innerstädtischen Bereich“, sagt Maier, was den Eichenprozessionsspinner zu einem urbanen Gesundheitsproblem macht.

Bei Verdacht oder tatsächlichem Kontakt mit Raupen oder deren Haaren sollte möglichst bald ein vorsichtiger Kleiderwechsel sowie ein Duschbad mit Haarreinigung erfolgen. Die Kleidung sollte umgehend gewaschen und die Haut nicht gerieben oder mechanisch verletzt werden. Kalte Kompressen können erste Schwellungen und beginnenden Juckreiz mildern. Kopp empfiehlt Polidocanolhaltige Lokaltherapien und topische Glukokortikoide sowie Antihistaminika.

Für den Menschen schädliche Raupen

Weltweit sind Raupen von zwölf Schmetterlingsfamilien in der Lage, Menschen gesundheitlich zu beeinträchtigen. Die Reaktionen können von urtikarieller Dermatitis über Asthma bis hin zu Osteochondritis, Nierenversagen und intrazerebraler Blutung reichen. Schon im antiken Griechenland wusste man von Hautreaktionen, die nach dem Kontakt mit Raupen oder deren Haaren auftreten können; bereits 1848 wurde die erste wissenschaftliche Arbeit über die Raupendermatitis publiziert. In China stellt die Dendrolimiasis – eine chronische Form der Raupendermatitis durch den Kiefernspinner – ein zunehmendes Gesundheitsproblem dar. Die Pathophysiologie der Dendrolimiasis ist noch nicht vollständig geklärt. Jedoch dürfte den damit einhergehenden chronischen Knochen- und Gelenkserkrankungen eine Autoimmunreaktion zugrunde liegen. In Brasilien und Venezuela hingegen sind die Raupen von Lonomia achelous und Lonomia obliqua, Nachtfalter aus der Familie der Pfauenspinner, gefürchtet, da ihr Gift proteolytische Enzyme und gerinnungsaktivierende Faktoren enthält, welche Koagulopathien, intrazerebrale Blutungen und akutes Nierenversagen auslösen können.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 11 / 10.06.2016