Kraniale Durafisteln: Leitsymptom pulssynchroner Tinnitus

25.10.2016 | Medizin

Kraniale Durafisteln machen rund zehn bis 15 Prozent aller intrakraniellen Shunts aus. Wesentlich für die Ausprägung der klinischen Symptomatik ist allerdings die venöse Drainage. Ein pulsatiler Tinnitus liefert meist den ersten Hinweis auf eine kraniale Durafistel.Von Irene Mlekusch

Die Pathogenese der kranialen Durafistel ist bisher nicht eindeutig geklärt. Univ. Prof. Christian Czerny von der Universitätsklinik für Radiologie und Nuklearmedizin in Wien rät zur Differenzierung zwischen erworbener, posttraumatischer und angeborener Fistel. Ursächlich geht man von einer Veränderung im arteriovenösen Druckgradienten der Dura mater aus. Dementsprechend gelten venöse Hypertension, Sinusthrombosen, Schädel-Hirn-Traumata, virale Infektionen und transkranielle neurochirurgische Eingriffe als prädisponierende Faktoren. Da Frauen während einer Schwangerschaft sowie in der Menopause und Patienten mit positivem Thrombophiliebefund, Faktor V-Leiden oder Faktor-II-Mutationen ein erhöhtes Risiko für eine kraniale Durafistel aufweisen, kann man davon ausgehen, dass auch eine erhöhte systemisch-thrombotische Aktivität einen Einfluss hat.

Besonders bei Frauen

Die wenigsten AV-Fisteln im Bereich der Dura werden im frühen Lebensalter symptomatisch; diese werden zumeist als angeboren deklariert. Am häufigsten finden sich AV-Malformationen bei Frauen über 40 Jahren. Die klinische Symptomatik erreicht ihren Höhepunkt zwischen der dritten und fünften Lebensdekade. „Die im Rahmen einer kranialen Durafistel auftretenden Symptome können sich mit zunehmendem Alter verstärken“, erklärt Czerny. Die klinische Manifestation reicht dabei von völlig asymptomatisch bis zur akuten Hirnblutung. Als Leitsymptom berichten viele Betroffene von einem einseitigen pulssynchronen Ohrgeräusch. Hier sollte zunächst abgeklärt werden, ob es sich tatsächlich um einen der Herzfrequenz angepassten Tinnitus handelt. In einigen Fällen kann das Geräusch auskultatorisch objektiviert werden. Univ. Prof. Elke R. Gizewski von der Universitätsklinik für Neuro-Radiologie Innsbruck fügt unspezifische Kopfschmerzen der vielfältigen Symptompalette hinzu. Die Kopfschmerzen sind in der Regel einseitig und auf die Region, in der die Fistel lokalisiert ist, fokussiert. Je nach Lokalisation können auch okuläre Symptome wie zum Beispiel Diplopie, retinale Blutungen oder periorbitale Ödeme, fokale neurologische Defizite und epileptische Anfälle auftreten. Das Risiko für eine intrakranielle Blutung ist bei Fisteln mit einer retrograden Drainage in leptomeningeale Venen sowie einer Dilatation der venösenGefäße deutlich erhöht.

Gizewski verweist zur Klassifikation und Differenzierung „gefährlicher Fisteln“ auf die Systematik nach Cognard et al. Typ I-Fisteln nach Cognard haben aufgrund ihres physiologisch orthograden venösen Flusses eine vergleichsweise günstige Prognose bei sehr geringem Blutungsrisiko. Das Risiko für intrakranielle Blutungen steigt von Typ IIb bis IV deutlich an; bei Fisteln vom Typ V besteht zusätzlich das Risiko für spinale Komplikationen. Kommt es zu einer Veränderung der venösen Drainage, ist der Übergang in ein höheres Stadium prinzipiell jederzeit möglich. Besteht klinisch der Verdacht auf eine kraniale Durafistel, empfiehlt Gizewski zum Ausschluss beziehungsweise Nachweis einer Hirnblutung ein CT. Die Darstellung der intrakraniellen Gefäße sollte bevorzugt mit der MR-Angiografie erfolgen und im Hinblick auf dilatierte Gefäße, verdickte Dura oder Hirnparenchymveränderungen durch venöse Hypertension untersucht werden. „Letztlich ist aber bei typischer Symptomatik eine Katheterangiografie notwendig“, sagt Gizewski. Den Aussagen der Expertin zufolge ist die DSA bisher die einzige Methode, mit der sich die Gefährlichkeit einer Fistel sicher abschätzen lässt.

CT und MRT zur Verlaufskontrolle

Ein unauffälliges CT oder MRT schließen in der Phase der Erstdiagnostik eine kraniale Durafistel nicht aus, können aber sehr gut zur Verlaufskontrolle herangezogen werden. Die Duplexsonografie hat beiden Experten zufolge kaum einen Stellenwert bei der Diagnostik und Verlaufskontrolle der kranialen Durafistel. In einigen Studien wird jedoch von einer einseitigen Zunahme der diastolischen Flussgeschwindigkeit in der A. carotis externa und einer erniedrigten Pulsatilität berichtet. Czerny ergänzt, dass die Sonographie nicht geeignet ist, um Durafisteln mit geringem Shunt-Volumen auszuschließen.

Ist die AV-Malformation im Bereich der Dura einmal diagnostiziert und klassifiziert, stehen verschiedene therapeutische Optionen zur Verfügung. Da die Spontanverschlussrate der kranialen Durafisteln insgesamt eher gering ist, spielt die konservative Therapie mit medikamentöser Behandlung und Fistelkontrolle – außer bei AV-Fisteln vom Typ I – eine untergeordnete Rolle. Je nach Klassifikation der Fistel und Symptomatik des Patienten kommen mikrochirurgische Operationen, endovaskuläre Behandlung, Radiochirurgie oder eine Kombination der genannten Therapieformen zum Einsatz. „Die Indikation zur Behandlung einer kranialen Durafistel erfolgt interdisziplinär und individuell“, betont Czerny.

Größtmöglicher Erfolg: neurochirurgisch

Die neurochirurgische Behandlung der Fistel mittels vollständiger Resektion des pathologischen Areals der Dura mater, eines Clippings oder einer endoluminalen Sinusabdichtung verspricht mit oder ohne vorangehende endovaskuläre Embolisation den größtmöglichen Therapieerfolg, beinhaltet aber auch die mit einer Operation in Vollnarkose verbundenen möglichen Komplikationen. „In Innsbruck wird besonders seit der Einführung des Onyx-Embolisates wenn möglich zunächst die endovaskuläre Therapie durchgeführt“, berichtet Gizewski.

Das Ziel der endovaskulären Therapie ist entweder die vollständige Ausschaltung der Fistel beziehungsweise die Überführung in einen benigen Fistelgrad. „Eine Embolisation ist indiziert bei gefährlichen Fisteln, die ein hohes Risiko für Blutungen haben oder bei einer Fistel, die akut geblutet hat“, erklärt Gizewski. Die interventionelle Behandlung kann dabei transarteriell, transvenös oder kombiniert angewendet werden. Als Embolisationsmaterialien kommen Polyvinylalkohol, flüssige, adhäsive Agentien wie zum Beispiel Ethylen-Vinylalkohol-Copolymer, Klebstoffe wie Enbucrilat, Methacryloxysulfonal, Platinspiralen oder eher selten Ballons zum Einsatz. Für Patienten mit einer venösen Stase oder vorhergehender Thrombose des drainierenden Sinus besteht eine relative Kontraindikation für eine transvenöse Embolisation. Häufig werden die endovaskuläre oder mikrochirurgische Therapie mit einer stereotaktischen Behandlung ergänzt. Die Radiochirurgie ist zwar sehr gut verträglich, aber als langfristige Behandlung allein nicht für Patienten mit Hirnblutungen oder gefährlichen Fisteln geeignet. Als Monotherapie kann die Strahlentherapie aber bei benignen arteriovenösen Durafisteln von Typ I und IIa in Frage kommen. „Bei weniger gefährlichen Fisteln hängt es von der Beeinträchtigung des Patienten durch das Ohrgeräusch ab. Ist die Lebensqualität massiv beeinträchtigt, kann auch diese Fistel behandelt werden. Es besteht aber keine zwingende Indikation“, so Gizewski.

 

Kraniale Durafisteln: Klassifikation

DAVF-Typ

Venöse Drainage

I

in den venösen Sinus mit antegradem Fluss

IIa

in den venösen Sinus mit retrogradem Fluss

IIb

in den venösen Sinus mit retrograder Füllung kortikaler Venen

IIa+IIb

in den venösen Sinus mit retrograder Drainage in den Sinus und kortikale Venen

III

direkte Drainage kortikaler Venen mit retrogradem Fluss

IV

direkte Drainage kortikaler Venen mit venöser Ektasie > 5 mm Durchmesser

V

Drainage direkt in spinale perimedulläre Venen

nach Cognard C, Gobin YP, Pierot L et-al. Cerebral dural arteriovenous fistulas: clinical and angiographic correlation with a revised classification of venous drainage. Radiology. 1995;194 (3): 671-80.

Kraniale Durafistel

Bei der kranialen Durafistel handelt es sich um einen arteriovenösen Shunt zwischen zur Dura ziehenden arteriellen Ästen und einer intrakraniellen venösen Drainage. Grundsätzlich können kraniale Durafisteln ubiquitär auftreten. Meist sind diese AV-Malformationen aber in der hinteren Schädelgrube lokalisiert. Die kranialen Durafisteln machen dabei etwa zehn bis 15 Prozent aller intrakraniellen Shunts aus. Als arterielle Zufuhr kommen vor allem Äste der A. carotis externa, hauptsächlich die A. occipitalis und A. meningea media sowie die A. carotis interna oder meningeale Äste der intrakraniellen Arterien in Frage. Wesentlich für die Entstehung und Ausprägung der klinischen Symptomatik und vor allem die weitere Prognose ist allerdings die venöse Drainage. Als mögliche Lokalisationen für den venösen Abfluss der kranialen Durafisteln wird in mehr als der Hälfte der Fälle der Sinus transversus oder Sinus sigmoideus beschrieben – je nach Schweregrad auch mit Rückstau in kortikale Venen. Weitere Häufungen finden sich im Sinus cavernosus, Confluens sinuum und Tentorium. Prinzipiell kann jede der genannten AV-Malformationen einen pulssynchronen Tinnitus verursachen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 20 / 25.10.2016