Harninkontinenz: Kein Tabuthema mehr

15.08.2016 | Medizin

Von Harninkontinenz sind bis zu viermal so viele Frauen betroffen wie Männer. Das aktive Nachfragen und der Beginn einer Therapie an sich machen einen großen Teil des Behandlungserfolges aus. So spielt beispielsweise Verhaltenstraining, das lange als Placebo-Effekt abgetan wurde, bei der Therapie der Dranginkontinenz eine wichtige Rolle.
Von Marlene Weinzierl

Es ist zwar kein Tabuthema mehr, aber so wirklich zur Debatte stellt man es immer noch nicht gern“, beschreibt Univ. Prof. Hermann Enzelsberger von der Abteilung für Gynäkologie und Geburtshilfe am Landeskrankenhaus Steyr die Situation. Es geht um Harninkontinenz – eine Erkrankung, unter der etwa zehn Prozent der österreichischen Bevölkerung leiden. Unter den Betroffenen befinden sich etwa 200.000 Männer und rund 700.000 bis 800.000 Frauen. Die Hemmschwelle, diese Thematik anzusprechen, müsse manchmal auch vom Arzt überwunden werden. Das aktive Nachfragen und der Beginn einer Therapie an sich stellt bereits einen großen Teil des Behandlungserfolges dar.

Drei Lebensphasen besonders betroffen

Die wesentlichen Auslöser der Erkrankung bei Frauen sind ein geschwächter Blasenverschlussapparat des Beckenbodens und eine mit dem Alter zunehmende Atrophie der Scheidenhaut aufgrund des reduzierten Östrogenspiegels. Enzelsberger: „Es gibt drei Lebensphasen, in denen die Zahl der betroffenen Frauen besonders hoch ist: nach Geburten aufgrund der körperlichen Beanspruchung, während und nach der Menopause wegen der hormonellen Umstellung und zuletzt im höheren Alter ab etwa 70 Jahren – bedingt durch eine geriatrische Erkrankung.“

Harninkontinenz bei Männern

Bei Männern stehe eine Harninkontinenz fast immer im Zusammenhang mit Unfällen oder Erkrankungen der Prostata. Probleme mit der Blase in Folge von Strahlenbehandlungen seien seltener geworden – aufgrund der modernen Strahlentherapie. Zu einer Inkontinenz durch eine Schädigung des Blasenverschlussapparates kann es allerdings nach einer radikalen Prostatektomie oder Zystektomie kommen.

Mit zunehmendem Alter treten vermehrt Erkrankungen auf, die einen unkontrollierten Harnverlust begünstigen. Dazu gehören Diabetes, Stoffwechsel- und neurologische Erkrankungen wie Demenz. Eine neurogene Inkontinenz etwa sei die Folge eines Kontrollverlusts bei der Organsteuerung, die bei Multipler Sklerose, Morbus Parkinson oder nach Insulten auftreten könne. Auch die demographische Entwicklung spielt eine Rolle: So könnten in 30 Jahren bis zu 1,4 Millionen Österreicher an Harninkontinenz leiden.

Die am häufigsten diagnostizierte Form der Harninkontinenz ist die Belastungs- oder Stressinkontinenz. Sie tritt vor allem bei Frauen im Alter zwischen 30 und 40 Jahren vermehrt auf und führt durch erhöhten Druck im Bauchbereich aufgrund von Provokationen wie Husten, Niesen oder Hüpfen zu unkontrolliertem Harnverlust. Rauchen durch den damit oft verbundenen chronischen Husten kann zur Ausbildung einer Belastungsinkontinenz beitragen. Männer leiden insgesamt seltener an der Belastungsinkontinenz.

Nahezu ebenso häufig tritt die Drang- oder Urge-Inkontinenz auf. Sie wird mit zunehmendem Alter häufiger und steht mit einer Reizblase in Zusammenhang. Aufgrund von massivem Harndrang wird innerhalb kürzester Zeit eine Toilette benötigt, was die Lebensqualität der Betroffenen im Hinblick auf nächtliches Durchschlafen und bei Freizeitaktivitäten stark beeinträchtigt. Diese Blasenfunktionsstörung lasse sich auch mit den Begriffen trockene beziehungsweise nasse überaktive Blase beschreiben. Neben selteneren Spezialformen beobachten Experten eine kombinierte Stress- und Dranginkontinenz als Mischform vor allem bei Frauen recht häufig. Hier wird der therapeutische Fokus überwiegend auf die der Erkrankung stärker zugrundeliegende Ursache gerichtet. So gibt es immer wieder Frauen, die bereits endlose Therapien hätten wegen vermeintlich wiederkehrender „Harnwegsinfekte“ und persistierender Blasendrangprobleme, bevor eine genaue Abklärung erfolgt.

Zu einer rationalen Diagnostik inklusive Abklärung, in welchen Situationen der Verlust von Harn vorkomme, gehört auch eine Medikamentenanamnese: Polypragmasie „geht für den Patienten nicht gut aus“, betont Enzelsberger. Manche Medikamente wie zum Beispiel Diuretika verstärken die Symptomatik der Harninkontinenz; andere wiederum – Schmerzmittel etwa – stoppen diese. Weiters geben Sexual- und Stuhlanamnese wie auch die Frage nach der beruflichen Tätigkeit Aufschluss über das Ausmaß der Belastung des Beckenbodens. Eine Belastungsinkontinenz kann anhand eines positiven klinischen Stresstests gut erkannt werden, unterstreicht Enzelsberger. Und weiter: „Eine Harnanalyse mittels einfachem Streifentest ist schnell durchgeführt.“ Ein Harnwegsinfekt kann eine Inkontinenz begünstigen oder verschlimmern, ist jedoch mit Antibiotika einfach zu behandeln. Bei Komplikationen oder für die Untersuchung mittels Ultraschall, ob Restharn vorhanden ist, sollte zeitnah ein Spezialist beigezogen werden.

Therapeutische Vorgangsweise

Enzelsberger weist darauf hin, dass die Benennung der vorliegenden Inkontinenzform ein entscheidender Faktor für die weiteren therapeutischen Schritte ist: Während eine Dranginkontinenz eher konservativ-medikamentös behandelt wird, ist bei der Belastungsinkontinenz zumeist Beckenbodentraining und/oder eine Operation die notwendige Therapiestrategie (siehe Kasten).

Lange Zeit als Placebo-Effekt missinterpretiert, spielt Verhaltenstraining eine wichtige Rolle bei der Therapie von Dranginkontinenz. Zusammen mit Anticholinergika und/oder Östrogen lässt sich dadurch bei 70 bis 80 Prozent der Betroffenen eine deutliche Besserung erzielen, berichtet Enzelsberger. Bei Therapieresistenz wird – vorwiegend bei neurologischen Ursachen – Botulinumtoxin eingesetzt. Für die Injektionen ist eine kurze Narkose nötig, bei weiblichen Patienten kann mitunter eine lokale Betäubung ausreichen. Begleiterscheinungen der Behandlung sind Restharnbildung und seltener eine Harnsperre. Wichtig sind eine exakte Nachsorge mit Kontrollen und eine Einschulung hinsichtlich Blasenentleerung mit Katheterisierung. Der Erfolg der Therapie tritt nach etwa 14 Tagen ein und hält für gewöhnlich drei bis sechs Monate an, in seltenen Fällen sogar bis zu zwölf Monate. Üblicherweise wird der Eingriff zweimal jährlich wiederholt. Nicht alle Patienten erlangen durch den Eingriff vollkommene Trockenheit; manchmal kommt es jedoch zu einer Besserung der Situation.

Bei der Belastungsinkontinenz wiederum bezeichnet Enzelsberger es als „wichtig, die Eigenverantwortung zu fördern“. Dazu gehört eine Modifikation des Lebensstils ebenso wie das gezielte Training der Beckenbodenmuskulatur (siehe Kasten). Bei 40 bis 50 Prozent der Patienten kann dadurch eine Besserung der Symptomatik erzielt werden. Unterschiede gibt es jedoch im Hinblick auf Alter und Geschlecht: Ist das Gewebe des Verschlussapparates noch regenerationsfähig, können sehr gute Erfolge erzielt werden. Dies trifft auf jüngere Frauen und auf Männer zu, die plötzlich mit einer postoperativen Inkontinenz zu kämpfen haben. Bei älteren Frauen mit über lange Zeit geschwächtem Verschlussapparat ist oft ein jahre- bis jahrzehntelanges Training notwendig, um einen Therapieerfolg zu erzielen. Ist der Leidensdruck zu groß, bleibt oft nur die Operation (siehe Kasten). Enzelsberger zu den derzeit verfügbaren medikamentösen Therapien: „Diese haben sich bei der Behandlung der Belastungsinkontinenz wegen der zu starken Nebenwirkungen nicht durchgesetzt.“


Harninkontinenz bei Frauen: Risikofaktoren

  • Zwei oder mehr Vaginalgeburten
  • Verlängerte Austreibungsperiode bei der Geburt
  • Geburtsgewicht des Babys über 4.000 Gramm
  • Klimakterium
  • Schwere körperliche Anstrengungen
  • Arbeiten in der Kälte

Inkontinenz: Therapieoptionen

Dranginkontinenz

  • Trink-, Miktions- und Verhaltenstraining: keine exzessive Flüssigkeitszufuhr; üben, den Harndrang zurückzuhalten; regelmäßige Toilettengänge mit Blasenentleerung nach Zeitplan. Das Führen eines Miktionstagebuches hilft bei der Reflexion.
  • Anticholinergika: Oxybutinin, Tolterodin, Trospiumchlorid und Solifenacin. Da die meisten Medikamente als Nebenwirkung Mundtrockenheit verursachen, muss hier die Compliance der Patienten besonders gefördert werden.
  • Östrogentherapie bei Frauen: Östriolpräparate zur Substitution des lokalen Hormonmangels (Salben, Zäpfchen oder in Tablettenform).
  • (Minimal-)Invasive Therapien: Botulinumtoxin-Injektion, sakrale Neuromodulation, Blasenaugmentation. All diese Behandlungen kommen bei Therapieresistenz und daher seltener zum Einsatz.

Belastungsinkontinenz

  • Lebensstiländerung: Reduktion von Übergewicht und Bewegungsmangel
  • Physiotherapie: Beckenbodentraining ist in verschiedenen Varianten möglich: mit oder ohne Biofeedback; Einsatz von Vaginalkonen
  • Elektrostimulation: Behandlung von Urethra und Beckenboden mit Strom
  • Operation: Bei Männern war nach einer radikalen Prostatektomie lange Zeit der künstliche Schließmuskel erste therapeutische Option. In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben Harnröhrenbänder klassische Operationen mit Bauchschnitt ersetzt. Die zuletzt etablierten Bändersysteme kommen allerdings eher für leichte Formen der Belastungsinkontinenz in Frage. Bei Frauen wurde die vordere Scheidenplastik (Kolporrhaphie anterior) großteils durch die weniger invasive suburethrale Schlingenoperation ersetzt. Nach zehnjähriger Beobachtung hat sich das Tension-free Vaginal Tape (TVT) am besten etabliert; transobturatorische Techniken (TOT) und „Mini“-Schlingen sind eine gute Alternative.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 15-16 / 15.08.2016