Hämolytisch urämisches Syndrom: Komplexes Geschehen

10.03.2016 | Medizin

Auch wenn das hämolytisch urämische Syndrom vorwiegend im Säuglings- und Kleinkindalter auftritt, gibt es auch Erkrankungsfälle im Erwachsenenalter. Rund 90 Prozent der Syndrome sind mit Enterohämorrhagischen Escherichia coli assoziiert. Von Christine Schaar

Der Begriff „Hämolytisch urämisches Syndrom“ beschreibt nur Krankheitssymptome. „Man geht davon aus, dass eine generalisierte Blutgerinnselbildung zu einer Verengung beziehungsweise Thrombosierung der kleinen Gefäße führt, zur sogenannten thrombotischen Mikroangiopathie“, erklärt Assoz. Prof. Gürkan Sengölge von der Universitätsklinik für Innere Medizin III am AKH Wien/Klinische Abteilung für Nephrologie und Dialyse. Diese Prozesse erklären auch die typische diagnostische Kombination von hämolytischer Anämie, Thrombopenie und akutem Nierenversagen. „Deswegen ist in vielen Fällen eine Dialyse indiziert und unumgänglich“, konstatiert Sengölge.

Das Hämolytisch urämische Syndrom tritt hauptsächlich im Säuglings- und Kleinkindalter auf; es gibt jedoch auch Erkrankungsfälle im Erwachsenenalter. Die Erkrankung wird vor allem mit viralen oder bakteriellen Infektionen in Zusammenhang gebracht. Eine ganz besondere Konstellation, bei der es zum vermehrten Auftreten des hämolytisch urämischen Syndroms gekommen ist, war im Jahr 2011 in Deutschland, und betraf in erster Linie Erwachsene. Auslöser dafür war Enterohämorrhagisches Escherichia coli (EHEC). Von den zahlreichen Stämmen aus der Familie der E. coli-Bakterien lösen manche EHEC-Populationen keinerlei Erkrankungen aus, manche jedoch führen zu sehr schweren Krankheitsverläufen. 2011 in Deutschland war es E. coli O104:H4. „Durch fäkale oder orale Übertragung kann es beim Menschen zu blutigen Durchfallerkrankungen kommen. In sehr ernsten Fällen können diese Erreger auch ein hämolytisch urämisches Syndrom auslösen“, weiß Univ. Prof. Reinhard Würzner vom Institut für Hygiene und Medizinische Mikrobiologie der Medizinischen Universität Innsbruck. EHEC zählen zu den Shigatoxin-produzierenden Escherichia coli. Durch die Ansiedlung im Darm gelangen sie über den Blutkreislauf direkt zu den unterschiedlichsten Organen und gefährden besonders Nieren und Gehirn. Um Bakterien abzutöten, wird geraten, rohes Rindfleisch zu meiden und gegebenenfalls vor dem Konsum gut durchzubraten.

Erhebungen zufolge sind 90 Prozentder hämolytisch urämischen Syndrome mit EHEC assoziiert; circa vier Prozent sind sekundäre HUS-Formen, die zum Beispiel von Pneumokokken ausgelöst werden können und extrem selten vorkommen. Eine spezielle Form – sie macht rund sechs Prozent der Erkrankungen aus – ist das atypische hämolytische Syndrom. Diese sehr seltene Form wird mit einer Komplementstörung in Zusammenhang gebracht und neigt zu Rezidiven. Dabei wird durch eine nicht ausreichend durch Inhibitoren kontrollierte (weil Inhibitoren angeboren defekt oder erworben durch Antikörper ausgeschaltet werden) Immunantwort das Komplementsystem aktiviert. Beim atypischen hämolytischen Syndrom liegt eine Fehlreaktion im Faktor H vor. Dieser ist ein wichtiges Regulationseiweiß, das die Komplementaktivierung hemmt.

Das atypische hämolytische urämische Syndrom ist meist genetisch bedingt, jedoch können auch erworbene Ursachen und Störungen dieses verursachen. „Die Prognose und auch die Tatsache, ob die Patienten eine dialysepflichtige terminale Niereninsuffizienz entwickeln, hängt stark von einigen genetischen Faktoren ab und ist aus diesem Grund sehr unterschiedlich“, weiß Sengölge. Dies unterstreiche die Bedeutung einiger Spezialuntersuchungen auf das Vorhandensein von Genmutationen im Komplementsystem.

Sonderrisiko Schwangerschaft

Ein durch einen Erreger verursachtes hämolytisches urämisches Syndrom in der Schwangerschaft stellt ein besonders großes Risiko für die Mutter und das ungeborene Kind dar. Obwohl die Keime nicht über die Plazenta zum Kind gelangen können, erreichen jedoch die anfallenden Ausscheidungsprodukte sehr wohl das Ungeborene. Das bedeutet ein erhöhtes Risiko von Früh- und Fehlgeburten durch eine EHEC-Infektion. Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe warnt darüber hinaus, dass diese Toxine besonders in der Frühschwangerschaft erheblichen Schaden anrichten und zu Fehlgeburten führen können. Bei fortgeschrittener Schwangerschaft sollte an eine Geburtseinleitung zum Schutz des ungeborenen Kindes gedacht werden.

Früherkennung

Starke Kopfschmerzen, Müdigkeit, Atemnot und ein reduzierter Allgemeinzustand zählen zu den ersten Symptomen der Erkrankung. Meist ist die Harnmenge zu diesem Zeitpunkt bereits stark reduziert und in vielen Fällen auch Blut im Harn. Da es sich jedoch um eine sehr seltene Erkrankung handelt, wird die Diagnose oft erst nach der Einweisung ins Krankenhaus gestellt, wenn dies mit Tests bestätigt wurde. In Österreich und Deutschland erkranken laut Statistik zwischen 0,7 bis 1,0 von 100.000 Kindern unter 15 Jahren an einem hämolytisch urämischen Syndrom. Routinemäßig werden Harn und Blut untersucht; im Harn lassen sich Blut und Eiweiß nachweisen. Zu den typischen Blutwerten zählen ein erhöhtes LDH, meist massiv erhöhte Nierenretentionswerte, Thrombozytopenie und Fragmentozyten. Die Thrombozytenzahl liefert eindeutige Hinweise über den Stand der Erkrankung, da die Thrombozyten im akuten Stadium rapide absinken und erst wieder nach dem Höhepunkt der bestehenden Episode über ihren Normwert hinaus produziert werden. „Die Laboruntersuchung ist und bleibt während des gesamten Krankheitsverlaufes das wichtigste Diagnosekriterium“, betont Sengölge. In welche Richtung sich das Geschehen bewegt und von welchem Schweregrad der Erkrankung auszugehen ist, lässt sich nur am Verlauf und anhand der Labordiagnostik verifizieren. Da viele Patienten gleichzeitig an einer schweren Hypertonie leiden, muss bei der Diagnose hämolytisch urämisches Syndrom so rasch wie möglich eine entsprechende antihypertensive Therapie in die Wege geleitet werden. Eventuell zusätzlich erforderliche Maßnahmen wie Erythrozytengabe erfolgen nach dem Vorliegen von vollständigen Laborbefunden. Bei einer massiven Nierenbeteiligung ist darüber hinaus auch eine Dialyse notwendig. Auch die Plasmapherese kommt zum Einsatz; in einigen Fällen reicht auch eine regelmäßige Fremdplasma-Substitution. Seit einigen Jahren gibt es einen neuen Therapieansatz mit einem monoklonalen Antikörper gegen ein Protein des Komplementsystems, welcher den Wirkstoff Eculizumab (Soliris®) enthält. „Die Eculizumab-Therapie ist wegen ihrer hohen Kosten von rund 500.000 Euro pro Jahr nur in spezialisierten Einrichtungen und bei ausgesuchten Fällen möglich und sinnvoll“, betont Sengölge.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 5 / 10.03.2016