Martin Parr: Der Alltag – kurios und grell

10.10.2016 | Horizonte

Er liebt Klischees – und er liebt es, sie in grellen Farben, ungeschönt und ehrlich festzuhalten. Der britische Fotograf Martin Parr porträtiert Menschen im Alltag – mit einem Augenzwinkern und einem Funken Kuriosität. Das Kunsthaus Wien zeigt neben bekannten Fotos auch erstmals seine neue Serie über Wien. Von Marion Huber

Cakes and Balls“ – Torten und Bälle: Klischees, die das Herz der Wiener Kultur widerspiegeln? Zumindest Martin Parr sieht es so – der britische Fotograf wurde vom Kunsthaus Wien zweimal nach Wien eingeladen, um die hiesigen „Gepflogenheiten“ zu fotografieren. Naheliegend, dass es Parr dabei an typisch wienerische Orte wie den Prater und das Strandbad „Gänsehäufel“ verschlug; auch lernte er die Wiener Kaffeehauskultur kennen, besuchte mehrere Bälle und erlebte die Idylle einer Kleingartensiedlung. Wie geschaffen für seine Fotokunst: liebt er es doch, den Alltag so zu zeigen, wie er ist – mit all seinen Facetten und Klischees, erschreckend ehrlich. Herausgekommen ist eine Fotoserie, die die Wiener Seele porträtiert – und die nun zum ersten Mal im Kunsthaus Wien zu sehen ist.

Solche ungeschönten, entlarvenden Fotos von Parr gibt es von seinen Landsleuten ebenso wie von US-Amerikanern, Deutschen oder jetzt eben auch den Wienern. Begonnen hat er in schwarz-weiß – sein erstes Fotobuch hieß bezeichnend für eines der Top-Themen der Briten „Bad weather“ –; bald, nachdem sie aufgekommen war, ging er zur Farbfotografie über. In grellen Farben und mit hoher Sättigung – oft mit Ringblitz bei Tageslicht aufgenommen – bildet er von da an Menschen beim Einkaufen, Essen, Tanzen, Sightseeing etc… ab. Damit hat Parr nicht nur das Genre der „Street Photography“ – der Momentaufnahmen im Alltag – beeinflusst, sondern auch die Entwicklung der Mode- und Dokumentarfotografie. Freizeit, Konsum, Alltag – Massentourismus, Verschwendung, Langeweile. Fettes Fast Food, grelle Fingernägel, Plastikspielzeug, knallbunte Badeschlapfen, Wandteller mit Hundemotiven und andere Kuriositäten lassen den Betrachter beim Anblick schmunzeln.

Martin Parr provoziert – so ist man es von ihm gewohnt. Geschmackloses will er ebenso festhalten wie das Hässliche, das Ungeschönte und Entlarvende, das normalerweise bewusst als Bildmotiv vermieden oder retuschiert wird. Er ist anders, dieser Martin Parr: Er zeigt nicht das Schöne oder das schön Dargestellte – aber auch nicht die Gräuel von Krieg, Armut oder Unruhen; Kriegsfotograf wollte er nie sein – er zeigt den glanzlosen Alltag. Und er polarisiert: Sein Werk ist umstritten. Seine Aufnahme in die Fotoagentur „Magnum Photos“, dem weltweit wahrscheinlich wichtigsten Zusammenschluss von Fotografen (siehe Kasten), hat Jahre gedauert; lange Zeit hatte er nicht die nötige Zustimmung der Mitglieder erhalten.

Der internationale Durchbruch gelang Parr Mitte der 1980er Jahre mit seiner Serie „Last Resort“ (1985), die teils kuriose, teils absurde Szenen vom britischen Strandurlaub zeigt – inklusive komplett überfüllter Strandbäder, schreiender Kinder und verdreckter Straßen. In dieser Zeit fand die Fotografie insgesamt als Kunstform immer mehr Anklang und wurde nicht mehr „nur“ als Journalismus verstanden. Auch in der breiteren Öffentlichkeit stieß sie zunehmend auf Interesse.

Legendäre Werkkomplexe

Unter den 13 großen Werkkomplexen, die nun im Kunsthaus ausgestellt werden, sind neben „Last Resort“ auch die legendären Serien „Bored Couples“ (1990-1993), „Common Sense“ (1995-1999) und „Luxury“ (2007-2011) zu sehen. Schonungslos und direkt – das sind die Fotos seiner Serie „Bored Couples“. Die Langeweile der Paare springt dem Betrachter fast ins Gesicht. Die Bilder spiegeln aber auch ein untrügliches Desinteresse, eine gewisse Tristesse wider. Kaum ein Wort, das gesprochen wird; kaum ein Augenkontakt, der gesucht wird; leere Blicke, verschränkte Arme – wie Paarbeziehungen eben sein können. „Luxury“ wiederum zeigt das Luxusleben der Reichen – in Dubai, Paris, St. Moritz, London, Miami oder Moskau: teure Pelze, protzige Sonnenbrillen, (über-)große Hüte, prall gefüllte Bäuche, in der einen Hand ein Gläschen Sekt oder die Zigarre, in der anderen das Mobiltelefon.

In all den Jahren seiner Karriere nahm Parr an mehr als 80 Ausstellungen in den USA und in Europa teil; mehr als 50 Bücher hat er veröffentlicht. Man kann ihn wohl als einen der berühmtesten britischen Fotografen bezeichnen.

„Martin Parr“

Bis 2. November 2016, Kunsthaus Wien

Untere Weißgerberstraße 13, 1030 Wien

www.kunsthauswien.com

Was ist „Magnum Photos“?

Als eine der legendärsten Fotoagenturen wurde „Magnum Photos“ 1947 von den vier Fotografen Henri Cartier- Bresson, Robert Capa, David „Chim“ Seymour und George Rodger gegründet, weil sie so die Rechte über ihre eigenen Bilder gegenüber großen Magazinen und Agenturen besser sichern wollten. Was den Erfolg der Agentur ausmachte: Zum einen wurden ab den 1930er Jahren viele neue Nachrichtenmagazine und Illustrierte gegründet wie etwa das „Time magazine“ (1923), die großen Bedarf an Kriegsfotografien sowie Fotoreportagen aus fernen Ländern hatten. Zum anderen machten technische Entwicklungen (Stichwort: Leica) Kameras handlicher.

Weil der Verkauf von Fotos an Zeitschriften zur Finanzierung der Agentur aber bald nicht mehr ausreichte, hat „Magnum Photos“ 1988 seine eigene Kulturabteilung geschaffen, die Buch- und Ausstellungsprojekte organisiert und die Agentur damit mitfinanziert. Derzeit hat Magnum vier Niederlassungen: in Paris, London, New York und Tokio. Auch Österreicher waren und sind Mitglieder: Ernst Haas (1986 verstorben), Inge Morath (2002 verstorben) – als eine der wenigen Frauen – und der heute noch aktive Erich Lessing. Bekanntestes Bild von Lessing ist wahrscheinlich jenes von der Unterzeichnung des Staatsvertrages am 15. Mai 1955: Der damalige Außenminister Leopold Figl auf dem Balkon des Belvedere, in den Händen den Staatsvertrag, um ihn die Außenminister der alliierten Siegermächte.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 19 / 10.10.2016