Chagall bis Male­witsch: Radi­kal und konträr

25.04.2016 | Horizonte

Kon­trär, grund­ver­schie­den und doch zeit­gleich waren die Stil­rich­tun­gen der Rus­si­schen Avant­garde: vom gegen­ständ­li­chen Expres­sio­nis­mus zu rei­ner Abs­trak­tion. Die Alber­tina in Wien zeigt in einer aktu­el­len Aus­stel­lung die radi­ka­len Brü­che, die diese Gene­ra­tion geprägt haben. Von Marion Huber

Radi­kal und kon­trär – in der Rus­si­schen Avant­garde sprie­ßen die ver­schie­de­nen Stil­rich­tun­gen nur so aus dem Boden und machen die Zeit zu einem beson­ders viel­sei­ti­gen Kapi­tel der Moderne. Viel­sei­tig sicher auch des­halb, weil sich die Künst­ler gleich­zei­tig in zwei Rich­tun­gen ori­en­tie­ren wol­len: einer­seits wol­len sie den neu­es­ten fran­zö­si­schen Kunst­ent­wick­lun­gen und der moder­nen abs­trak­ten Dar­stel­lung fol­gen, ande­rer­seits aber auch die engen Bezüge zur ost­eu­ro­päi­schen Volks­tra­di­tion pflegen.

Dass die Kunst die­ser Zeit von Viel­falt geprägt sein muss, erklärt sich damit von selbst. Eine Viel­falt, der die Alber­tina in Wien der­zeit eine groß ange­legte Schau wid­met. Wie grund­ver­schie­den die Stile und Inhalte der Rus­si­schen Avant­garde waren, sol­len 130 Meis­ter­werke u.a. von Michail Lari­o­now, Kasi­mir Male­witsch, Was­sily Kan­din­sky bis hin zu Marc Chagall zeigen.

In elf Kapi­teln erzählt die Alber­tina die dyna­mi­sche Ent­wick­lung vom Pri­mi­ti­vis­mus über den Kubo-Futu­ris­mus bis hin zum Supre­ma­tis­mus. Der Betrach­ter wird ein­ge­la­den mit­zu­er­le­ben, wie gegen­ständ­li­cher Expres­sio­nis­mus und reine Abs­trak­tion quasi zur glei­chen Zeit exis­tier­ten, obwohl sie kon­trä­rer kaum sein könnten.

Die Ent­wick­lun­gen in der Kunst sind damals so dyna­misch, dass die Künst­ler aus den unter­schied­lichs­ten und teil­weise kon­trä­ren Inhal­ten und Inspi­ra­tio­nen schöp­fen. Einer­seits dient die moderne west­eu­ro­päi­sche Avant­garde als Ori­en­tie­rungs­punkt, die mit Van Gogh, Matisse, Picasso und Braque in Paris so revo­lu­tio­näre Aus­drucks­for­men wie den Fau­vis­mus und Kubis­mus begrün­det hat. Auf der ande­ren Seite wol­len die rus­si­schen Künst­ler sich auch auf die folk­lo­ris­ti­sche Bild­tra­di­tion ihrer Hei­mat stüt­zen. Ein gemein­sa­mes Ziel hat die Kunst die­ser Zeit den­noch: näm­lich sich von der Ver­gan­gen­heit zu lösen. Nur die Her­an­ge­hens­weise ist kon­trär: wäh­rend die einen ver­su­chen, die Ver­gan­gen­heit radi­kal zu negie­ren, grei­fen die ande­ren dar­auf zurück. So ent­ste­hen einer­seits die For­de­run­gen nach rei­ner Male­rei und Abs­trak­tion des Supre­ma­tis­mus wie etwa bei Kasi­mir Male­witsch und des Kon­struk­ti­vis­mus wie bei Alex­an­der Rodt­schenko; ande­rer­seits die auf den ers­ten Blick tra­di­tio­nel­le­ren For­men der Gegen­ständ­lich­keit von Marc Chagall. Das Resul­tat ist damit eine über­ra­schende Viel­falt von sou­ve­rä­nen, dyna­mi­schen Kunst­strö­mun­gen (siehe auch Kas­ten): Neo­pri­mi­ti­vis­mus, Ray­o­nis­mus, Kubo­fu­tu­ris­mus bis hin zum Supre­ma­tis­mus. Wie unter­schied­lich die zeit­gleich exis­tie­ren­den Stil­rich­tun­gen, For­men­spra­chen und Theo­rien von damals sind, ist erstaun­lich. Radi­kal sind nicht nur die Brü­che inner­halb der Künst­ler­ge­nera­tion und der jewei­li­gen Grup­pen, son­dern auch inner­halb des Werks von ein und dem­sel­ben Künst­ler. So soll der Betrach­ter in der aktu­el­len Aus­stel­lung auch mit die­sen ent­ge­gen­ge­setz­ten künst­le­ri­schen Prin­zi­pien und sti­lis­ti­schen Sprün­gen kon­fron­tiert werden.

Stich­wort Kon­fron­ta­tion: im Mit­tel­punkt der Aus­stel­lung in der Alber­tina steht auch die span­nungs­ge­la­dene und kon­tro­verse Unter­richts­tä­tig­keit von zwei bedeu­ten­den Künst­lern der Rus­si­schen Avant­garde – Chagall und Male­witsch – an der Kunst­schule von Witebsk.

Chagall wird 1887 im Rus­si­schen Kai­ser­reich in der Nähe von Witebsk gebo­ren, geht nach Paris und ent­deckt dort den Kubis­mus und Fau­vis­mus für sich. Der von Künst­ler­kol­le­gen „le poète“ (Dich­ter) genannte Chagall will eigent­lich nur für einen kur­zen Auf­ent­halt in seine Hei­mat rei­sen als der Erste Welt­krieg aus­bricht und eine Rück­kehr nach Paris unmög­lich macht. Nach­dem er nach Petro­grad umsie­delt, kommt Chagall den neuen Ten­den­zen der Kunst in Russ­land näher, greift den Pri­mi­ti­vis­mus von Natalja Gontscha­rowa und Michail Lari­o­now auf und gilt auch hier bald als bedeu­ten­der Avant­gar­dist. Nach der Okto­ber­re­vo­lu­tion 1917 ent­wi­ckelt Chagall das Kon­zept einer Kunst­schule in Witebsk, deren Lei­ter er schließ­lich wird. Als Leh­rer beruft er El Lis­sitzky und Kasi­mir Male­witsch, die bald dar­auf viele Anhän­ger um sich scha­ren kön­nen. Es ent­wi­ckelt sich ein wahr­haf­ter Rich­tungs­kampf um die zukünf­tige Kunst; Male­witsch ist es, der durch das Bild „Schwar­zes Qua­drat auf wei­ßem Grund“ (1915) zu einem der füh­ren­den Per­sön­lich­kei­ten wird. Heute gilt die­ses supre­ma­tis­ti­sche Gemälde als ein Mei­len­stein und eine Ikone der Male­rei der Moderne. Obwohl er in der Kunst­kri­tik zunächst hef­tig kri­ti­siert und abge­lehnt wird, lässt Male­witsch sich nicht beir­ren und ent­wi­ckelt sein Sys­tem ent­schlos­sen weiter.

Radi­kal ver­sus poetisch

Seine radi­kale Abs­trak­tion steht der poe­ti­schen Vari­ante der Avant­garde von Chagall dia­me­tral ent­ge­gen und lässt sich damit ein­fach nicht ver­ein­ba­ren. Die Fron­ten der ver­schie­de­nen Avant­gar­den lie­gen der­ma­ßen weit aus­ein­an­der, dass es mit dem völ­li­gen Zer­würf­nis zwi­schen Chagall und Male­witsch endet. Chagall muss das Feld dar­auf­hin Lis­sitzky und Male­witsch über­las­sen, ver­lässt Russ­land und fin­det sich ua. in Ber­lin, Frank­reich und den USA wie­der. Auch Was­sily Kan­din­sky muss dem Kon­struk­ti­vis­mus von Rodt­schenko wei­chen. Dabei hat Kan­din­sky, der sich ursprüng­lich zum Expres­sio­nis­mus zählt, 1910 das erste abs­trakte Werk über­haupt geschaf­fen. Aber auch er als „Pio­nier der Abs­trak­tion“ kann Male­witschs radi­ka­ler Ablö­sung von der Wirk­lich­keit nicht bis zur letz­ten Kon­se­quenz folgen.

Im April 1922, nach Strei­tig­kei­ten mit den Behör­den, die die Rus­si­sche Avant­garde bekämp­fen, ver­las­sen Male­witsch und viele sei­ner Stu­den­ten Witebsk in Rich­tung Petro­grad. Der theo­re­ti­sche Ansatz der Avant­gar­dis­ten ist nach der Macht­über­nahme von Sta­lin mit den poli­ti­schen For­de­run­gen nach einer funk­tio­na­len Kunst nicht in Ein­klang zu brin­gen. Male­witsch erhält sogar Aus­stel­lungs- und Publikationsverbot.

Stil­rich­tun­gen der Rus­si­schen Avantgarde

Im Kubo­fu­tu­ris­mus (ab etwa 1906/​07) wur­den – wie der Begriff schon sagt – Ele­mente des Kubis­mus und des Futu­ris­mus mit­ein­an­der ver­schmol­zen. Merk­mal der Stil­rich­tung ist die Zer­le­gung eines gegen­ständ­li­chen Motivs in zylin­dri­sche For­men. Ver­tre­ter: ua. Kasi­mir Male­witsch und Ivan Puni.

Ray­o­nis­mus – von Fran­zö­sisch „rayon“: „Licht­strahl“ – ist eine Stil­rich­tung der Rus­si­schen Avant­garde, die sich mit der Dar­stel­lung der vier­ten Dimen­sion, des Lich­tes, aus­ein­an­der­setzt: Licht­bün­del, Gegen­stände, die in abs­trakte Strah­len­dia­gramme ver­wan­delt wer­den. Ver­tre­ter: ua. Michail Lari­o­now und Natalja Gontscharowa

Der Supre­ma­tis­mus – von Latei­nisch „supre­mus“: „der Höchste“ – wurde von Kasi­mir Male­witsch ent­wi­ckelt. Das Unge­gen­ständ­li­che ist für ihn das Maß aller Dinge, über­le­gen, voll­kom­men – „das Höchste“. Daher ist die Stil­rich­tung kom­plett redu­ziert auf ein­fa­che geo­me­tri­sche For­men. Sein „Schwar­zes Qua­drat“ (1915) gilt als „das“ Werk des Suprematismus.

Male­witschs „Supre­ma­tis­ti­sche Kom­po­si­tion“ (Blaues Recht­eck über vio­let­tem Bal­ken, 1916) hat Ende 2008 bei einer Auk­tion von Sotheby’s New York 60 Mil­lio­nen US-Dol­lar erzielt; sein „Mys­ti­scher Supre­ma­tis­mus“ (Schwar­zes Kreuz auf rotem Oval, 1920/​22) blieb Ende 2015, eben­falls bei Sotheby’s New York, mit einem Preis von 37,77 Mil­lio­nen US-Dol­lar knapp unter den Erwar­tun­gen. Um beide Werke wurde zuvor jah­re­lang gerun­gen. Das Ams­ter­da­mer Stede­lijk Museum hatte sie unter hun­dert ande­ren Wer­ken 1958 von einem Freund Male­witschs erwor­ben; die Erben for­der­ten sie zurück. 2008 haben sich die Stadt Ams­ter­dam und die Erben­ge­mein­schaft güt­lich geei­nigt: fünf bedeu­tende Werke – dar­un­ter diese bei­den – wur­den restituiert.

„Chagall bis Male­witsch. Die rus­si­schen Avantgarden“

Bis 26. Juni 2016 /​Alber­tina
Alber­ti­na­platz 1, 1010 Wien /​www.albertina.at

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 8 /​25.04.2016