Recht: Der ärztliche Gesamtvertrag – cui bono?

15.12.2015 | Politik

Gesamtverträge dienen der kollektiven Regelung des Inhalts von Kassenverträgen. Sie gewährleisten eine optimale Sachleistung im niedergelassenen Bereich. Obwohl sie damit einen Eckpfeiler unseres Gesundheitssystems darstellen, sind sie nicht bei allen gern gesehen.
Von Johannes Zahrl*

Das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG) handelt in seinem sechsten Abschnitt unter anderem von den „Beziehungen der Träger der Sozialversicherung (des Hauptverbandes) zu den freiberuflich tätigen Ärzten/Ärztinnen“. Der Gesetzgeber hat bei der Regelung dieses Rechtsverhältnisses allerdings einen besonderen Weg gewählt: Er determiniert diese Beziehungen nicht im Detail, sondern überlässt dies vielmehr den Vertragspartnern Sozialversicherungsträger und Ärztekammern, welche diese Aufgabe in Gesamtverträgen leisten sollen. Das ASVG selbst gibt lediglich einzelne Eckdaten für solche Gesamtverträge vor.

Diese Konstruktion wurde in der Erwartung gewählt, dass die in Österreich auf vielen Gebieten bewährte Ermächtigung von Interessenverbänden zum Aushandeln konkreter Vertragsbedingungen zu einer praxisnahen und ausgewogenen Lösung von Interessengegensätzen führt. Sie erinnert zu Recht an den Kollektivvertrag des Arbeitsrechts, bei dem ein vergleichbarer Weg gewählt wurde: Nicht der einzelne Arbeitnehmer soll seine Arbeitsbedingungen mit einem oft übermächtigen Arbeitgeber verhandeln müssen; das soll vielmehr eine möglichst starke Arbeitnehmervertretung für ihn erledigen. Beim ärztlichen Gesamtvertrag ist es ähnlich: Nicht der einzelne Arzt soll mit dem oft übermächtigen Krankenversicherungsträger sein konkretes Honorar und vieles andere verhandeln müssen; vielmehr obliegt das seiner Ärztekammer, welche dies auf Augenhöhe mit der jeweiligen Kasse erledigen kann. Es geht also in all diesen Fällen um die Herbeiführung einer „balance of powers“. Letztlich ist das Ergebnis aber stets ein Interessenausgleich, weshalb Gesamtverträge – um es mit den Worten der ständigen Judikatur der Höchstgerichte zu sagen – die „Vermutung der Angemessenheit der zu erbringenden Leistungen und des für diese Leistungen geschuldeten Entgelts“ in sich tragen.

Bereits in den Gesetzesmaterialien zur Stammfassung des ASVG wird der Grund für den eingeschlagenen Regelungsweg klargestellt: Ziel war eine möglichst freie Vertragslösung, um den Bedenken der Ärzteschaft, dass durch gesetzliche Zwangsmaßnahmen die freiberufliche Organisation der Ärzteschaft gefährdet würde, Rechnung zu tragen. Insofern hat der ärztliche Gesamtvertrag auch viel mit dem freien Beruf des Arztes zu tun! Interessant ist die Wortwahl der genannten Gesetzesmaterialien, wenn es dort heißt, dass man für freiberuflich tätige Ärzte ganz bewusst nicht die aus dem Zivilrecht bekannte Bezeichnung „Erfüllungsgehilfen“ der Kassen verwenden wollte; vielmehr hat man den Begriff „Vertragspartner“ gewählt. Demgegenüber hat man heute keinerlei Bedenken, Ärzte bei jeder Gelegenheit als „Gesundheitsdiensteanbieter“ abzuqualifizieren.

Bei der Gestaltung der Gesamtverträge sind die Vertragspartner zunächst an die Grundrechte gebunden. Zu denken ist insbesondere an die Erwerbsfreiheit, die Eigentumsgarantie und an den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz.

Darüber hinaus gibt das ASVG konkrete Gegenstände vor, die jedenfalls in Gesamtverträgen zu regeln sind. Dazu zählen etwa die Festsetzung der Zahl und der örtlichen Verteilung der Vertragsärzte (Stellenplan), die Auswahl der Vertragsärzte, die Rechte und Pflichten der Vertragsärzte, ihre Ansprüche auf Vergütung der ärztlichen Leistungen (Honorarordnung), die Vorsorge zur Sicherstellung einer wirtschaftlichen Behandlung und Verschreibweise (Ökonomieprinzip), die Kündigung, Auflösung und Verlautbarung des Gesamtvertrages etc. Ohne diese Elemente – der Jurist nennt sie essentialia negotii – ist ein Vertrag eben kein Gesamtvertrag.

Der Gesamtvertrag gibt auch die Inhalte des Einzelvertrages, welchen ein Vertragsarzt mit einem Krankenversicherungsträger abschließt, vor. Vereinbarungen in einem solchen Einzelvertrag sind unwirksam, wenn sie gegen den Inhalt eines für den Niederlassungsort des Vertragsarztes geltenden Gesamtvertrages verstoßen. Abweichungen im Einzelvertrag gegenüber dem Gesamtvertrag kann es im Wesentlichen nur hinsichtlich der konkreten Ordinationszeiten und des Ordinationssitzes geben.

Insgesamt – so könnte man meinen – eigentlich ein rundes Paket, das sich der Gesetzgeber für die Partnerschaft zwischen Sozialversicherung und Vertragsärzteschaft ausgedacht hat. Und tatsächlich trägt es seit vielen Jahrzehnten wesentlich zu einer optimalen Versorgung der Patientenschaft mit medizinischen Leistungen bei.

Dennoch ist die Begeisterung gegenüber diesem System keine ungeteilte. Da sind etwa einzelne höchste Repräsentanten des Hauptverbandes, die sich – vermutlich um über Rechte und Pflichten von Vertragsärzten endlich alleine entscheiden zu können – eine Abschaffung des Systems vorstellen können. Meiner Erfahrung nach ist das aber in erster Linie Ausdruck eigener Vertragspartner(un)fähigkeit. Diese Meinung steht übrigens in offenem Gegensatz zum Verständnis der ganz überwiegenden Anzahl von Vertretern der einzelnen Krankenversicherungsträger. Dort, wo Gesamtverträge tatsächlich gemacht und gelebt werden, will man sie offensichtlich auf keinen Fall missen.

Und da gibt es auch noch ein Papier des Bundesministeriums für Gesundheit, welches angebliche Eckdaten für ein zu erwartendes PHC-Gesetz enthält. Darin ist für PHC-Zentren ein neuer Typus Gesamtvertrag vorgesehen, der aber essentielle Bestandteile eines Gesamtvertrages nicht mehr haben soll. Ein Gesamtvertrag ohne Honorarordnung und ohne Stellenplan wäre aber – wie dargestellt – eben kein Gesamtvertrag mehr, sondern nur mehr ein ziemlich wertloser Torso, der die Bezeichnung Gesamtvertrag nicht mehr verdienen würde.

Gesamtverträge dienen der Sicherstellung der Sachleistungsvorsorge im niedergelassenen Bereich. Sie sind Ausdruck der Freiberuflichkeit der Vertragsärzte. Ihnen liegt ein System des vertragspartnerschaftlichen Umgangs zwischen Sozialversicherung und Ärzteschaft zugrunde, das sich bereits seit mehr als einem halben Jahrhundert bewährt. Stimmen, die dieses System in seinem Kern gefährden oder gar beseitigen wollen, sind meines Erachtens Stimmen der Unvernunft!

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 23-24 / 15.12.2015