Interview – Johannes Steinhart: Alarmsignale ernst nehmen

25.03.2015 | Politik

Die Verschiebung des ELGA-Starts, der Massen-Exodus von Medizinabsolventen ins Ausland, offene Kassenplanstellen – all das sind Alarmsignale, sagt der Bundeskurienobmann der niedergelassenen Ärzte in der ÖÄK, Johannes Steinhart. Was es dagegen zu tun gilt, erklärt er im Gespräch mit Agnes M. Mühlgassner.

ÖÄZ: Aufgrund der hohen Komplexität und wegen zahlreicher Sicherheitstests wird der ELGA-Start verschoben. Sehen Sie sich in Ihrer grundsätzlichen Kritik an ELGA bestätigt?
Steinhart: Diese beiden Punkte, die die ELGA-Geschäftsführerin Susanne Herbek als Gründe für die Verschiebung genannt hat, sind für mich ein weiterer Beweis, dass ELGA in der jetzigen Form einfach nicht für den Betrieb in den Ordinationen geeignet ist. Man hat ja schon die verpflichtende Einführung von ELGA in denn Spitälern um ein Jahr verschieben müssen. Jetzt ist es sozusagen amtlich, dass das System noch völlig unausgereift ist.

Ihre Hauptkritikpunkte von Beginn an waren ja die mangelnde Anwenderfreundlichkeit, die Datensicherheit und auch die Finanzierung.
Die Datensicherheit ist aus meiner Sicht auch heute noch nicht gegeben und birgt nach wie vor enorme Risken. Dieses zusätzliche Jahr bis zur Einführung sollte auch dazu genutzt werden, um endlich auch die Dokumentenstruktur in ELGA so zu gestalten, dass Informationen rasch und ohne großen Aufwand genutzt werden können. Denn das Durchwühlen von pdf-Dokumenten gehört in die elektronische Steinzeit.

Zur Finanzierung: Die Gesamtkosten von ELGA bis 2017 wurden mit rund 130 Millionen Euro veranschlagt, die laufenden Kosten mit 18 Millionen Euro jährlich. Ist schon geklärt, ob es eine finanzielle Unterstützung für Ärzte gibt und in welcher Höhe?
Hier hat es zwar Gespräche gegeben, und dabei wurde uns auch zugesagt, dass es eine finanzielle Unterstützung für die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte bei der Implementierung von ELGA gibt. Bedauerlicherweise fehlen hier aber jegliche Konzepte und schriftliche Vereinbarungen. Substantiell sind wir also nicht weitergekommen.

Themenwechsel. In Wien haben die Spitalsärzte in einer Abstimmung das neue Gehaltspaket vorerst abgelehnt.
Die Situation der Spitalsärztinnen und Spitalsärzte ist nicht einfach. Ich kann verstehen, warum es Bedenken gibt und so ein Paket abgelehnt wird – auch wegen der geplanten Reduktion von 400 Arztstellen. Mit einem ähnlichen Problem, nämlich dass Kassenvertragsstellen sukzessive verringert werden, kämpfen wir ja im niedergelassenen Bereich schon seit Jahren. Wir haben derzeit rund 900 Kassenvertragsärzte weniger im System als im Jahr 2000 und das, obwohl allein Wien jährlich einen Bevölkerungszuwachs von 30.000 Menschen verzeichnet. Wir brauchen österreichweit mindestens 1.300 zusätzliche Kassenvertragsstellen, um die Versorgung aufrecht zu erhalten.

Durch die Umsetzung des KA-AZG werden vermutlich wieder mehr Patienten in den niedergelassenen Bereich ausweichen. Sind die Ärzte darauf vorbereitet?
Wir wissen, dass die Patienten in die Spitalsambulanzen oft mit kleineren medizinischen Problemen kommen, die eigentlich in den niedergelassenen Bereich gehören und dort auch versorgt werden sollten. Fakt ist aber, dass alle in die Spitalsambulanzen strömen. Wenn man hier eine Trendwende erreichen will – und die diversen Gesundheitspolitiker sagen das ja andauernd – wird das nicht möglich sein, ohne endlich den niedergelassenen Bereich tatkräftig zu unterstützen, die Arbeit zu erleichtern und nicht immer neue Hürden durch Bürokratie und Vorschriften errichtet. Man könnte zum Beispiel sofort die völlig anachronistische Chefarztpflicht abschaffen. Das wäre eine enorme Erleichterung für die tägliche Arbeit in den Ordinationen.

Aber der Patientenansturm auf die Spitalsambulanzen in der Nacht ist doch ein Symptom dafür, dass im niedergelassenen Bereich keine ausreichende Versorgung zur Verfügung steht – oder?
Nein, das stimmt nicht. Wir haben österreichweit mit den diversen Bereitschaftsdiensten beziehungsweise mit dem Ärztefunkdienst hervorragende Systeme. Allerdings stehen wir auch hier vor der Situation, dass in diesen Bereich dringend investiert werden muss. Um diese Systeme am Leben zu erhalten, braucht es auch Ärzte. Und hier scheitert es derzeit daran, dass es keine adäquate Honorierung gibt.

Ärzte sind ja derzeit generell sehr gefragt. Aber die Jungen wollen weg. So hat die Österreichische Hochschülerschaft eine Umfrage präsentiert, wonach mehr als die Hälfte der befragten Medizinstudenten nach Studienende ins Ausland gehen will – Gehalt, Arbeitsbedingungen und Work-Life-Balance wurden als Gründe genannt.
Das sind Argumente, die bei jedem Manager eines Großkonzerns die Alarmglocken läuten lassen müssten. Wir wissen, dass das derzeitige Honorierungssystem für niedergelassene Ärzte zahlreiche Leistungen, die medizinisch gesehen State of the Art sind, einfach nicht berücksichtigt. Studien zufolge haben bis zu zwei Drittel aller Patienten, die in die Ordination eines Allgemeinmediziners kommen, psychosomatische Probleme. Und wir diskutieren herum, ob wir jetzt bei 20 Prozent der Patienten die Honorarposition ärztliches Gespräch abrechnen dürfen oder ob es vielleicht doch mehr sein können. Das ist ja längst nicht mehr zeitgemäß, wie auch der Honorarkatalog schon lang nicht mehr den medizinischen Entwicklungen und Anforderungen entspricht, mit denen Ärztinnen und Ärzte in den Ordinationen konfrontiert sind.

Österreich-weit fehlen viele Kassenstellen. Doch können schon die bestehenden kaum besetzt werden. Die Niederlassung scheint für Jungärzte nicht attraktiv.
Die Vorstellungen, mit denen junge Kolleginnen und Kollegen heutzutage den Arztberuf ergreifen, unterscheiden sich gravierend von denen vor rund 30 Jahren. Gesellschaftliche Entwicklungen haben ihre Auswirkungen auch auf Ärzte: Karriere und Familie sollen kein Gegensatz mehr sein. In vielen Bereichen ist die Medizin schon weiblich oder sie wird es über kurz oder lang. Hier müssen wir auch die Organisationsformen anpassen: etwa die Anstellung von Ärzten bei Ärzten, die erleichterte Zusammenarbeit in Gruppenpraxen, Time-Sharing-Praxen, aber auch zeitgemäße Vertretungsmodelle und Bereitschaftsdienst-Modelle entwickeln.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 6 / 25.03.2015