Gesund­heits­be­rufe: Gewalt ist zuneh­mend ein Berufsrisiko

25.01.2015 | Politik

Aggres­sion und Gewalt stel­len im Gesund­heits­be­reich ein ernst zu neh­men­des Pro­blem dar, wie eine Erhe­bung der Euro­päi­schen Union zeigt. Auch wenn es im Aggres­si­ons- und Gewalt­ma­nage­ment bis­lang noch keine all­ge­mein gül­ti­gen Rezepte gibt: Ori­en­tie­rung bie­tet die Prä­ven­ti­ons-Check­liste.
Von Verena Ulrich

Laut Erhe­bun­gen der Euro­päi­schen Union sind fünf Pro­zent der Mit­ar­bei­ter in Gesund­heits­be­ru­fen der einen oder ande­ren Form von Gewalt aus­ge­setzt. Die Dun­kel­zif­fer ist jedoch höher. Eine Umfrage unter Mit­ar­bei­tern in Not­auf­nah­men zeigt, dass 58 Pro­zent der Befrag­ten bereits Erfah­rung mit ver­ba­ler Bedro­hung haben, 24 Pro­zent mit Schlä­gen und zwei Pro­zent sogar mit Stich- und Schuss­waf­fen. „Einer von 50 bis 100 Pati­en­ten­kon­tak­ten geht mit Aggres­sion ein­her“, so Inge Scholz1, Ober­ärz­tin an einer Wie­ner Unfall­kli­nik. Scholz war in der Ver­gan­gen­heit schon selbst des Öfte­ren mit Gewalt kon­fron­tiert. „Mei­ner Erfah­rung nach trifft es vor allem jün­gere Ärzte. Frauen sind öfter betrof­fen, jedoch bei männ­li­chen Kol­le­gen eska­liert die Gewalt eher“, berich­tet die Ärz­tin von ihren Erfah­run­gen. Stu­dien wei­sen dar­auf hin, dass Alko­hol und Dro­gen die Aggres­si­ons­be­reit­schaft erhö­hen. Am häu­figs­ten wird Gewalt von Pati­en­ten oder deren Ange­hö­ri­gen im psych­ia­tri­schen Bereich ange­wandt. Aber ebenso sind Mit­ar­bei­ter in Not­auf­nah­men oder auf ger­ia­tri­schen Abtei­lun­gen immer wie­der mit Gewalt­ak­ten kon­fron­tiert. Aggres­sion im Kli­nik­all­tag fin­det in unter­schied­li­chen For­men und Aus­prä­gun­gen statt. Ver­bale Aggres­sion und non­ver­bale Gewalt­an­dro­hung wie Spu­cken oder mit dem Fuß stamp­fen kom­men häu­fig vor, tät­li­che Angriffe wie Zer­stö­rung oder Ver­let­zung sel­te­ner. „Es ist wich­tig, dass Ärzte ler­nen, mit Gewalt umzu­ge­hen. Ich habe das Gefühl, es wird oft weg­ge­schaut“, so Scholz.

Alar­mie­rend ist die Tat­sa­che, dass Betrof­fene oft der Mei­nung sind, Gewalt im Gesund­heits­we­sen sei ein übli­ches Job­ri­siko. Mel­dun­gen an den Arbeit­ge­ber oder gar Anzei­gen wer­den meist unter­las­sen. „Auf­klä­rungs- und Hand­lungs­be­darf sind drin­gend erfor­der­lich. Für einen Poli­zis­ten gehört es zum Berufs­ri­siko, mit Gewalt kon­fron­tiert zu sein, für einen Arzt nicht“, sagt Maria Klete­cka-Pul­ker, Geschäfts­füh­re­rin der Platt­form Patientensicherheit.

Die Platt­form Pati­en­ten­si­cher­heit will dem wach­sen­den Gewalt­po­ten­tial in den hei­mi­schen Spi­tä­lern aktiv gegen­steu­ern und Bewusst­sein für die Pro­ble­ma­tik schaf­fen. Zuletzt erfolgte dies im Rah­men ihres Bil­dungs­ta­ges „Kör­per­li­che Sicher­heit von Mit­ar­bei­te­rIn­nen und Pati­en­tIn­nen im Gesund­heits­be­reich“ (siehe auch www.patientensicherheit.at). „Oft gibt es auch den recht­li­chen Irr­tum, dass sich Ärzte nicht kör­per­lich weh­ren dür­fen“, erläu­tert Klete­cka-Pul­ker. Jedoch dür­fen sich auch Ärzte in Not­wehr ange­mes­sen gegen aktu­elle und unmit­tel­bar dro­hende kör­per­li­che Angriffe weh­ren. Klete­cka wei­ter: „Soll­ten gewalt­tä­tige Über­griffe öfter vor­kom­men, muss die Füh­rungs­kraft infor­miert wer­den, sodass prä­ven­tive Maß­nah­men getrof­fen wer­den kön­nen.“ Sie zeigt sich davon über­zeugt, dass durch ent­spre­chende Stra­te­gien eine Viel­zahl der Zwi­schen­fälle ver­hin­dert wer­den könn­ten: „Das Phä­no­men sollte nicht als unver­meid­bare Tat­sa­che hin­ge­nom­men wer­den, an der man nichts ändern kann.“

Schu­lung im Umgang mit Gewalt

Jedoch selbst bei einem offe­nen Umgang mit der The­ma­tik las­sen sich gewalt­tä­tige Über­griffe nicht immer ver­mei­den. Des­we­gen ist es not­wen­dig, alle Mit­ar­bei­ter in Ein­rich­tun­gen des Gesund­heits­we­sens im pro­fes­sio­nel­len Umgang mit Aggres­sion, Gewalt und Dees­ka­la­ti­ons­ma­nage­ment zu schulen.

Seit 2004 initi­iert der Wie­ner Kran­ken­an­stal­ten­ver­bund Trai­ner­schu­lun­gen für Aggressions‑, Gewalt- und Dees­ka­la­ti­ons­ma­nage­ment. „Die Aus­bil­dung zum inter­nen Trai­ner zielt dar­auf ab, Mit­ar­bei­ter so aus­zu­bil­den, dass sie in der Lage sind, in ihrer Ein­rich­tung als Trai­ner und Bera­ter für Dees­ka­la­ti­ons­ma­nage­ment zu arbei­ten“, erläu­tert Harald Ste­fan, aka­de­mi­scher Lei­ter des Pfle­ge­diens­tes und Trai­ner für Sicher­heits- und Deeskalationsmanagement.

In fünf­tä­gi­gen Basis­kur­sen ler­nen die Teil­neh­mer Prä­ven­tion von Gewalt und den rich­ti­gen Umgang mit aggres­si­vem Ver­hal­ten. Neben theo­re­ti­schen Inhal­ten wie Aggres­si­ons­ent­ste­hung, dees­ka­lie­rende Gesprächs­füh­rung, non­ver­bale Kom­mu­ni­ka­tion und Dees­ka­la­ti­ons­ma­nage­ment wer­den auch prak­ti­sche Inhalte wie Befrei­ungs- und Hal­te­tech­ni­ken trai­niert. „Die Tech­ni­ken sind so aus­ge­rich­tet, dass sie keine Schmer­zen ver­ur­sa­chen. Es muss schließ­lich nach der Gewalt­es­ka­la­tion mit den Pati­en­ten wei­ter­ge­ar­bei­tet wer­den“, erläu­tert Ste­fan sei­nen Zugang. Die Kurse wer­den auf die jewei­li­gen Abtei­lun­gen abge­stimmt und dar­auf, wel­che Arten von Gewalt und Aggres­sion dort vorkommen.

Der erste Schritt in der Bewäl­ti­gung von Aggres­sion in Gesund­heits­ein­rich­tun­gen ist es, das Phä­no­men wahr­zu­neh­men, zu ver­ste­hen und Stra­te­gien dage­gen zu ent­wi­ckeln. „Es ist wich­tig, zu ver­ste­hen, woher Aggres­sion kommt. Es gibt immer Gründe dafür und die kön­nen Hin­weise für prä­ven­tive Maß­nah­men geben“, betont Rein­hard J. Topf, Lei­ter der Psy­cho­so­zia­len Abtei­lung am St. Anna-Kin­der­spi­tal in Wien. Im Kli­nik­all­tag befin­den sich Pati­en­ten in einem emo­tio­na­len Aus­nah­me­zu­stand und das kann zu einer ange­spann­ten Situa­tion führen.

Die Wahr­neh­mung ist ein­ge­schränkt und Infor­ma­tio­nen wer­den nur selek­tiv auf­ge­nom­men. „Die Arzt-Pati­en­ten­be­zie­hung ist hoch auf­ge­la­den mit irra­tio­na­len Fak­to­ren. Es wird ein wenig unter­schätzt, wie unbe­wusste Kräfte wir­ken, wenn ein Mensch sich abhän­gig, aus­ge­lie­fert und bedürf­tig fühlt. Daher ist es enorm wich­tig, um diese Kräfte zu wis­sen und dar­auf ein­zu­ge­hen“, so der Experte. In den meis­ten Fäl­len von Aggres­si­ons­er­eig­nis­sen wer­den unbe­frie­digte oder nicht wahr­ge­nom­mene Bedürf­nisse als Ursa­che genannt. Wer­den die Bedürf­nisse eines Men­schen, der sich in gesund­heit­li­cher Not befin­det, nicht wahr­ge­nom­men, kann es pas­sie­ren, dass er sich in sei­ner Scham und Würde ver­letzt fühlt. Das kann zu Über­re­ak­tio­nen füh­ren, die sich in aggres­si­ven Ver­hal­tens­wei­sen äußern. „Der Schlüs­sel ist, allen Men­schen – egal, woher und in wel­cher Ver­fas­sung sie kom­men – so ent­ge­gen­zu­tre­ten, dass sie sich respekt­voll und ein­fühl­sam behan­delt füh­len“, rät Topf.

Bün­del an Maßnahmen

„Gewalt hat selbst­ver­ständ­lich auch mit den Struk­tur­be­din­gun­gen zu tun“, weiß Topf. Zeit­druck und die vie­ler­orts beklagte Arbeits­über­las­tung bie­ten laut dem Exper­ten zusätz­li­chen Nähr­bo­den für ein ange­spann­tes Kom­mu­ni­ka­ti­ons­klima. Lange War­te­zei­ten füh­ren dazu, dass ein Pati­ent schon mit einer gewis­sen Aggres­si­ons­be­reit­schaft im War­te­zim­mer sitzt. Das ärzt­li­che Per­so­nal muss laut Topf so aus­ge­stat­tet sein, dass es gute Arbeits­be­din­gun­gen vor­fin­det und auf den Pati­en­ten ein­ge­hen kann. „Ein Bün­del an Maß­nah­men ist nötig, um die Gewalt im Spi­tal­s­all­tag zu redu­zie­ren“, for­dert Topf. Per­so­nal­be­zo­gene, orga­ni­sa­to­ri­sche und pati­en­ten­be­zo­gene Stra­te­gien müs­sen dabei inein­an­der­grei­fen. „Dees­ka­la­ti­ons­schu­lun­gen für das Per­so­nal, Sicher­heits­maß­nah­men in der Kran­ken­an­stalt und eine Atmo­sphäre, in der Mit­ar­bei­ter offen über ihre Erfah­run­gen spre­chen kön­nen“, emp­fiehlt Klete­cka-Pul­ker als Maß­nah­men zum bes­se­ren Umgang mit Gewalt im Gesund­heits­be­reich. Die Ver­ant­wor­tung sieht sie dabei bei den Führungskräften.

„Mit­ar­bei­ter der Gesund­heits­be­rufe haben das Recht auf Schutz und Men­schen­würde in der Berufs­aus­übung. Pati­en­ten und deren Ange­hö­rige haben das Recht auf pro­fes­sio­nelle medi­zi­nisch-pfle­ge­ri­sche Ver­sor­gung sowie mensch­li­che Zuwen­dung“, führt Ste­fan aus. All­ge­mein gül­tige Rezepte im Aggres­si­ons- und Gewalt­ma­nage­ment wur­den laut dem Dees­ka­la­ti­ons­trai­ner noch nicht gefun­den. „Annä­he­run­gen und bes­se­res Ver­ständ­nis sind jedoch mög­lich, wenn sich alle Betei­lig­ten um ein kon­struk­ti­ves Mit­ein­an­der bemü­hen“, ist Ste­fan überzeugt.

1 Name von der Redak­tion geändert

Prä­ven­ti­ons-Check­liste für mehr Sicherheit

  • Hal­ten Sie Gewalt für mög­lich und ent­schei­den Sie sich für Selbstschutz.
  • Wenn Sie oder ein Mit­ar­bei­ter bedroht wer­den, stop­pen Sie sofort Ihr the­ra­peu­ti­sches Tun.
  • Spre­chen Sie wach­sende Aggres­sion im Team und im Umgang mit Pati­en­ten sowie Ange­hö­ri­gen an.
  • Ana­ly­sie­ren Sie Flucht- und Deckungsmöglichkeiten.
  • Instal­lie­ren Sie einen Not­fall­knopf in Reichweite.
  • Ihre wich­tigste Abwehr­mög­lich­keit ist Ihre Kom­mando Stimme.
  • Ler­nen Sie Deeskalationsstrategien.
  • Pro­ben Sie Ernst­fälle, um vor­be­rei­tet zu sein!
  • Über­prü­fen Sie, ob Sie aus­rei­chend ver­si­chert sind (Unfall, Betriebs­un­ter­bre­chung, Rechtsschutz).
  • Wenn es um Ihr Leben geht, dann kämp­fen Sie!

Quelle: Vor­trag Bil­dungs­tag „Kör­per­li­che Sicher­heit von Mit­ar­bei­tern und Pati­en­ten im Gesund­heits­be­reich“; Platt­form Patientensicherheit

Tagung „High Noon“ – Gewalt und Dees­ka­la­tion in Gesundheitseinrichtungen

Wann: 18. und 19. Juni 2015

Wo: Hotel Schloss Wil­hel­mi­nen­berg, 1160 Wien

Infor­ma­tion und Anmel­dung:
www.pflegenetz.at

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 1–2 /​25.01.2015