England: Tradition trifft Wirklichkeit

10.09.2015 | Politik


Freie Gesundheitsversorgung für alle. – Mit diesem Leitsatz schreibt der Nationale Gesundheitsdienst Englands seit 1948 Geschichte. Die Briten sind stolz auf diese Philosophie, doch der National Health Service (NHS) macht immer häufiger negative Schlagzeilen. Reformen sind im Gange. Wie so oft fehlt es vor allem an einem: Geld.
Von Nora Schmitt-Sausen

Mit Studien, Umfragen und Statistiken ist das immer so eine Sache – selbst, wenn sie aus einer renommierten Quelle stammen. Im vergangenen Sommer ließ eine Erhebung des Commonwealth Fund aufhorchen. Die in den USA ansässige und international angesehene Stiftung kürte den NHS zum besten Gesundheitssystem der Welt. „Das Vereinigte Königreich belegt insgesamt den ersten Platz. Es erzielte die höchsten Werte bei Qualität, Zugang und Effizienz“, heißt es in dem Report. Für den Bericht wurden die Gesundheitssysteme von elf Industrienationen untersucht und miteinander verglichen; darunter waren neben Großbritannien beispielsweise die USA, Frankreich, Deutschland und die Niederlande. Ausgewertet wurden Informationen von Patienten, Ärzten und der Weltgesundheitsorganisation.

Die Briten freuten sich natürlich über das positive Resultat. Mark Porter, Vorsitzender der British Medical Association, kommentierte im „Guardian“ hocherfreut: Die Ergebnisse seien ein „klarer Beweis, dass unser viel geschmähter NHS eines der leistungsfähigsten Gesundheitssysteme in der Welt ist.“ Kein Jahr später: eine andere Studie, ein anderes Ergebnis. „The Economist Intelligence Unit“, eine Forschungseinrichtung des britischen Medienhauses Economist, kommt in einem Vergleich von 30 Gesundheitssystemen nur zu einer einzigen Schlussfolgerung, nämlich der, dass das Vereinigte Königreich im internationalen Vergleich schlecht abschneidet. Die Autoren überreichen dem NHS beinahe die rote Laterne; sie platzieren ihn auf Platz 28. Untersucht wurden die Aspekte Finanzmittel, Ressourcen, Behandlungsergebnisse. Fazit des Reports: Das britische System hinkt in puncto Arztdichte, Krankenschwestern, Klinikbetten und Ausstattung anderen Ländern deutlich hinterher (siehe Kasten).

NHS: nicht zukunftstauglich

Für die Autoren dieser Studie ist klar: Zukunftstauglich ist der NHS nicht. Und mit dieser Meinung stehen sie nicht alleine da. In England weiß inzwischen eigentlich jeder, dass der Motor des NHS nicht mehr einwandfrei läuft. Vielmehr ist der Gesundheitsdienst selbst ein komplizierter Patient geworden. Und die Aussichten sind nicht gut: Nach eigenen Prognosen hat der englische Gesundheitsdienst in naher Zukunft ein Finanzloch von bis zu 30 Milliarden Pfund. Vor allem die durch die Finanzkrise zusätzlich befeuerte Mittelknappheit gepaart mit den steigenden Anforderungen durch den demographischen Wandel setzen dem System zu. Schon jetzt werden immer häufiger fatale Versorgungsprobleme bekannt. Vor allem die Notfallmedizin in England hat in jüngster Vergangenheit verheerende Schlagzeilen gemacht. Es tauchen regelmäßig Berichte darüber auf, dass Patienten auf den Korridoren der Notaufnahmen stundenlang warten müssen, bis sie versorgt werden; es gab bereits mehrfach Todesfälle.

Politik unter Zugzwang

Im zurückliegenden Wahlkampf in diesem Frühjahr war der nationale Gesundheitsdienst eines der zentralen Themen. Doch für die Polit-Elite sind Systemkorrekturen ein Drahtseilakt, denn die Engländer verehren ihr System, das ihnen aus Steuergeldern eine nahezu kostenfreie Versorgung ermöglicht. In England wird der Status des NHS nicht selten mit der einer Religion gleichgesetzt. Alle Parteien versprachen so denn auch, das Prinzip der staatlichen Gesundheitsfürsorge für alle Bürger nicht anrühren zu wollen und dem NHS weitere Budgetkürzungen zu ersparen. Auch nach der Wahl haben diese Versprechen entgegen vieler Befürchtungen wohl Bestand. David Cameron bekräftigte, dass der Etat des NHS trotz leerer Staatskassen nicht gekürzt werde.

Jüngere Bemühungen, den NHS zu reformieren, zeigen bislang keine Durchschlagskraft. Dabei wurde in den Jahren 2010 beziehungsweise 2012 von der Regierung eine massive – sehr umstrittene Reform – auf den Weg gebracht, nach der die Strukturen des NHS in seinen Grundfesten verändert werden sollten. Die Ansätze (etwa: mehr Wettbewerb und Privatisierung, Dezentralisierung, Bürokratieabbau, mehr Machtfülle für Ärzte) verursachten insgesamt jedoch mehr Chaos als sie nutzten; inzwischen nehmen selbst einstige Befürworter Abstand davon. Die britische Presse geht mit der englischen Gesundheitspolitik teils hart ins Gericht. Der „Economist“ spricht gar von einem „politischen Desaster“.

Mehr Prävention, weniger Großkliniken

Heute gibt es wenig Hoffnung, dass in Zukunft Reformbestrebungen mehr Erfolg haben. Diese Hoffnung trägt den Namen Simon Stevens. Stevens ist seit April 2014 der neue Kopf von NHS England. Schon ein halbes Jahr nach seinem Amtsantritt legte er einen Fünf-Jahres-Plan vor, in dem er die künftige Marschroute für das NHS skizziert.

Der NHS-Chef schlägt darin massive Investitionen in Prävention und öffentliche Gesundheit sowie das Selbstmanagement der Patienten vor. Behandlungsintensive Krankheiten wie etwa Diabetes mellitus dürften gar nicht erst zu einem Problem werden. Wie in vielen anderen Industrienationen verursacht die Volkskrankheit auch in England hohe Kosten. Aktuell investiert das NHS zehn Prozent seines Budgets allein in die Behandlung von Diabetes mellitus. Ein weiteres Kernelement der Pläne ist, die Patientenversorgung stärker auf die lokale Ebene zu verlagern sowie medizinisches Personal und Versorgungsanbieter besser zu vernetzen. Im Klartext heißt das: Stevens will lange bestehende Grenzen zwischen Allgemeinmedizin und dem Krankenhaussektor sowie dem Gesundheits- und Sozialsektor einreißen. Lokal, integriert, personalisiert und kosteneffizient – so sieht die Gesundheitsversorgung von England in der Vision von Stevens künftig aus. Stevens glaubt, dass das NHS nur durch diese – von einigen schon lange geforderten – Kurskorrekturen in der Lage sein wird, dem zunehmenden Versorgungsbedarf einer alternden Bevölkerung gerecht zu werden.

Dass dieser Weg nicht einfach wird, dessen ist sich Stevens bewusst. Aber er lässt keine Zweifel daran, dass gehandelt werden muss. „Der Druck auf das System verstärkt sich, und seit langem bestehende Probleme werden nicht über Nacht verschwinden“, sagte er in seiner Antrittsrede. Und er bringt es klar auf den Punkt, was sich manch einer lange gescheut hat zu sagen: Die kommenden Jahre werden für den NHS „eine Herausforderung in einer Größenordnung, die das System in seiner langjährigen Geschichte noch nicht erlebt hat“.


Der NHS im Überblick

Das britische Gesundheitswesen ist in einigen Regionen der Welt, die auf ein staatliches Gesundheitssystem setzen, noch immer ein Synonym für Fortschritt. Die Bevölkerung erhält durch den NHS eine vergleichsweise qualitativ hochwertige und weitestgehend kostenlose Versorgung – finanziert aus Steuermitteln. Der NHS England hat ein jährliches Budget von 113 Milliarden Pfund (rund 154 Milliarden Euro). England, Schottland, Wales und Nordirland organisieren ihre Systeme unabhängig voneinander.

Die Fakten: Laut Health Statistik 2014 der OECD steckt das Vereinigte Königreich 9,3 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts in die Gesundheit – ein Durchschnittswert im OECD-Vergleich; allerdings weniger, als in vielen anderen europäischen Ländern aufgebracht wird. Im Zuge der Finanzkrise waren die Investitionen außerdem weitaus niedriger. Der NHS musste die tiefsten Einschnitte in seiner Geschichte hinnehmen. Eine Besonderheit des Systems: 84 Prozent der Mittel stammen allein aus öffentlichen Geldern. Im OECD-Durchschnitt sind es lediglich 72 Prozent.

Das Vereinigte Königreich hat in den 2000er Jahren damit begonnen, mehr medizinisches Personal auszubilden, um sein Primärarztsystem zu stärken und die Abhängigkeit von ausländischen Ärzten zu verringern. Das Ergebnis: Heute kommen auf 1.000 Einwohner 2,8 Ärzte; im Jahr 2000 waren es lediglich 2,0. Der Zugang zur Versorgung habe sich durch diese personelle Aufstockung verbessert, urteilt die OECD; gleichzeitig steige dadurch aber der Kostendruck. Auf 1.000 Einwohner kommen 8,2 Krankenschwestern; im OECD-Schnitt sind es 8,8. Ein drastisches Bild ergibt sich beim Blick auf die Anzahl von Krankenhausbetten. Es gibt lediglich 2,8 Betten für 1.000 Bürger (OECD-Durchschnitt: 4,8).

Eine der zentralen Folgen des Personalschlüssels sind lange Wartezeiten auf Termine und Behandlungen – sowohl in Arztpraxen als auch in Krankenhäusern.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 17 / 10.09.2015