China: Zukunftspfand Gesundheit

10.10.2015 | Politik

Bislang war für Chinesen der Zugang zum dreistufigen Gesundheitssystem schwierig. Erst seit 2009 wird es massiv umgebaut mit dem Ziel, der gesamten Bevölkerung bezahlbaren Zugang zu einer qualitativ guten Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Die jährlichen Gesundheitsausgaben für die 1,3 Milliarden Chinesen sollen – so der Plan der Regierung – von derzeit rund 400 Milliarden Euro langfristig mehr als verdoppelt werden.
Von Nora Schmitt-Sausen

Ein Brief aus China: „Man hat das merkwürdige Gefühl, in einer Maschine zu sein, wie ein Fremdkörper, etwa ein Sandkorn. … Niemand hat irgendein Recht, nicht mal auf medizinische Versorgung. Man kann nur nachfragen, betteln oder zupacken.“ Mit diesem Eintrag in seinem Tagebuch beschreibt einer der China-Korrespondenten der New York Times sein Empfinden während eines zehntägigen Krankenhausaufenthaltes in Chinas Hauptstadt Beijing. Und in seinem Erfahrungsbericht fährt er fort: „Es ist schwer, einen Arzt zu sehen“, sagt er über das unterfinanzierte, oft korrupte Gesundheitssystem des Landes. In ihrem Frust attackieren einige Patienten ihre Ärzte. Bestechung ist weit verbreitet. Die Angehörigen von Patienten harren in den Wartezimmern und den Fluren der Krankenhäuser aus oder campieren vor der Tür. Sie kümmern sich um die Kranken, um die mangelnde Betreuung aufzufangen. Um die Aufmerksamkeit der Krankenhausmitarbeiter zu bekommen, initiieren sie manchmal laute Proteste. Es ist einer von vielen Berichten, die alle eines besagen: Um Chinas Gesundheitssystem ist es nicht gut bestellt.

In einer rapiden Transformation ist das einstige Entwicklungsland zur größten Handelsmacht und zweitgrößten Volkswirtschaft nach den USA aufgestiegen. Doch allein beim Thema Gesundheit trennen die beiden dominierenden Groß-Nationen noch immer Welten. Während sich die USA das kostspieligste Gesundheitssystem der Welt erlauben (16,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts flossen 2012 in Gesundheit), zählt China zu den Schlusslichtern, was Investitionen anlangt (5,4 Prozent des BIP).

Die Strukturprobleme in dem riesigen Land, das zu weiten Teilen aus ländlichen Gebieten besteht, sind gravierend. Gerade einmal 1,6 Ärzte stehen für die Betreuung von 1.000 Menschen zur Verfügung. Im OECD-Durchschnitt sind es doppelt so viele. Auch stehen pro 1.000 Einwohner auch nur 1,8 Krankenschwestern zur Verfügung (OECD-Durchschnitt: 8,8). Obwohl auch in China die Lebenserwartung der Menschen in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gestiegen ist, liegt sie immer noch weit unter dem weltweiten Niveau. Chinesen sterben durchschnittlich fünf Jahre früher, mit 75 Jahren.

Dreistufige Versorgung

Das Prinzip der Versorgung ist dreistufig: Kleinere Kliniken in Dörfern und Gemeinden kümmern sich um die Basisversorgung. Bislang geschieht dies vielerorts aber lediglich auf sehr niedrigem Niveau. Ordinationen gibt es kaum. Kommunale Gesundheitszentren sind Anlaufstelle für die etwas anspruchsvolleren Fälle – jedenfalls theoretisch. Doch diese erst seit einigen Jahren etablierten Versorgungszentren haben sich noch nicht durchgesetzt. In den Zentren werden Patienten ambulant betreut; es gibt aber auch Betten für die stationäre Aufnahme. Das Problem: Auch hier sind die Versorgungsstandards bislang nicht hoch; dementsprechend ist der Ruf der Einrichtungen und der dortigen medizinischen Versorgung schlecht. Die Chinesen zieht es deshalb in die größeren, besser ausgestatteten und spezialisierten Krankenhäuser in den Städten. Hier variieren Qualität und Ausstattung ebenfalls erheblich; doch in den wohlhabenden Großstädten sind die Standards inzwischen gut. Dass sich die Bürger im Ernstfall fast überwiegend in den Städten statt vor Ort versorgen lassen, ist teuer. Die Kosten der großen Kliniken belasten das System. Gleichzeitig überfordert der Andrang die städtischen Ressourcen. Immer wieder gab es Bestrebungen von Provinzregierungen, Patienten zunächst in die ortsnahe Versorgung zu lotsen, doch bislang war dies wenig erfolgreich. Die medizinische Versorgung in den ländlichen Regionen ist qualitativ schlicht noch zu schlecht.

Die Bürden für Chinas Bürger sind in jeder Hinsicht hoch. Um einen Arzt zu Gesicht zu bekommen, müssen sie nicht nur Zeit und Wegstrecke investieren, sondern stets auch Geld. Jeder Krankenhausaufenthalt stellt für Chinesen ein finanzielles Risiko dar. Wer sich in Behandlung begeben muss, zahlt – selbst wenn er versichert ist – einen erheblichen Teil der Kosten selbst. Bürgern, die schwer erkranken wie beispielsweise an Krebs, droht aufgrund der Tatsache, dass sie den überwiegenden Teil der Behandlungskosten selbst tragen müssen, der Ruin.

Neben dem schwierigen Zugang zur ärztlichen Versorgung sind horrende Arzneimittelkosten ein weiteres zentrales Problem des Landes. Dazu gesellen sich Bestechung und Korruption. Die großzügige Verschreibung von Medikamenten stellt für Kliniken und Mediziner eine lukrative Nebeneinnahme dar. Viele dieser Probleme sind historisch gewachsen (siehe Kasten); so bleiben soll es nicht.

Milliarden-Investitionen in Gesundheit

Die politische Führung des Landes reagiert auf die Defizite. Seit 2009 vollzieht die Regierung einen massiven, sukzessiven Umbau des Gesundheitssystems. Übergeordnetes Ziel ist es, der gesamten Bevölkerung landesweit einen bezahlbaren Zugang zu einer qualitativ guten Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Bis 2020 soll dieses Ziel erreicht sein. Erste, deutliche Verbesserungen sind spürbar. Innerhalb relativ kurzer Zeit sind durch die teils staatlich subventionierte Krankenversicherung 95 Prozent der Bevölkerung zumindest grundversichert – entweder über den jeweiligen Arbeitgeber oder mit Hilfe des Staates. Noch vor wenigen Jahren war das Bild völlig anders: 2003 hatten lediglich 30 Prozent der Chinesen eine Krankenversicherung.

Sukzessive hat die Regierung auch den Umfang der Versorgungsleistungen ausgeweitet. In Zukunft sollen weite Teile aller anfallenden Gesundheitskosten getragen werden: Ziel ist es, dass 80 Prozent der Krankheitskosten übernommen werden und lediglich noch ein Eigenanteil von 20 Prozent übrig bleibt.

Das Bemühen Chinas verlangt der internationalen Gemeinschaft Respekt ab; wichtige Akteure wie WHO und Weltbank stehen den Chinesen bei der Reform zur Seite. „Wir freuen uns, mit der Weltbank zusammenzuarbeiten, um die chinesische Regierung in einer entscheidenden Phase der Gesundheitsreform zu unterstützen. China hat nun eine beispiellose Gelegenheit, innovativ zu sein und neue Modelle von Gesundheitsleistungen zu entwickeln, in denen der Mensch im Mittelpunkt steht, und bei denen die Bedürfnisse und Anforderungen von Chinas riesiger Bevölkerung bedient werden“, verkündete Vivian Lin, Director Health Systems im WHO-Regionalbüro West Pazifik, zu Jahresbeginn.

Neben der Krankenversicherung ist die Versorgungsstruktur ein zentraler Reformbaustein. Kernziel ist es, die Versorgungsschere zwischen den oft armen, ländlichen Regionen und den stadtnahen Gebieten und Metropolen zu schließen. Um die medizinische Versorgung vor Ort zu verbessern, soll ein gut ausgestattetes Primary Care System aufgebaut werden und ein landesweites Netz mit Gesundheitszentren und Kliniken entstehen. In die Modernisierung der maroden Krankenhäuser wird erheblich investiert, ebenso in die Ausbildung von zusätzlichem ärztlichem Personal. Vor allem soll das System in großer Zahl Landärzte hervorbringen, also Allgemeinmediziner, nicht wie bislang vor allem Spezialisten. Auch die Liberalisierung des Medikamentenmarktes ist fester Bestandteil der Reform.

Gestörtes Arzt-Patienten-Verhältnis

Noch kein wirkliches Rezept hat die Regierung für das angespannte Verhältnis von Ärzten und Patienten gefunden. Die Lage ist in jüngerer Vergangenheit eskaliert. Immer wieder gibt es Berichte von Übergriffen auf Ärzte, wenn sich der Frust der Bevölkerung entlädt. Die Patienten beleidigen Ärzte, bespucken sie und schlagen sie sogar. Laut der Chinese Medical Doctor Association sind schon mehr als 70 Prozent der Ärzte in China von Patienten beschimpft worden oder haben physische Gewalt erfahren. Die Soziologin Cheris Shun-ching Chan von der Universität Hong Kong spricht in der New York Times von einem „tiefen Misstrauen“ und einer „schwierigen“ Atmosphäre.

Dies rührt auch daher, dass man etwa, um in einem der überbelegten Krankenhäuser gut behandelt zu werden, häufig Schmiergeld bezahlen muss. Offiziell ist das verpönt, seit 2014 sogar verboten. Doch jeder weiß, dass es nur so funktioniert. Wer kann, hat beim Klinikbesuch einen „hongbao“ in der Hand, einen roten Umschlag, in dem sich ein Geldbetrag von mehreren hundert Euro befindet. Besonders vor Operationen ist es alltägliche Praxis, dass Patienten den roten Umschlag ziehen. Studien zeigen: Die meisten Ärzte greifen zu. Doch nicht nur die Patienten hadern mit den Zuständen, sondern auch viele Ärzte: Der tägliche Umgang mit frustrierten, schwierigen Patienten, die hohe Arbeitsdichte, starker Druck und niedrige Honorare im Vergleich zu anderen Berufen machten das Arzt-Sein in China zu keinem Geschenk. Mehr noch: Unter allen Berufsgruppen haben Ärzte den schlechtesten Ruf. Und kaum jemand empfiehlt seinem Kind in China heute mehr, Arzt zu werden. Unter diesen Voraussetzungen wird der geplante Ausbau des medizinischen Personals kein leichtes Unterfangen für die Regierung. Immerhin: Die Gehälter der Ärzte sollen angehoben werden als Anreiz, den Beruf zu ergreifen.

Vom Erfolg der Gesundheitsreform hängt für die Entwicklungsperspektive von China viel ab. Das Signal ist klar: Die Chinesen – bislang bekannt als notorische Sparer – sollen wissen, dass sie im Krankheitsfall versorgt sind. Sie sollen ihr Geld ausgeben statt es wie bisher für gesundheitlichen Probleme auf die Seite zu legen. Nicht nur diese Herausforderung stellt sich: So bekämpft die politische Führung die steigende Anzahl westlicher Zivilisationskrankheiten wie Diabetes mellitus und Alkoholmissbrauch der Bevölkerung. Und sie tritt engagierter als bisher dem demographischen Wandel entgegen, den die Regierung durch ihre langjährige Ein-Kind-Politik selbst noch befeuert hat.

Die chinesische Regierung hat die Zeichen der Zeit erkannt. Sie weiß, was auf sie zukommt. Die jährlichen Ausgaben für Gesundheit sollen weiter steigen und sich auf lange Sicht mehr als verdoppeln. Sie liegen heute bereits bei circa 400 Milliarden Euro im Jahr – höher als je zuvor.

Die Geschichte der Gesundheitsversorgung

Das Gesundheitswesen in China hat in den vergangenen Jahren gleich mehrere Reformprozesse durchlaufen. Mit Gründung der Volksrepublik im Jahr 1949 hat die kommunistische Regierung des Landes ein System aufgebaut, das denen anderer kommunistischer Staaten glich: Die Versorgung lag vollkommen in staatlicher Hand, die Ärzte waren Staatsdiener, die Krankenhäuser in staatlichem Besitz. Die arbeitende Stadt Bevölkerung musste für den Besuch beim Arzt nahezu nichts bezahlen. Auf dem Land regelten die sogenannten „Barfuß-Ärzte“ auf Geheiß der Staatsspitze die Versorgung. Dabei handelte es sich um rudimentär ausgebildete Ärzte, die von Dorf zu Dorf zogen, um die dort ansässige Bevölkerung – meist Bauern – zu versorgen. Dies verbesserte die Situation erheblich. Bis heute genießt die Idee der „Barfuß-Ärzte“ der frühen Tage hohe Wertschätzung.

In den 1980er Jahren öffnete sich China gegenüber marktwirtschaftlichen Entwicklungen und liberalisierte auch das Gesundheitssystem. Die Rolle der Regierung wurde reduziert: War man kein Staatsdiener, war man auf einmal nicht mehr versorgt. Für den Gesundheitssektor bedeutete der Rückzug des Staates, dass Krankenhäuser und Ärzte nur noch wenige staatliche Zuwendungen erhielten und ihnen so die finanzielle Grundlage entzogen wurde. In den medizinischen Institutionen entwickelte sich dadurch eine Dynamik, bei der Profitsteigerung eine maximale Rolle spielte. Die Folgen des staatlichen Rückzuges ohne den gleichzeitigen gezielten Aufbau von privaten Versorgungs- und Versicherungsstrukturen waren gravierend. Ende der 1990er Jahre waren in China nur sieben Prozent der Landbevölkerung krankenversichert. Auch in städtischen Gebieten hatte nur jeder zweite eine Versicherung. Die Krux: Um den Zugang der Bevölkerung zu einer Grundversorgung zu wahren, hatte die Regierung per Gesetz dafür gesorgt, dass Besuche bei Ärzten bezahlbar blieben. Bei Medikamenten und Medizintechnik aber wurden die Preise nicht gedeckelt. Für die vergleichsweise schlecht bezahlten Ärzte entstand so eine neue Einnahmequelle: Sie verschrieben immer mehr Medikamente und Untersuchungen. Dies belastete das System und sorgte für noch mehr Ungleichgewicht in der Versorgung, da sich viele die teuren Medikamente und Behandlungen nicht leisten konnten. Auch wanderten in dieser Zeit Ärzte in die Städte ab, um dort zahlungskräftigere Patienten zu behandeln.

Anfang der 2000er Jahre reagierte Chinas Regierung auf die immer stärker aufkommende Unzufriedenheit der Bevölkerung. Sie übernahm für die Landbevölkerung einen Teil der Kosten von Besuchen im Krankenhaus. Erfolgreich war diese Initiative nicht, denn sie begünstigte weiterhin die – kostspielige – Versorgung in stadtnahen, spezialisierten Groß-Krankenhäusern statt auf Primary Care vor Ort zu setzen.

Im Jahr 2008 setzte sich in der chinesischen Regierung schließlich die Erkenntnis durch, dass sich sowohl die Versorgungs- als auch die Versicherungslandschaft im Land ändern müssten. Das Experiment, ein Gesundheitssystem nach Prinzipien des freien Marktes walten zu lassen, ist damit beendet. Die aktuellen Reformbemühungen, die das Ziel haben, allen Chinesen einen bezahlbaren Zugang zur Versorgung zu ermöglichen, sollen im Jahr 2020 abgeschlossen sein (Zentrale Quelle: New England Journal of Medicine).

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 19 / 10.10.2015