Unspe­zi­fi­scher Rücken­schmerz: Meist selbstlimitierend

25.05.2015 | Medizin

Rücken­schmer­zen sind übli­cher­weise selbst­li­mi­tie­rend; bei nahezu 90 Pro­zent der Betrof­fe­nen ver­ge­hen die Beschwer­den nach eini­gen Wochen. Bestehen die Schmer­zen jedoch län­ger als sechs Wochen, muss die Ursa­che dafür eru­iert werden.

Moderne Behand­lungs­kon­zepte zum Manage­ment von Rücken­schmer­zen zie­len neben der Schmerz­re­duk­tion bezie­hungs­weise Schmerz­ak­zep­tanz auf den Erhalt der Akti­vi­tä­ten des täg­li­chen Lebens (ADL) ab. Obers­tes Ziel: einen Chro­ni­fi­zie­rungs­pro­zess auf­hal­ten bezie­hungs­weise ver­hin­dern. Dazu Univ. Doz. Chris­tian Bach von der Abtei­lung für Ortho­pä­die am Lan­des­kran­ken­haus Feld­kirch: „Dies ist des­halb von so gro­ßer Bedeu­tung, da in den indus­tria­li­sier­ten Län­dern allein durch den Rücken­schmerz Kos­ten in der Höhe von ein bis zwei Pro­zent des Brut­to­in­lands­pro­dukts ent­ste­hen. Etwa 15 Pro­zent davon sind Behand­lungs­kos­ten. Der Löwen­an­teil von 85 Pro­zent geht in den indi­rek­ten Kos­ten für die Arbeits­un­fä­hig­keit auf.“

Beson­ders psy­cho­so­ziale Fak­to­ren tra­gen zum Über­gang vom aku­ten in den chro­ni­schen Schmerz ent­schei­dend mehr bei als bio-medi­zi­ni­sche oder bio­me­cha­ni­sche Fak­to­ren. „Des­halb ist die Kom­bi­na­tion meh­re­rer The­ra­pie­for­men im Sinne eines mul­ti­mo­da­len Zugan­ges laut der aktu­el­len medi­zi­ni­schen Lite­ra­tur eines der erfolg­reichs­ten Kon­zepte bei der Behand­lung des Rücken­schmer­zes“, kon­sta­tiert Priv. Doz. Roman Radl von der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Ortho­pä­die und ortho­pä­di­sche Chir­ur­gie der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Graz. Im Rah­men des mul­ti­mo­da­len The­ra­pie­an­sat­zes arbei­ten ver­schie­dene Fach­the­ra­peu­ten eng zusam­men. Jedoch sind dafür gewisse Vor­aus­set­zun­gen erfor­der­lich, wie die bei­den Exper­ten beto­nen – sind doch ihrer Ansicht nach Haus­ärzte und Ortho­pä­den „prä­de­sti­niert“ für das Manage­ment von Pati­en­ten mit Rückenschmerzen.

Zusätz­li­che Kennt­nisse erforderlich

Um den Schmerz zeit­ge­recht abzu­klä­ren, zu klas­si­fi­zie­ren und auch erfolg­reich zu behan­deln, sol­len neben jah­re­lan­ger Erfah­rung und einer manu­al­me­di­zi­ni­schen Aus- und Wei­ter­bil­dung auch Kennt­nisse von ortho­pä­di­schen Unter­su­chungs­tech­ni­ken und Krank­heits­bil­dern vor­han­den sein. Kon­kret bedeu­tet dies, dass der nie­der­ge­las­sene Ortho­päde eine Schlüs­sel­rolle bei der Dia­gnos­tik und The­ra­pie, der All­ge­mein­me­di­zi­ner wie­derum bei der Behand­lung des Rücken­schmer­zes ein­nimmt. Radl dazu: „Beim All­ge­mein­me­di­zi­ner liegt die Ver­ant­wor­tung, recht­zei­tig die gefor­der­ten dia­gnos­ti­schen Schritte ein­zu­lei­ten.“ Ebenso obliege dem All­ge­mein­me­di­zi­ner auch die Auf­gabe, früh­zei­tig zu den Fach­dis­zi­pli­nen wie Ortho­pä­die und Trau­ma­to­lo­gie, Neu­ro­lo­gie oder Psy­cho­lo­gie zu über­wei­sen, um eine Chro­ni­fi­zie­rung zu ver­mei­den. Eine Über­wei­sung zum Spe­zi­al­zen­trum ist dann ein­zu­for­dern, wenn trotz nicht-inva­si­ver The­ra­pien die Beschwer­den anhal­ten und inva­sive, ope­ra­tive The­ra­pien not­wen­dig werden.

Die Dia­gnose „unspe­zi­fi­scher Rücken­schmerz“ erfolgt unter Aus­schluss von spe­zi­fi­schen orga­ni­schen Ursa­chen wie zum Bei­spiel Abnüt­zung, Insta­bi­li­tä­ten, Dis­kus-Pro­laps, Tumo­ren und Ent­zün­dun­gen. Meist liegt ein funk­tio­nel­ler Rücken­schmerz vor, der durch Über­las­tung von Mus­keln, Seh­nen und Bän­dern etwa durch Über­ge­wicht, fal­sches Trai­ning oder Leis­tungs­sport sowie durch ein­sei­tige Belas­tung bei bewe­gungs­ar­mer Lebens­weise oder ste­reo­type Hal­tungs­mus­ter ver­ur­sacht wird.

Wäh­rend für die spe­zi­fi­schen Ursa­chen gute und valide Dia­gnos­tik- und The­ra­pie­ver­fah­ren zur Ver­fü­gung ste­hen, seien bei unspe­zi­fi­schen Rücken­schmer­zen oft gewisse Schwie­rig­kei­ten nicht unge­wöhn­lich, wie Radl erläu­tert. Und wei­ter: „Bei rund 80 Pro­zent der Pati­en­ten mit Rücken­schmer­zen lässt sich keine spe­zi­fi­sche Ursa­che fin­den. Meist han­delt es sich dabei um ein mul­ti­fak­to­ri­el­les Gesche­hen, das durch soma­ti­sche und psy­cho­so­ziale Fak­to­ren ver­ur­sacht wird.“ Rücken­schmer­zen sind übli­cher­weise selbst­li­mi­tie­rend. „Bei fast 90 Pro­zent der Betrof­fe­nen ver­ge­hen die Beschwer­den nach eini­gen Wochen“, so Radl. Dau­ern die Beschwer­den jedoch län­ger als sechs Wochen, muss die Ursa­che für einen chro­ni­schen Rücken­schmerz eru­iert wer­den. Dau­ert der Schmerz län­ger als drei Monate, liegt ein chro­ni­fi­zier­ter Rücken­schmerz vor.

In der Ana­mnese soll­ten immer auch bio­psy­cho­so­ziale Fak­to­ren des chro­ni­schen Rücken­schmer­zes bedacht werden:

  • Aspekte des Gesund­heits­ver­hal­tens: Über­ge­wicht, aus­ge­präg­tes Schon- und Ver­mei­dungs­ver­hal­ten, Bewe­gungs­man­gel, Arbeitsplatzsituation;
  • Schmer­z­aus­lö­ser, Schmerz­lo­ka­li­sa­tion (mono‑, bi- oder mul­ti­lo­ku­lär), Schmerz­dauer, Schmerz­stärke, Schmerz­dy­na­mik (Schmerz­stär­ken­wech­sel), Schmerz­qua­li­tät, Schmerz­ver­lauf (akut, sub­akut, chronisch);
  • Erfas­sung schmerz­be­ding­ter Ein­schrän­kun­gen in den Akti­vi­tä­ten des täg­li­chen Lebens;
  • Depres­si­ons­scree­ning, Erfas­sung kogni­ti­ver Beein­träch­ti­gun­gen, Erhe­bung salu­to­ge­ner Ressourcen.

Die kli­ni­sche Unter­su­chung wie­derum soll den mus­ku­los­ke­letta­len Ursprung der Beschwer­den bestä­ti­gen; dabei soll­ten Patho­lo­gien außer­halb der Wir­bel­säule (wie bei­spiels­weise Hüfte, Abdo­men, kar­dial) aus­ge­schlos­sen und die Dia­gnos­tik wei­ter kon­kre­ti­siert wer­den. Radl zur kli­ni­schen Unter­su­chung: „Sie beinhal­tet die Inspek­tion, das heißt Schon­hal­tung, Gang­bild, Ver­let­zungs­zei­chen, Defor­mi­tä­ten, etc., eine Pal­pa­tion – Mus­kel­hart­spann, Druck- oder Klopf­schmerz, etc., die Tes­tung des Bewe­gungs­um­fan­ges der Wir­bel­säule sowie die neu­ro­lo­gi­sche Unter­su­chung mit Bestim­mung der Mus­kel­kraft und Reflex­prü­fung.“ Im Anschluss sind die soge­nann­ten Alarm­sym­ptome („flags“) für spe­zi­fi­sche Erkran­kun­gen abzu­klä­ren (siehe Kas­ten). „Wer­den eine oder meh­rere ‚red flags’ iden­ti­fi­ziert, besteht ein hoch­gra­di­ger Ver­dacht auf einen spe­zi­fi­schen Rücken­schmerz bezie­hungs­weise auf ein schwe­re­res orga­ni­sches Lei­den. Umge­kehrt ist es bei Feh­len einer ‚red flag’ fast aus­ge­schlos­sen, dass man eine schwere Patho­lo­gie über­sieht“, erklärt Bach. Zu den „red flags“ zäh­len unter ande­rem Fie­ber, schlech­ter All­ge­mein­zu­stand, sys­te­mi­sches Unwohl­sein sowie unge­woll­ter Gewichts­ver­lust als Hin­weis auf eine Tumor­er­kran­kung, neu­ro­lo­gi­sche Defi­zite oder mus­ku­läre Läh­mungs­er­schei­nun­gen sowie Trau­mata (Frak­tu­ren). Radl zur wei­te­ren Vor­gangs­weise bei „red flags“: „Diese erfor­dern eine rasche inten­sive wei­tere Dia­gnos­tik mit Blut­un­ter­su­chung, Rönt­gen, CT und/​oder MRT.“ So sei auch beim Feh­len von spe­zi­fi­schen Ursa­chen gemäß der öster­rei­chi­schen Rücken­schmerz-Leit­li­nie der rou­ti­ne­mä­ßige Ein­satz bild­ge­ben­der Ver­fah­ren und Labor­un­ter­su­chun­gen erst vier bis sechs Wochen nach Schmerz­be­ginn sinn­voll. Die bild­ge­bende Dia­gnos­tik sollte mög­lichst klar defi­niert zuge­wie­sen wer­den, um den zeit­li­chen und finan­zi­el­len Auf­wand mög­lichst öko­no­misch zu gestal­ten. Die klas­si­sche Rönt­gen­bild­un­ter­su­chung der Wir­bel­säule im Ste­hen sollte aber grund­sätz­lich vor­han­den sein. „Liegt ein Ver­dacht auf eine dis­ko­gene Ursa­che oder eine Kom­pres­sion ner­va­ler Struk­tu­ren vor, ist die MRT zu bevor­zu­gen. Für die Labor­un­ter­su­chung sehen wir die klas­si­sche Indi­ka­tion bei beglei­ten­der Ent­zün­dungs­sym­pto­ma­tik mit Fie­ber, Rötun­gen und Schwel­lun­gen“, so Radl. Alle wei­te­ren „flags“ (siehe Kas­ten) sind Risi­ko­fak­to­ren für die Chro­ni­fi­zie­rung des Rücken­schmer­zes. „Der Arzt muss diese Fak­to­ren erken­nen und bei der The­ra­pie unbe­dingt berück­sich­ti­gen, da sie einen gro­ßen Ein­fluss auf den Krank­heits­ver­lauf haben“, betont der Experte. 

Für die Schmerz­lin­de­rung sind nicht alle zur Ver­fü­gung ste­hen­den Medi­ka­mente gleich effek­tiv, wie Bach aus­führt. Sei­nen Aus­sa­gen zufolge sind nicht-ste­ro­idale Anti­rheu­ma­tika „sehr effek­tiv“ und müs­sen mit einem Magen­schutz ver­ord­net wer­den. Bach wei­ter: „Rezente Stu­dien zu Par­acet­amol zei­gen eine schwa­che Evi­denz­lage bei Rücken­schmer­zen, jedoch sehe ich in der Pra­xis bei vie­len Pati­en­ten eine Wirk­sam­keit des Analge­ti­kums. Ähn­li­ches gilt für Met­ami­zol, das auch ein Risiko für Agra­nu­lo­zy­tose birgt.“ Seine Emp­feh­lung: Die­ses Schmerz­mit­tel nur über einen kur­zen Zeit­raum geben. Bei schwe­ren Fäl­len seien oft hoch dosierte Mor­phine über ein bis zwei Tage ange­zeigt und rei­chen aus. Radl ergänzt: „Beim aku­ten unspe­zi­fi­schen Kreuz­schmerz ist die schmerz­lin­dernde Wir­kung von Mus­kel­re­la­xan­tien auch in der Fach­li­te­ra­tur bestä­tigt.“ Neben der Schmerz­the­ra­pie sind kon­ser­va­tive The­ra­pie­for­men wie zum Bei­spiel Phy­sio­the­ra­pie, die auf eine kör­per­li­che Akti­vie­rung abzie­len, sowohl bei unspe­zi­fi­schen als auch bei eini­gen spe­zi­fi­schen Rücken­schmer­zen evi­denz­ba­siert. Alle For­men des akti­ven Trai­nings sind vor­teil­haft; alle pas­si­ven Moda­li­tä­ten wie Mas­sage, Interferenz‑, Laser- und Magnet­feld­the­ra­pie sowie Fan­go­be­hand­lun­gen sind als Dau­er­be­hand­lung „unge­eig­net“, betont Bach. Auch Bett­ruhe oder inten­sive Scho­nung füh­ren zu einer Ver­zö­ge­rung des Krank­heits­ver­laufs. „Kei­ner­lei Evi­denz gibt es für (semi-) inva­sive Ver­fah­ren, wie Ozon­in­jek­tio­nen in die Band­schei­ben oder Dener­vie­rung von Facet­ten­ge­len­ken.“ Die Ergo­the­ra­pie sei eben­falls effek­tiv, jedoch nicht bei jedem Pati­en­ten mit Rücken­schmer­zen sinnvoll.

Psy­cho­so­ziale Fak­to­ren mitbestimmend

Bei den „yel­low“- und „blue-flags“ spie­len psy­cho­so­ziale Fak­to­ren eine große Rolle, da sie den Über­gang vom aku­ten zum chro­ni­schen Rücken­schmerz erheb­lich mit­prä­gen. „Oft sind kogni­tive Fehl­ver­hal­tens­mus­ter für den Schmerz ver­ant­wort­lich und nicht orga­ni­sche Ursa­chen“, weiß Bach aus der Pra­xis. Wenn bei­spiels­weise ein Pati­ent rela­tiv ent­spannt in der Pra­xis sitzt, jedoch die VAS-Schmerz­skala über einen Wert von 8 schiebt. Man­che Pati­en­ten wie­derum bekla­gen, dass sie auf Grund der Schmer­zen nicht mehr arbei­ten kön­nen. Andere sind non-com­pli­ant oder ver­ord­nen sich selbst The­ra­pien. Wer­den früh­zei­tig psy­cho­so­ziale Maß­nah­men berück­sich­tigt, kön­nen schwer­wie­gende chro­ni­sche Ver­läufe mit mas­si­ven Funk­ti­ons­ein­schrän­kun­gen bis hin zur Inva­li­di­tät und sozia­lem Rück­zug ver­mie­den wer­den. „Hier gibt es ein­deu­tige Belege, dass mit der kogni­ti­ven Ver­hal­tens­the­ra­pie, ins­be­son­dere in Kom­bi­na­tion mit Ent­span­nungs­ver­fah­ren, eine Ver­rin­ge­rung der Schmerz­in­ten­si­tät erreicht wer­den kann“, so Radl abschlie­ßend.
EM

Warn­hin­weise nach dem „Flags“-Modell

RED FLAGS

  • Klare somatische/​mechanische Patho­lo­gie der Wir­bel­säule, neu­ro­lo­gi­sche oder ent­zünd­li­che Patho­lo­gie, etc.

➡ drin­gende spe­zia­li­sierte Abklärung

YELLOW FLAGS

  • Fehl­ge­lei­tete Ein­stel­lun­gen und Vor­stel­lun­gen über die Intensität/​Tragweite des Rücken­schmer­zes (Kata­stro­phi­sie­rung)
  • Pro­bleme mit der Kompensation
  • Man­gelnde Akzep­tanz der Dia­gnose und der Behandlung
  • Über­bor­dende Emotionen

➡ bio-psy­cho­so­zia­les Manage­ment, Resi­li­en­z­kon­zepte entwickeln

ORANGE FLAGS

  • Psych­ia­tri­sche Störungen

➡ psych­ia­tri­sche Abklärung

BLUE FLAGS

  • Arbeits­un­zu­frie­den­heit
  • Distress
  • Wenig soziale Unter­stüt­zung von Kollegen

➡ Arbeits­si­tua­tion ver­bes­sern, Resi­li­en­z­kon­zepte ent­wi­ckeln, Pro­gamme zur work/­life-Balance für Mit­ar­bei­ter imple­men­tie­ren

BLACK FLAGS

  • Ergo­no­mi­sche und phy­si­ka­li­sche Fak­to­ren (Schwe­re­grad, Posi­tion, Vibra­tion, etc.)

➡ Abschät­zen des Reha­bi­li­ta­ti­ons­po­ten­ti­als, Anpas­sun­gen am Arbeits­platz mit dem Pati­en­ten abklä­ren, Neu­de­fi­ni­tion der Pati­en­ten­er­war­tun­gen, Ein­schleu­sen in Wiedereingliederungsprogramme.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 10 /​25.05.2015