Orga­nisch bedingte psy­chi­sche Stö­run­gen: Ein bun­tes Bild

10.10.2015 | Medizin

Ledig­lich 30 Pro­zent der del­iran­ten Pati­en­ten wer­den rich­tig dia­gnos­ti­ziert; vor allem das hypo­ak­tive Delir mit Antriebs­ar­mut, Ver­lang­sa­mung, Apa­thie und Som­no­lenz wird oft nicht erkannt. Der Ver­lauf eines Delir und des­sen Aus­prä­gung hän­gen stark von der Grund­er­kran­kung ab, wes­halb der Suche nach der Ursa­che große Auf­merk­sam­keit zukom­men sollte.
Von Irene Mlekusch

Hirn­er­kran­kun­gen und Hirn­lä­sio­nen kön­nen zu mehr oder weni­ger aus­ge­präg­ten Hirn­funk­ti­ons­stö­run­gen füh­ren, wobei die Sym­ptome mit der jewei­li­gen Läsi­ons­lo­ka­li­sa­tion kor­re­lie­ren. „Sym­ptome, die pri­mär psy­chi­scher Natur erschei­nen, kön­nen sehr wohl eine orga­ni­sche Ursa­che haben“, erklärt Univ. Prof. Wolf­gang Fleisch­ha­cker, Direk­tor des Depart­ment für Psych­ia­trie und Psy­cho­the­ra­pie an der Uni­ver­si­täts­kli­nik in Inns­bruck. Er gibt zu beden­ken, dass nicht immer klas­si­scher­weise das Gehirn direkt betrof­fen sein müsse, son­dern nahezu jede rele­vante kör­per­li­che Erkran­kung ein viel­ge­stal­ti­ges, bun­tes Bild psy­chi­scher Sym­ptome her­vor­ru­fen könne. Der­ar­tige orga­ni­sche ein­schließ­lich sym­pto­ma­ti­scher psy­chi­scher Stö­run­gen kön­nen in jedem Alter auf­tre­ten, irrever­si­bel oder pro­gre­di­ent, aber auch vor­über­ge­hend sein oder auf eine Behand­lung gut anspre­chen. Fleisch­ha­cker erwähnt auch Wahn­vor­stel­lun­gen und Hal­lu­zi­na­tio­nen, die bei hohem Fie­ber auf­tre­ten kön­nen, mit der sym­pto­ma­ti­schen Behand­lung des Fie­bers aber wie­der abklin­gen. Schä­del-Hirn-Trauma oder spon­tane intra­ze­re­brale Blu­tun­gen kön­nen die Ursa­che für akute Ein­schrän­kun­gen oder Ver­än­de­run­gen des Bewusst­seins­zu­stan­des sein. Aber auch virale und bak­te­ri­elle Ent­zün­dun­gen des Zen­tral­ner­ven­sys­tems gehen bereits im Pro­dro­mal­sta­dium mit­un­ter mit Ver­hal­tens­än­de­run­gen, Ein­schrän­kun­gen der Vigi­lanz, hal­lu­zi­na­to­ri­schen oder del­iran­ten Zustands­bil­dern einher.

Erkran­kun­gen mit einem hohen Delir-Risiko sind laut Priv. Doz. Andreas Baranyi von der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Psych­ia­trie und Psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Medi­zin in Graz Infek­tio­nen wie Enze­pha­li­tis, Menin­gi­tis, HIV, Syphi­lis oder Sep­sis; des Wei­te­ren Ent­zugs­syn­drome bei Alko­hol, Barbituraten,Sedativa/Hypnotika, akute meta­bo­li­sche Stö­run­gen wie Azi­dose, Alkal­ose, Elek­tro­lyt­stö­run­gen sowie hepa­ti­sche oder urämi­sche Enze­pha­lo­pa­thie, Trau­mata zum Bei­spiel Schä­del-Hirn-Trauma, herz­chir­ur­gi­sche oder ortho­pä­di­sche Ope­ra­tio­nen, schwere Ver­bren­nun­gen und Hitz­schlag, Erkran­kun­gen des Zen­tral­ner­ven­sys­tems bei­spiels­weise intra­ze­re­brale Blu­tun­gen, Vas­ku­li­tis, Hirn­in­farkt, ent­zünd­li­che Hirn­er­kran­kun­gen oder raum­for­dernde intra­kra­ni­elle Pro­zesse, aber auch Hypo­xie in Form von Anämie, Koh­len­mon­oxid­ver­gif­tun­gen, aku­ter Hypo­to­nie oder Herz-Lun­gen-Ver­sa­gen, Vit­amin­man­gel­syn­drome vor allem Vit­amin B12, B1, B6 oder Fol­säure, Endo­kri­no­pa­thien, Herz-Kreis­lauf-Erkran­kun­gen, Into­xi­ka­tio­nen oder Schwer­me­tall­ver­gif­tun­gen. Baranyi macht dar­auf auf­merk­sam, dass ledig­lich 30 Pro­zent der del­iran­ten Pati­en­ten dia­gnos­ti­ziert wer­den: „Vor allem das hypo­ak­tive Delir mit Antriebs­ar­mut, Ver­lang­sa­mung, Apa­thie und Som­no­lenz wird oft nicht erkannt.“

Kli­ni­sches Bild: Cha­rak­te­ris­tika

Obwohl die Ursa­chen des Delir viel­fäl­tig sind, ist das kli­ni­sche Erschei­nungs­bild unter ande­rem durch Stö­run­gen von Bewusst­sein, der Ori­en­tie­rung, der Auf­merk­sam­keit und des Gedächt­nis­ses, der Affek­ti­vi­tät, des Vege­ta­ti­vums, der Psy­cho­mo­to­rik und des Schlaf-Wach-Rhyth­mus cha­rak­te­ri­siert. Außer­dem kann es zu Sin­nes­täu­schun­gen, Wahn­ein­fäl­len, Wahn­ge­dan­ken und Aggres­si­vi­tät kom­men. Baranyi spricht von einem akut auf­tre­ten­den Ver­wirrt­heits­zu­stand mit in der Regel fluk­tu­ie­ren­der Sym­pto­ma­tik und nächt­li­cher Zunahme der Sym­ptome. Die Aus­prä­gung der Stö­run­gen kann dabei stark vari­ie­ren; super­im­po­nie­rende Deli­rien bei Demenz­er­kran­kun­gen sind häu­fig fest­zu­stel­len. „Del­irante Zustands­bil­der fin­den sich im Zusam­men­hang mit orga­ni­schen und sys­te­mi­schen Stö­run­gen oft bei Pati­en­ten im Alters- oder Pfle­ge­heim“, sagt Fleisch­ha­cker. Denn jede Gehirn­er­kran­kung kann pri­mär und jede kör­per­li­che Erkran­kung sekun­där zu einem Delir füh­ren. „Das zunächst unvoll­stän­dige Delir der ers­ten Stun­den bis Tage ist durch Ängst­lich­keit, psy­cho­mo­to­ri­sche Unruhe und Reiz­bar­keit gekenn­zeich­net. In den frü­hen Abend­stun­den kommt es zum Sun­dow­ning-Phä­no­men, zur del­iran­ten Kom­pen­sa­tion“, so Baranyi. Defi­ni­ti­ons­ge­mäß dau­ert die Stö­rung nicht län­ger als sechs Monate an; pro­lon­gierte Ver­läufe sind trotz Behand­lung nicht sel­ten. Der Ver­lauf eines Delir und des­sen Aus­prä­gung hängt somit stark von der Grund­er­kran­kung ab, wes­halb der Suche nach der Ursa­che große Auf­merk­sam­keit zukom­men sollte. Baranyi betont: „Ein Delir sollte immer als poten­ti­ell lebens­be­droh­li­cher Zustand ver­stan­den und ent­spre­chend behan­delt werden.“

Fleisch­ha­cker merkt an, dass jede kör­per­li­che Erkran­kung jede erdenk­li­che psy­chi­sche Stö­rung imi­tie­ren kann. Nach ICD-10 sind jene psy­chi­schen Stö­run­gen als orga­nisch zu defi­nie­ren, die einen zeit­li­chen Zusam­men­hang zur Ent­wick­lung der zugrun­de­lie­gen­den Krank­heit haben und sich nach Bes­se­rung der­sel­ben zurück­bil­den. Orga­ni­sche Hal­lu­zi­no­sen fin­den sich­un­ter ande­rem bei Tem­po­ral­lap­pen-Epi­lep­sie, Into­xi­ka­tion oder Ent­zug von Alko­hol, unter Anti­par­kin­son-Medi­ka­tion oder chro­ni­scher Into­xi­ka­tion mit pyscho­tro­pen Sub­tan­zen. Stu­por, psy­cho­mo­to­ri­sche Unruhe oder ein unvor­her­seh­ba­rer Wech­sel von Hypo- zu Hyper­ak­ti­vi­tät kann auf eine orga­nisch kata­tone Stö­rung hin­wei­sen. Häu­fige Ursa­chen für diese sel­tene Stö­rung sind eine Enze­pha­li­tis, Into­xi­ka­tio­nen vor allem die Koh­len­mon­oxid­ver­gif­tung und meta­bo­li­sche Stö­run­gen wie zum Bei­spiel Mor­bus Cus­hing. Die Abgren­zung zum Delir kann Schwie­rig­kei­ten berei­ten, muss aber in jedem Ein­zel­fall sorg­fäl­tig erfol­gen. Wahn­ein­fälle, Wahn­ge­dan­ken und Wahn­ideen, die sich kon­ti­nu­ier­lich bei unge­stör­tem Gedächt­nis und Bewusst­sein auf­drän­gen, ste­hen häu­fig mit Tem­po­ral­lap­pen-Epi­lep­sie, chro­ni­schem Miss­brauch von Amphet­ami­nen, Kokain oder sel­te­ner Alko­hol in Ver­bin­dung. Hirn­trau­mata und Enze­pha­lit­i­den kön­nen eben­falls die Ursa­che für eine orga­nisch wahn­hafte Stö­rung sein, wobei sich die Dia­gnose nur anhand des Ver­laufs stel­len lässt. Infek­tio­nen, Sub­stanz­miss­brauch oder rheu­ma­ti­sche Erkran­kun­gen kön­nen wie­derum zu orga­nisch affek­ti­ven Stö­run­gen füh­ren; der zeit­li­che Zusam­men­hang ist auch hier wesent­lich für die Dia­gnose. Vor allem nach einer Grippe sind depres­sive Ver­stim­mun­gen möglich.

Auch ein Eta­gen­wech­sel ist mög­lich. Fleisch­ha­cker dazu: „Zunächst sind die Pati­en­ten nur kogni­tiv beein­träch­tigt. In wei­te­rer Folge ent­steht ein depres­si­ves Zustands­bild und spä­ter wer­den sie para­noid.“ Orga­ni­sche Angst­stö­run­gen sind das Pro­dukt zere­bra­ler Funk­ti­ons­stö­run­gen wie sie im Rah­men einer Tem­po­ral­lap­pen-Epi­lep­sie, Thy­reo­to­xi­kose oder eines Phäo­chro­mo­zy­toms auf­tre­ten. Hyper­to­ni­ker und Pati­en­ten mit zere­bro­vas­ku­lä­ren Erkran­kun­gen kön­nen zu Affekt­la­bi­li­tät ebenso nei­gen wie zu Müdig­keit und unzäh­li­gen, unan­ge­neh­men kör­per­li­chen Emp­fin­dun­gen oder Schmer­zen wie zum Bei­spiel Schwin­del. Beson­ders auf­fäl­lig für die Ange­hö­ri­gen des Pati­en­ten sind orga­ni­sche Per­sön­lich­keits­stö­run­gen. Cha­rak­te­ris­tisch ist eine deut­li­che Ver­än­de­rung des prä­mor­bi­den Ver­hal­tens. Fleisch­ha­cker nennt als Bei­spiel die para­no­iden Ten­den­zen, die Pati­en­ten mit einer Nie­ren­in­suf­fi­zi­enz ent­wi­ckeln kön­nen. Beim Fron­tal­hirn-Syn­drom sind die Fähig­keit zur Pla­nung eige­ner Hand­lun­gen und das Vor­aus­se­hen der per­sön­li­chen und sozia­len Hand­lungs­kon­se­quen­zen gestört. Der Antrieb der Pati­en­ten kann ent­we­der ver­mehrt oder ver­min­dert sein. Beson­ders pro­ble­ma­tisch für den Pati­en­ten und des­sen Umwelt ist die mit über­mä­ßi­gem Antrieb häu­fig ein­her­ge­hende Kri­tik und Distanzlosigkeit.

Vor, wäh­rend oder nach einer zere­bra­len oder sys­te­mi­schen Infek­tion, aber auch bei kör­per­li­chen Erkran­kun­gen tre­ten häu­fig leichte kogni­tive Stö­run­gen auf. Die Pati­en­ten sind bei gewohn­ten Auf­ga­ben erschöpft und lei­den unter Aufmerksamkeits‑, Kon­zen­tra­ti­ons- und Gedächt­nis­stö­run­gen. „Diese kogni­ti­ven Ein­schrän­kun­gen erfor­dern vom betreu­en­den Arzt viel Geduld“, betont Fleisch­ha­cker und wünscht sich, dass ver­lang­samte Pati­en­ten, die mehr Zeit brau­chen, diese auch bekommen.

Kurz­zeit­ge­dächt­nis beeinträchtigt

Die Stö­run­gen des Kurz­zeit­ge­dächt­nis­ses sind in der Regel stär­ker aus­ge­prägt, als die des Lang­zeit­ge­dächt­nis­ses. Aus die­sem Grund wer­den oft die glei­chen Fra­gen immer wie­der­holt und die Pati­en­ten sind leicht ablenk­bar. „Beim del­iran­ten Pati­en­ten stößt man mit­un­ter auch auf Aggres­si­vi­tät oder Ableh­nung gegen die Behand­lung oder Pflege“, weiß Baranyi. Die Pati­en­ten sind nicht oder nur sehr begrenzt in der Lage, ihre Ein­schrän­kun­gen selbst zu rea­li­sie­ren. Somit besteht prin­zi­pi­ell die Gefahr von unüber­leg­ten Hand­lun­gen. „Eine ein­fühl­same Bezie­hung, wie immer ent­schei­dend für ein gutes Arzt-Pati­en­ten-Ver­hält­nis, gewinnt hier beson­dere Bedeu­tung“, bestä­tigt Fleisch­ha­cker. Auch die Betreu­ung und Anlei­tung der Ange­hö­ri­gen ist Bestand­teil der Behand­lung. Baranyi rät vor allem bei Pati­en­ten, die älter als 80 Jahre, mul­ti­mor­bid sind und eine Poly­phar­ma­zie erhal­ten, bei psy­chi­schen Auf­fäl­lig­kei­ten zur Abklä­rung hin­sicht­lich eines Delirs. Wich­tig ist auch zu beach­ten, dass die Wie­der­her­stel­lung der psy­chi­schen Gesund­heit manch­mal der soma­ti­schen Gesun­dung hin­ter­her hin­ken kann.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 19 /​10.10.2015