MERS: Mehr Fragen als Antworten

15.08.2015 | Medizin


Das Neue am MERS-Ausbruch in Südkorea im Mai dieses Jahres: der ausgedehnte, Krankenhaus-assoziierte Ausbruch außerhalb der arabischen Halbinsel. Auch wenn ein erster Impfstoff vielversprechend ist, sind viele Fragen rund um MERS noch offen.

Es war ein ungewöhnlicher Akt: Der künftige Samsung Chef, Lee Jae Yong, hat sich Anfang Juni dieses Jahres im südkoreanischen Fernsehen bei der Bevölkerung für Fehler des Samsung Medical Center in Seoul rund um den Ausbruch von MERS entschuldigt. Rund 175 der erfassten Fälle werden mit dem vom Konzern geführten Krankenhaus in Verbindung gebracht. „Die Klinik schaffte es nicht, die MERS-Infektion und ihre Verbreitung zu stoppen“, sagte Lee.

Im Mai dieses Jahres meldeten die Gesundheitsbehörden in Südkorea einen MERS-Ausbruch – zurückgehend auf einen importierten Fall. Der Betroffene hatte zuvor die arabische Halbinsel bereist. Bis Anfang Juli 2015 gab es mehr als 180 Erkrankungen – betroffen waren medizinisches Personal, Familienangehörige, Mit-Patienten und deren Angehörige. 36 davon verstarben. Eine der Kontaktpersonen aus Südkorea reiste nach China und wurde dort positiv getestet. Das Neue an dieser Situation laut den Experten des Robert Koch-Instituts: das Auftreten eines ausgedehnten, Krankenhaus-assoziierten Ausbruchs außerhalb der arabischen Halbinsel sowie das Auftreten eines sekundären Falles in einem weiteren Drittland, nämlich China.

Was waren die Gründe für die rasche Ausbreitung in Südkorea? Der WHO zufolge liegt das an der besonderen Situation im Gesundheitswesen: Es gehört zum Alltag, dass Patienten mehrere Ambulanzen aufsuchen, bevor sie sich behandeln lassen. Und es ist üblich, dass die Patienten nicht nur sehr viel Besuch von Familienangehörigen bekommen, sondern dass sie auch von diesen gepflegt werden.

Der Ausbruch in Südkorea konnte mittlerweile durch umfangreiche Maßnahmen unter Kontrolle gebracht werden; seit 4. Juli 2015 wurden keine neuen Fälle mehr gemeldet. Insgesamt wurden der WHO (Weltgesundheitsorganisation) mehr als 1.000 Labor-bestätigte Fälle gemeldet – vor allem auf der arabischen Halbinsel aus dem Königreich Saudi-Arabien. Dort starben von den Labor-diagnostisch bestätigten Fällen rund 40 Prozent der Betroffenen. In Europa gab es bislang nur einzelne importierte Fälle beziehungsweise Sekundärfälle von importierten Fällen wie etwa in Deutschland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, den Niederlanden, Österreich und der Türkei. Auch in Afrika, Nordamerika und anderen asiatischen Ländern traten ebenfalls importierte Fälle auf. In Österreich wurde MERS Ende September 2014 bei einer 29-jährigen Frau nach einem Aufenthalt in Saudi Arabien diagnostiziert. Nach der Therapie mit Proteasehemmern konnte sie Mitte Oktober aus der stationären Behandlung geheilt entlassen werden.

Was das Auftreten von MERS anlangt, traten primäre Krankheitsfälle (Fälle ohne vorherige Exposition zu menschlichen Fällen) vorwiegend in Saudi Arabien, aber auch in anderen Ländern der Region auf. Wurden zwischen März 2012 und März 2013 monatlich höchstens fünf Fälle gemeldet, stieg die Fallzahl ab April 2013 rund ein Jahr lang auf zehn bis 20 Fälle pro Monat an. Mehrere große Erkrankungswellen mit bis zu 100 neuen Erkrankungsfällen wöchentlich wurden im April und Mai 2014 in Saudi Arabien gemeldet; weitere Erkrankungswellen gab es dort im Herbst 2014 sowie im Winter 2014/15.

Das MERS-CoV gehört zur Gruppe der Betacoronaviren. Der Erreger ist ein einzelsträngiges RNA-Virus mit + Polarität. MERS-CoV unterscheidet sich genetisch vom Severe Acute Respiratory Syndrome (SARS) und anderen Coronaviren, die beim Menschen Erkältungskrankheiten auslösen. Zur Infektion dockt das Virus an den Dipeptidylpepityase4-Rezeptor (DPP-4) auf der Zelloberfläche an. Dieser Rezeptor wird beim Menschen im Bronchialepithel und in Nieren exprimiert.

Laut WHO gab es bislang 1.379 bestätigte Krankheitsfälle, mehr als 531 Infizierte Personen sind am MERS-CoV verstorben, was einer Sterberate von nahezu 40 Prozent entspricht (Stand: Juni 2015). „Dennoch hat MERS-CoV mit 20 bis 30 Prozent eine höhere Letalität als SARS, wo die Letalität bei rund zehn Prozent lag“, erläutert Univ. Doz. Stephan Aberle vom Department für Virologie der Medizinischen Universität Wien. Bei SARS sind von 8.000 gemeldeten Fällen rund 800 Personen verstorben. Allerdings ist das MERS-Virus weniger infektiös als der SARS-Virus. „MERS dürfte in Bezug auf die allgemeine seuchenhygienische Gefährlichkeit ähnlich wie SARS einzustufen sein, allerdings mit einer etwas höheren Letalität und nicht mit einer derart altersabhängigen Sterblichkeit“, erklärt Univ. Prof. Herwig Kollaritsch Facharzt für Spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin vom Reisezentrum für Reisemedizin in Wien. Bisher zeigt sich, dass jüngere Menschen weniger stark von MERS betroffen sind als ältere Patienten. „Die ursprüngliche Quelle ist nach wie vor unbekannt. Allerdings sind Dromedare mit hoher Wahrscheinlichkeit die Infektionssquelle für Menschen“, so Kollaritsch weiter.

In Dromedaren zirkuliert das Virus zumindest seit 1992 – solange kann es zurück verfolgt werden. Das MERS-CoV dürfte – ein typisches Charakteristikum für Coronaviren – durch seine hohe Mutationsfähigkeit (RNA-Virus) den Sprung über die Speziesbarriere erfolgen. „Die Übertragung kann durch Tröpfcheninfektion oder Schmierinfektion gesetzt werden“, ergänzt Kollaritsch. Die Basisreproduktionsrate betrage in etwa 0,7; das bedeutet: Ein an MERS-Erkrankter steckt durchschnittlich 0,7 weitere Personen an. Zum Vergleich: Die Basis-Reproduktionsrate für Influenza liegt bei 1,5 bis 2; für Masern zwischen 14 und 18. Untersuchungen haben gezeigt, dass Menschen mit Grunderkrankungen wie zum Beispiel Diabetes, beeinträchtigter Immunabwehr, chronischen Herz-, Lungen- oder Nierenerkrankungen ein höheres Erkrankungsrisiko haben. Bei der Übertragung selbst ist noch nicht klar, ob alle Dromedare in der Lage sind, das Virus auf den Menschen zu übertragen. „Auf jeden Fall gibt es Hinweise, dass die Übertragung von MERS-CoV aerogen durch eine Tröpfchen-Übertragung von Tier zu Tier erfolgt“, so der Experte. Daher mache es durchaus Sinn, bei einer Impfung für Tiere anzusetzen, um eine weitere Ausbreitung zu verhindern.

Die Frage, welches Potential MERS-CoV hat, sich besser an die Menschen zu adaptieren und eventuell pandemiefähig zu werden, sei Stand intensiver Forschungsbemühungen, berichtet Kollaritsch. Eine einigermaßen seriöse Vorhersage in puncto Pandemiefähigkeit ist den Aussagen des Experten zufolge derzeit nicht möglich. „Es gibt noch kein Tiermodell, um entsprechende Tests durchzuführen“. Ein „vordringliches Problem“, das gelöst werden müsste, wie Kollaritsch betont. Was die globale Risikoeinschätzung anlangt – gibt es laut dem Robert Koch-Institut bislang keine Hinweise auf eine anhaltende, unkontrollierte Mensch-zu-Mensch-Übertragung.

An einem Impfstoff wird bereits intensiv gearbeitet. Demnach könnte ein einziger Impfstoff ausreichen, um alle derzeit bekannten genetischen Linien des MERS-CoV effektiv zu bekämpfen. Insgesamt wurden bisher weltweit 23 dieser MERS-CoV-Varianten isoliert; 20 davon im Rahmen der aktuellen Studie. Im Rahmen einer Studie der Universitätsklinik Bonn und des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung (DZIF), die Mitte Juli im „Journal of Clinical Microbiology“ online veröffentlicht wurde, befassten sich die Wisseschafter mit den drei Isolaten aus den genetischen Hauptlinien intensiver. Sie versetzten die entsprechenden Viren mit Blutserum von ehemals an MERS erkrankten und inzwischen geheilten Personen. Fazit: „Die im Blut enthaltenen Antikörper konnten jedes der drei Isolate effizient neutralisieren.“
STR/AM

Im Verdachtsfall:
Beim geringsten Verdacht auf MERS wird empfohlen, mit der Abteilung für Virologie der Medizinischen Universität Wien Kontakt aufzunehmen. Tel.: 01/40 160/65555 oder 65517.


MERS
Das Middle East Respiratory Syndrome Coronavirus (MERS-CoV) wurde erstmals im April 2012 bei Menschen auf der arabischen Halbinsel nachgewiesen. Nach einer Inkubationszeit von ein bis zwei Wochen beginnt die Erkrankung mit grippeähnlichen Symptomen. Beim schweren Verlauf kann sich eine Pneumonie entwickeln, die in ein akutes Atemnotsyndrom übergehen kann. Durchfall ist ein häufiges Begleitsymptom; außerdem kann es zu Nierenversagen kommen. Besonders bei Menschen mit chronischen Vorerkrankungen wie etwa Diabetes mellitus, einem Karzinom oder unter Immunsuppression kommt es zu schweren Verläufen.

Wenn sich auch nicht alle Primärfalle auf Kontakt zu Dromedaren zurückführen lassen, hatten viele der sporadischen Fälle oder als Primärfall eingestuften Erkrankungen Kontakt zu diesen Tieren. Allerdings lassen sich nicht alle Primärfälle darauf zurückführen. Eine Übertragung von Mensch zu Mensch ist möglich.

Immer mehr Untersuchungen weisen darauf hin, dass Dromedare die Quelle für die menschlichen, zoonotischen Infektionen sind. Bei einem großen Anteil von Dromedaren aus arabischen und auch afrikanischen Ländern wurden Antikörper gegen MERS-Coronaviren gefunden; auch in gelagerten Proben aus den Jahren 1983 und 1984. Auch das Virus selbst wurde bei Dromedaren isoliert.
Quelle: Robert Koch-Institut/Berlin


Empfehlungen bei Reisen auf die Arabische Halbinsel:

Personen, die ein Land der Arabischen Halbinsel besuchen oder sich für längere Zeit dort aufhalten, wird empfohlen:

  • regelmäßiges Händewaschen mit Wasser und Seife, Verwendung von antibakteriellem Handgel;
  • Verzehr von nicht durchgegartem Fleisch und Rohmilch (speziell von Dromedaren) vermeiden;
  • Verzehr von Lebensmittel vermeiden, die unter unhygienischen Bedingungen zubereitet wurden;
  • Obst und Gemüse vor dem Verzehr waschen;
  • Vorkehrungen treffen im Umgang mit kranken Personen, speziell wenn es sich um Symptome einer Erkältungskrankheit handelt (respiratorische Erkrankung), Durchfall oder potenziell infektiöser Krankheit;
  • Kontakt zu Haus- und Wildtieren meiden, speziell zu Dromedaren sowie Tierfarmen;
  • Meidung von Ausscheidungen von Tieren, speziell Urin und Kot von Dromedaren;
  • Medizinische Hilfe in Anspruch nehmen bei Auftreten grippe-ähnlicher Symptome während des Aufenthalts oder bis 14 Tage nach Rückkehr – Hinweis auf bereistes Land und Region;
  • bei Erkrankungsverdacht nach Rückkehr direkt mit dem Gesundheitsamt Kontakt aufnehmen; nicht in die Praxis eines Arztes gehen;
  • Hinweis auf Tierkontakt oder Kontakt zu kranker Person;
  • respiratorische Hygiene einhalten (in den Ellenbogen Husten und Niesen, Taschentücher einmal verwenden und entsorgen);
  • Engen Personenkontakt vermeiden;
  • keine Haus- oder Krankenhausbesuche bei möglicherweise an MERS erkrankten Personen;
  • Personen, die unter Grunderkrankungen (zum Beispiel Diabetes, chronische Lungen- oder Nierenerkrankung, beeinträchtigte Immunabwehr) leiden, wird empfohlen, vor Antritt der Reise ärztlichen Rat einzuholen.

Diese Empfehlungen gelten auch für Pilgerreisende (Hadsch, Umrah) nach Saudi Arabien. Zusätzlich sollten im Falle des Auftretens von Erkältungssymptomen mit Fieber und Husten während der Hadsch- oder Umrah-Teilnahme folgende Maßnahmen eingehalten werden:

  • Bekanntgabe der Erkrankung an begleitendes medizinisches Personal oder lokale medizinische Einrichtung;
  • Menschenansammlungen meiden, wenn dies nicht möglich ist, Mund und Nase mit einer Maske bedecken, notfalls mit Taschentuch.

Für Reisende in Länder der arabischen Halbinsel, deren Nachbarländer und Südkorea hat die WHO keine Reiseeinschränkungen empfohlen. Differenzialdiagnostisch sollte MERS-CoV insbesondere dann in Betracht gezogen werden, wenn sich der Patient oder die Patientin mit Pneumonie in den 14 Tagen vor Erkrankungsbeginn:

  • in einem Land der arabischen Halbinsel aufgehalten oder
  • Kontakt mit einer medizinischen Einrichtung (Krankenhaus; Notfallaufnahme; Arztpraxis) des Gesundheitswesens in Südkorea oder
  • einen Kontakt mit einem Patienten mit bestätigter oder wahrscheinlicher MERS-CoV-Infektion hatte.

Quelle: Gesundheitsministerium; Robert Koch-Institut/Berlin

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 15-16 / 15.08.2015