Joel Mey­e­ro­witz: In den Stra­ßen der Stadt

15.08.2015 | Horizonte


Zufäl­lig zur Foto­gra­fie gekom­men, avan­cierte der US-ame­ri­ka­ni­sche Künst­ler Joel Mey­e­ro­witz in den 1960/​70er Jah­ren rasch zu einer der Haupt­fi­gu­ren der „Street Pho­to­gra­phy“ und „New Color Pho­to­gra­phy“. Von Stra­ßen­sze­nen und Land­schaf­ten über Por­traits bis hin zu aktu­el­len Still­le­ben hat Mey­e­ro­witz alles gemacht, wie eine Retro­spek­tive im Kunst­Haus Wien zeigt.

Von Marion Huber

Girl on a scoo­ter, 1965
Flo­rida, 1978

Wenn sich Men­schen auf der Straße tum­meln und anonym ihrer Wege gehen, sich vor einem Café unter­hal­ten… – und wenn sol­che Sze­nen aus dem All­tag in der Öffent­lich­keit mit der Kamera fest­ge­hal­ten wer­den, dann ist das „Street Pho­to­gra­phy“. Und genau diese flüch­ti­gen Moment­auf­nah­men sind es, die den US-ame­ri­ka­ni­schen Künst­ler Joel Mey­e­ro­witz zunächst bekannt gemacht haben. Aber Mey­e­ro­witz hat nicht nur das abge­lich­tet – wie groß das Spek­trum sei­nes Werks ist, dar­über kann man sich aktu­ell in einer Retro­spek­tive im Kunst­Haus Wien einen Ein­blick ver­schaf­fen. Es sind rund 200 Arbei­ten, mit denen in der Aus­stel­lung sein viel­fäl­ti­ges Werk von den 1960er Jah­ren bis heute gezeigt wird.

1938 in New York gebo­ren, arbei­tet Mey­e­ro­witz als Art Direc­tor in einer Wer­be­agen­tur, als er 1962 auf den Stra­ßen des Big Apple den Foto­gra­fen Robert Frank ken­nen­lernt. Frank hatte in den 1950er Jah­ren bei sei­nen Rei­sen durch die USA quasi das ganze Land foto­gra­fisch doku­men­tiert – 28.000 Bil­der von US-Ame­ri­ka­nern hatte er dabei gemacht und die Aus­wahl für sei­nen Bild­band „The Ame­ri­cans“ auf 83 Motive zusam­men­ge­stri­chen. Die Bil­der hat er im Vor­bei­ge­hen, aus einem Ver­steck – aus dem fah­ren­den Auto – gemacht; so ist es nicht wei­ter ver­wun­der­lich, dass Frank damit als Erfin­der und „Vater“ der Street Pho­to­gra­phy gilt. Und es ist auch nicht ver­wun­der­lich, dass Mey­e­ro­witz schon damals beein­druckt ist von der Art, wie Frank arbei­tet – so beein­druckt, dass es sein Leben ver­än­dert. Von jetzt auf gleich beschließt er, Foto­graf zu wer­den, und setzt damit den Start­schuss für eine her­aus­ra­gende künst­le­ri­sche Karriere.

Neben Wil­liam Egg­le­s­ton und Ste­phen Shore – beide eben­falls US-Ame­ri­ka­ner – gilt Mey­e­ro­witz auch als einer der wich­tigs­ten Ver­tre­ter der ame­ri­ka­ni­schen „New Color Pho­to­gra­phy“ der 1960/​70er Jahre. Damals unüb­lich und oft sogar als „vul­gär“ betrach­tet, set­zen sie ihre Foto­gra­fien auch farb­lich in Szene. Ganz bewusst ent­schei­den sie sich für die Farbe als künst­le­ri­sches Mittel.

Mit sei­ner 35 mm-Kamera hält Mey­e­ro­witz flüch­tige Momente fest – zunächst vor allem in den Stra­ßen von New York. Unge­wöhn­li­che Bild­aus­schnitte, neue Inhalte und Farb­film – Mey­e­ro­witz ist expe­ri­men­tier­freu­dig. Das erweist sich ein­mal mehr auf einer Reise 1966/​67 quer durch Europa: Wie­der foto­gra­fiert er das all­täg­li­che Leben – dies­mal aber in Schwarz­weiß und Farbe, oft sogar ein Sujet in bei­den Vari­an­ten. Seine Bil­der des „Euro­pean Trip: Pho­to­graphs from the Car“ foto­gra­fiert – wie der Name der Serie schon sagt – aus dem fah­ren­den Auto. Mit die­sen Auf­nah­men schafft er es bereits 1968 zu sei­ner ers­ten Ein­zel­aus­stel­lung – im berühm­ten Museum of Modern Art (MoMA) in New York. Die ori­gi­na­len Abzüge die­ser Foto­aus­wahl sind jetzt im Rah­men der Retro­spek­tive auch im Kunst­Haus Wien zu sehen.

Die ruhige Seite

So flink, dyna­misch, schnell­le­big, flüch­tig die Fotos von Mey­e­ro­witz in sei­nen Anfän­gen der Street Pho­to­gra­phy sind, so ruhig und aus­ge­wo­gen wer­den sie in der Folge. Die Serien „Cape Light“ (1978) oder die Por­traits „Red Heads“ (1980–1990) zei­gen seine ruhige Seite und sor­gen den­noch inter­na­tio­nal für Auf­se­hen. „Cape Light“ – sein ers­tes ver­öf­fent­lich­tes Buch – wird oft als Mei­len­stein der Foto­gra­fie bezeich­net. Darin fin­den sich Farb­fo­tos der Küs­ten­land­schaft Cape Cod, einer Halb­in­sel im US-Bun­des­staat Mas­sa­chu­setts: Holz­stühle am Strand; eine Wäsche­leine in einem Vor­gar­ten, die im Wind weht oder auch die Abend­stim­mung an der Küste. Von da an macht er mit einer groß­for­ma­ti­gen 8 x 10 inch-Plat­ten­ka­mera Küs­ten­bil­der, Licht- und Farb­auf­nah­men der „blauen Stunde“, Fotos von men­schen­lee­ren Pools, Por­traits von rot­haa­ri­gen Men­schen sowie Land­schafts- und Stadt­do­ku­men­ta­tio­nen. Die Por­trait­se­rie „Red Heads“, gesam­melte Auf­nah­men von mehr als zehn Jah­ren, erscheint 1990 auch als Buch.

In sei­nen jün­ge­ren Arbei­ten doku­men­tiert er zum Bei­spiel im Auf­trag der Stadt New York die dor­ti­gen Park­an­la­gen („Legacy: The Pre­ser­va­tion of Wil­der­ness in New York City Parks“, 2006) oder hält mit sei­ner Kamera nach den Anschlä­gen auf das World Trade Cen­ter am 11. Sep­tem­ber 2001 die Auf­räum­ar­bei­ten von „Ground Zero“ für immer fest. Mey­e­ro­witz ist der ein­zige Foto­graf, der nach 9/​11 direkt auf das Gelände von Ground Zero gelas­sen wird. Auch die Presse wird vom Gelände ver­bannt: Ground Zero ist ein Tat­ort. Mey­e­ro­witz aber ist hart­nä­ckig, ver­sucht zig-mal, recht­mä­ßig auf das Trüm­mer­feld zu kom­men. Und es gelingt ihm. In den fol­gen­den neun Mona­ten ent­ste­hen tags­über und nachts tau­sende Fotos, die vor Augen füh­ren, wel­ches Aus­maß 9/​11 hatte. Der uner­müd­li­che Ein­satz der Hel­fer, die Kame­rad­schaft, Sze­nen bei den Auf­räum­ar­bei­ten mit Feu­er­wehr­leu­ten, Poli­zis­ten, Bau­ar­bei­tern… – all das ist auf Fotos gebannt. 400 von die­sen mehr als 8.000 Auf­nah­men sind als Buch mit dem Titel „After­math – World Trade Cen­ter Archive“ erschienen.

Mey­e­ro­witz hat in sei­nem Künst­ler­le­ben schon fast alles abge­deckt: Sze­nen der Stadt, Archi­tek­tur, Men­schen und Land­schaft. Was fehlte, was Mey­e­ro­witz in sei­ner Kar­riere noch nie gemacht hatte, waren Still­le­ben – bis vor kur­zem. Jetzt wid­met er sich auch die­sem Aspekt und hält foto­gra­fisch ein­fa­che Objekte wie alte Gegen­stände fest. Motive und Objekte fin­det er etwa im Ate­lier von Cézanne in Aix-en-Pro­vence. Dort foto­gra­fiert er Küchen­uten­si­lien auf einem grauen Regal vor einer grauen Wand: Karaf­fen, Känn­chen, Sil­ber­leuch­ter, ein Hut, eine Sta­tue… – ganz im Gegen­teil zur Street Pho­to­gra­phy und den Pho­to­graphs from the Car, eine stille, ruhige Arbeit.

Fotos: © Joel Mey­e­ro­witz, Cour­tesy Howard Green­berg Gallery


„Joel Mey­e­ro­witz – Retro­spek­tive“
Bis 1. Novem­ber 2015, Kunst Haus Wien,
Untere Weiß­ger­ber­straße 13, 1030 Wien
www.kunsthauswien.com

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 15–16 /​15.08.2015