CIRSmedical: Fall des Monats

15.08.2014 | Service

Um die Deeskalation in einer Akutpsychiatrie für Jugendliche geht es im aktuellen Fall des Monats. Der Bericht stammt von einer Pflegeperson mit weniger als fünf Jahren Berufserfahrung.

Fallbeschreibung

Suizidgefährdete Patientin versuchte, sich zu strangulieren mit einem Peha-Haft-Verband, der als Schutz über einen Venflon-Zugang gebunden wurde. Über den Monitor wurde das Ereignis entdeckt, eine Pflegeperson schritt sofort ein und verhinderte den Suizidversuch. Die Patientin wehrte sich gegen fremde Hilfe, ein Arzt wurde hinzugezogen und in der Folge wurde mehr Personal benötigt, um die Situation zu entschärfen aufgrund von massiver Gegenwehr der Patientin.

Die Patientin beruhigte sich nach langen intensiven Gesprächen und zusätzlicher Bedarfsmedikation wieder. Mögliche Gründe für dieses Ereignis: Suizidalität der Patientin; kein 100-prozentiger Schutz möglich – selbst im Krankenhaus nicht; keine permanente 1:1-Betreuung möglich aus personellen Gründen; keine permanente Fixierung mit Gurten möglich aus ethischen Gründen und aus Schutz vor Retraumatisierung der Patientin (sexueller Missbrauch in der Vergangenheit).

Vorfall passierte am späten Nachmittag. Die Patientin hat in dieser Zeit „Leerlauf“ – sprich keine Therapieangebote (Musiktherapie, diagnostische Gespräche, etc.). Hospitalisierung ist bereits gegeben. Patientin überlebt; Retraumatisierung bei Deeskalationen nicht auszuschließen; deutliche Strangulationsspuren am Hals erkennbar. Phasenweise psychisch stabil und gut erreichbar, Stimmung kippt spontan; nutzt kurze Abwesenheit des Personals gezielt für spontane Suizidversuche; nach Deeskalation wieder einige Zeit (ein bis zwei Stunden) stabil.

Fachkommentare der CIRSmedical-Experten

Lösungsvorschlag bzw. Fallanalyse

Möglicherweise ist noch eine Verbesserung zu erzielen durch eine Supervision beziehungsweise gemeinsame patientenbezogene Besprechungen. Es wird vom Fallbringer nicht erwähnt, ob an der Station Instrumente zur Einschätzung von Suizidalität verwendet werden, um besondere Risikopatienten zu identifizieren. Auch Grundkrankheit der Patientin ist nicht angegeben und ob diesbezüglich bereits eine optimale (medikamentöse) Therapie etabliert wurde. Gut ist die Nachbesprechung des Suizidversuches durch die Pflege. Ärztlich wäre es auch sinnvoll, um vielleicht eine neue Vereinbarung über antisuizidales Verhalten zu erarbeiten. In Leerzeiten wäre ein häufigerer (nicht unbedingt durchgehender 1:1-Kontakt) Kontakt der Pflege mit der Patientin sinnvoll (Kurzkontakte). Prinzipiell sind Suizidversuche jugendlicher Patienten vor allem bei entsprechender Anamnese (Trauma) und vorhandener Impulsivität nicht auszuschließen und auch nicht 100-prozentig zu verhindern.
(Experte für Psychiatrie und Neurologie; medizinisch-fachlicher Aspekt)

Lösungsvorschlag bzw. Fallanalyse
Bei der Betreuung suizidgefährdeter Patienten sollte zumindest einmal täglich ein ärztlicher Kontakt – fallweise auch deutlich häufiger – an der Station üblich sein, um das Gefährdungspotential gut einschätzen zu können. Den Ärzten obliegt somit in Zusammenarbeit mit den betreuenden Berufsgruppen federführend die Einschätzung des derzeit gegebenen Suizidrisikos. Die Pflegepersonen müssen bei einer Veränderung des Zustandes den diensthabenden Arzt beiziehen. Die Betreuungsdichte richtet sich nach der aktuellen Gefährdung, bei sogenannten Stufe 1-Patienten ist eine durchgehende 1:1-Betreuung zu gewährleisten (dies bezieht sich entweder auf eine direkte Anwesenheit im Akutbereich der Station oder auf eine Überwachung mittels Kamera). Im Akutbereich einer Station mit vier Betten im untergebrachten Bereich sollten zumindest zwei diensthabende Pflegepersonen die Betreuung und Beobachtung sicherstellen, sodass pro Pflegeperson maximal zwei Patienten zu betreuen sind. Grundsätzlich sollte die klare Regelung bestehen, keine verletzungsgefährdenden Gegenstände im Akutbereich zu belassen beziehungsweise gar nicht dort hinein zu bringen. In einzelnen Fällen bedeutet das durchaus auch, alternative, nicht verletzungsgefährdende Verbandmaterialien zu verwenden.

An der Station sollten ausreichend Reflexionsmöglichkeiten etabliert sein wie zum Beispiel unterschiedliche multiprofessionelle Visitenstrukturen (fachlich-inhaltliche Ebene) und Großteam-Supervision (für alle Berufsgruppen). Nachbesprechung/Reflexion einzelner Ereignisse mit oder ohne Anwesenheit der Stationsleitungen Arzt/Pflege/Pädagogik. Qualitätszirkel Deeskalation mit entsprechendem Reflexionsbogen (kann auch anonym verfasst werden) – schafft Lernmöglichkeiten.

Prüfung alternativer Verbandsstoffe über das Wundmanagement. Nutzung der vorhandenen Instrumente (Reflexionsbogen, Qualitätszirkel Deeskalation, diverse multiprofessionelle Besprechungen, Supervision).
(Experte aus dem Bereich Pflege)

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 15-16 / 15.08.2014