Prognosen im Gesundheitswesen: Von Daten zu Taten…

10.10.2014 | Politik

Auch wenn das Gesundheitssystem nicht berechenbar ist, müsse man versuchen, den Status quo besser zu erheben und möglichst gute Prognosen zu erstellen. Im Rahmen des Projekts DEXHELPP soll dargestellt werden, welchen Einfluss sozioökonomische Faktoren auf das Krankheitsgeschehen haben; ebenso sollen Versorgungswirksamkeit und Ergebnisqualität abgebildet werden. Von Marion Huber

Kann man das Gesundheitssystem berechnen? – diese Frage stand im Mittelpunkt einer Veranstaltung der Karl Landsteiner Gesellschaft im Rahmen der Reihe „Zukunft Gesundheit“, die Mitte September in Wien stattfand. „Nein“ – sagt Niki Popper, technischer Mathematiker und Geschäftsführer der dwh GmbH. Was man aber tun kann: Methoden und Modelle entwickeln, um das System zu analysieren und bestmögliche Prognosen zu erstellen. Das ist es, was die dwh GmbH gemeinsam mit weiteren Partnern wie dem Hauptverband der Sozialversicherungsträger und der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG) im Rahmen des Projekts DEXHELPP („Decision Support for Health Policy and Planning“) umsetzt.

Ausgegangen sei man von einer Forschungsdatenbank, die vor sechs Jahren aufgebaut wurde und auf Abrechnungsdaten der Krankenversicherungen aus 2006/2007 basiert, schilderte Gottfried Endel, Leiter des Bereiches HTA/EBM im Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger. Das decke zwar das Leistungsgeschehen nicht in allen, aber in wesentlichen Facetten ab, wie er erklärte. Und: Erstmals werde auf diese Art die Betrachtungsweise auf der Datenebene umgedreht: Patientenzentriert werde analysiert, was für wen warum und womit gemacht werde, so Endel weiter. Man wolle unter anderem quantifizieren und darstellen, welchen Einfluss sozioökonomische Faktoren auf das Krankheitsgeschehen haben; ebenso soll abgebildet werden, wie es um die Versorgungswirksamkeit und Ergebnisqualität steht.

Noch bevor man sich Fragen wie der Umsetzung von Primary Health Care widme, müsse man die jetzige allgemeinmedizinische Versorgungs-Landschaft kennen. Wo gibt es Parallelstrukturen, wo Synergien? All das seien Themen der Zielsteuerung – und das entsprechende Bundeszielsteuerungs-Gesetz fordere wissenschaftlich etablierte Methoden, die auf Routinedaten angewendet werden. „Diese existieren zum Teil aber noch nicht“, meinte Endel. Österreichische Standards gebe es hier praktisch keine. Der Ansatz von DEXHELPP ist es nun, festzustellen, welche Informationen man mit Routinedaten generieren kann und wie man Fragestellungen der Gesundheitsreform aus wissenschaftlicher Sicht lösen kann. „Es wird sicher auch Fragen geben, auf die wir keine Antwort geben können“, schränkte Endel die Möglichkeiten ein.

Alle Erwartungen werde das Projekt demnach nicht erfüllen können, so die Experten; durch die Kooperation mit der Technischen Universität sei aber jedenfalls die unabhängige wissenschaftliche Expertise garantiert. Ein interdisziplinäres Projektteam sorge neben dem Datenschutz – er ist „nach bestem Stand der Wissenschaft abgesichert“ – auch für Transparenz und Visualisierung der Ergebnisse, wie Endel betonte. Die Aussagen müssten nachvollziehbar und reproduzierbar sein. Und: Sie werden publiziert. Man wolle nicht für die Schublade arbeiten, sondern die Ergebnisse jedem über die Homepage zur Verfügung stellen. „Das garantiert größte Glaubwürdigkeit“, betonten sowohl Endel als auch Popper. So soll es außerdem gelingen, dass die Aussagen nicht nur für einige wenige Experten, sondern auch für Patienten verständlich werden. „Wenn wir es schaffen, dass die Zusammenhänge allen klar werden, haben wir auch Chancen, dass es umgesetzt wird“, sagte Popper.

Faktor „Unsicherheit“

Wie bei allen Prognosen sei auch hier der Faktor „Unsicherheit“ relevant, gab Niki Popper zu bedenken. Man müsse einerseits versuchen, den Status quo besser zu erheben und andererseits Methoden finden, um „möglichst gute“ Prognosen erstellen zu können. Das Team hat sich noch ein weiteres, ambitioniertes Ziel gesteckt: Schlussendlich sogar Methoden zu entwickeln, mit denen man die Konsequenz von verschiedenen strategischen Maßnahmen vergleichen kann. „Wir wollen sagen können, was passiert, wenn Variante A, was, wenn Variante B gewählt wird“, konkretisierte der Mathematiker.

Bei reinen Formeln, statistischen Methoden und dynamischen Modellen soll es aber nicht bleiben. „Wir wollen nicht im Elfenbeinturm sitzen, sondern nah an der Praxis sein“, stellte Popper klar. Man arbeite mit Forschungsdatenbanken, die ein reales System – trotz aller Widrigkeiten – möglichst qualitativ gut abbilden. Die Methoden, die man entwickelt, sollen in Zukunft real effektiv eingesetzt werden. „Und wir trauen uns noch etwas zu: Jetzt konkrete Ergebnisse zu liefern und diese anschließend zu evaluieren“, so Popper.

„Fast zu schön, um wahr zu sein“, bezeichnete Gerald Bachinger, Sprecher der ARGE Patientenanwälte Österreichs, diese Aussichten. Die flächendeckende Umsetzung dieses Projekts sei aus seiner Sicht ein wichtiger Schritt, um die „Willkür“ von gesundheitspolitischen Entscheidungen einzuschränken. Zurzeit finde er es „sehr seltsam“, wie Weichenstellungen im Gesundheitswesen getroffen werden: „Transparenz und Evidenz sind da nach wie vor Stiefkinder.“ Schon jetzt gäbe es viele Studien und Daten, nur „verschwinden diese gerne in Schubladen, wenn sie nicht genehm sind“, kritisierte der Patientenanwalt. So solle das Projekt kein Gedankenspiel für Wissenschafter sein, sondern die Grundlage für wichtige politische Entscheidungen. Dies sei gerade jetzt „von höchster politischer Relevanz und höchst aktuell“. Denn wie gesundheitspolitische Entscheidungen getroffen werden, treffe vor allem einen – nämlich den Patienten. So gesehen könne das Tool auch für Patienten „höchst wirksam“ sein, so Bachinger weiter. Weil wir in keinem „Ressourcen-Schlaraffenland“ leben, sei entscheidend, ob wirksame oder unwirksame Maßnahmen finanziert werden. Ob ein solches Tool in der „Kultur des österreichischen Gesundheitswesens“ aber überhaupt eingesetzt werden könne, bezweifelte er: „Das beste Projekt hat keine Chance, wenn es nicht in das Umfeld eingebettet werden kann.“

Daten seien das eine, Taten etwas anderes, betonte Klaus Schuster, stellvertretender Geschäftsführer des niederösterreichischen Gesundheits- und Sozialfonds NÖGUS. Aus einem solchen Projekt müssten klarerweise auch reale Schritte resultieren. Es nütze nichts, nur die Vergangenheit zu beschreiben. Viel eher müsse man vergangene Fehler erkennen, daraus lernen und gesundheitspolitische Konsequenzen ziehen. Schuster sieht im Projekt auch eine Chance, die Politik umfassender zu informieren und zu beraten – und sie vor „Fettnäpfchen“ zu warnen. Mit Blick auf den „Ziel“-Steuerungsvertrag, in dem sehr viele Ziele definiert seien, müsse man aber zunächst eines klären: Welches Ziel ist wirklich erstrebenswert und zu priorisieren? Mit DEXHELPP müsse es gelingen, Alternativen aufzuzeigen, zu vergleichen und zu definieren, welches Ziel auf welchem Weg erreicht werden kann.

Datenspeicher, „die ja schon jetzt noch und nöcher zur Verfügung stehen“ würden nicht für Entscheidungen genutzt und dadurch zu „Datenfriedhöfen“, kritisierte auch Bachinger. Auch wenn Schuster der Aussage von Bachinger grundsätzlich zustimme, sei zu bedenken, dass Daten in vielen Fälle Limitationen hätten. Man müsse überlegen, welche Fragen mit den derzeit vorhandenen Routinedaten überhaupt sinnhaft beantwortet werden können – und welche nicht. „Erst dann weiß man, welche Daten man in Zukunft wirklich braucht, um entscheidende Antworten zu bekommen“, so Schuster.

„Modelle, die wir von der Welt machen, sind immer limitiert“, gab Popper zu bedenken. Dennoch müsse man versuchen, aus diesen qualitativ limitierten Daten, die bestmöglichen Aussagen zu treffen. „Wir versuchen jetzt, die Qualität von Prognosen zu verbessern – und sei es nur um ein Prozent.“ Entscheidungen müssen getroffen werden – und da nütze schon die kleinste Verbesserung der zugrundeliegenden Daten und Prognosen. Außer man wolle es halten wie Helmut Qualtinger, wenn er sagt: „Ich weiß zwar nicht, wohin ich will, aber dafür bin ich schneller dort…“

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 19 / 10.10.2014