Mutter-Kind-Pass: Ein Vorbild wird 40

25.06.2014 | Politik

International gilt der Mutter-Kind-Pass als Vorbild; in Österreich selbst jedoch steht die Weiterentwicklung seit vier Jahren still. Die 40-jährige Erfolgsgeschichte stand im Mittelpunkt einer Enquete, bei der die Experten eines klarstellten: Sowohl die Koordination des MUKIPA als auch die wissenschaftlich-medizinische Expertise muss in den Händen von Ärzten bleiben.
Von Marion Huber

Es ist eine Erfolgsgeschichte, die man respektieren, würdigen und feiern muss: eine Institution – der Mutter-Kind-Pass – ist 40 Jahre alt“, betonte ÖÄK-Präsident Artur Wechselberger bei der Jubiläums-Enquete Anfang Juni in Wien. Für ein Präventionsprogramm gelte, dass es einfach sein müsse und schnell messbaren Erfolg bringe. „Der MUKIPA hat das eindrucksvoll gezeigt“, so Wechselberger. Denn bald nach dessen Einführung wurde festgestellt, dass Österreich bei der Säuglings- und Müttersterblichkeit endlich an das europäische Niveau herangeführt werden konnte. „Und heute nehmen wir einen Spitzenplatz ein“, zeigte sich der ÖÄK-Präsident erfreut. So konnten beispielsweise seither Defekte, die früher zu schweren Beeinträchtigungen geführt hätten, hintan gehalten werden. Der MUKIPA habe darüber hinaus auch gezeigt, dass es nicht ausreiche, ein Angebot nur bereitzustellen, sagte Wechselberger mit Blick auf andere Präventionsprogramme wie etwa die Masern-Impfung. „Bei allen finanziellen Überlegungen muss man auch das Geld in die Hand nehmen, um solche Angebote an die Frau und den Mann zu bringen.“ Sein Dank gelte all jenen, die den MUKIPA vor 40 Jahren ins Leben gerufen hätten sowie all jenen Ärztinnen und Ärzten, die ihn zu einem Erfolg gemacht hätten – ebenso auch wie den Eltern, die bereit seien, die Untersuchungen durchführen zu lassen. Demgemäß auch der Wunsch von Wechselberger: „Viele weitere erfolgreiche Jahre für den MUKIPA.“

Auch Gesundheitsminister Alois Stöger dankte „allen Ärzten für die Arbeit, die sie geleistet haben“. In seinem Statement betonte er, wie wichtig es gewesen sei, das Angebot an den Bonus der Geburtenbeihilfe zu binden, denn „das hat gerade in den Zielgruppen, die sich weniger mit Gesundheitsfragen auseinandersetzen, besonders gefruchtet“. Da der Mutter-Kind-Pass in den vergangenen 40 Jahren seines Bestehens immer wieder überarbeitet wurde, „soll damit auch jetzt nicht Schluss sein“, wie Stöger betonte: „Er soll beibehalten, weiterentwickelt und gestärkt werden.“

Aber wie? Und: von wem? Wurde doch die dafür zuständige Mutter-Kind-Pass- Kommission beim Obersten Sanitätsrat mit Auslaufen der Funktionsperiode Ende 2010 stillgelegt. Eine Frage, über die die Experten am Podium mit reger Beteiligung des Publikums heftig diskutierten. Seitdem die Kommission abgeschafft wurde, würden die Themen, an denen es zu arbeiten gilt, vom Gesundheitsministerium vorgegeben, wie Univ. Prof. Dagmar Bancher-Todesca, Abteilung für Geburtshilfe und feto-maternale Medizin der Medizinischen Universität Wien, erklärte. Das Ludwig Boltzmann Institut gebe dann HTA-Berichte an das Gesundheitsministerium ab; neun solche Projektberichte – sie umfassen rund 1.500 Seiten – liegen bereits vor. „Aber seit vier Jahren kann das wissenschaftlich-medizinisch beratende Gremium nicht mitsprechen. Die Arbeit steht still“, kritisierte Bancher- Todesca. Daher hat die Österreichische Ärztekammer 2013 beschlossen, zusammen mit den wissenschaftlichen Gesellschaften eine interdisziplinäre Expertenkommission zum Thema MUKIPA ins Leben zu rufen. „Wir haben es als fahrlässig empfunden, diese MUKIPA-Kommission nicht wieder zu berufen, weil die Wissenschaft indes voranschreitet“, betonte der Leiter der interdisziplinären Expertenkommission und Obmann der Bundesfachgruppe Frauenheilkunde und Gynäkologie in der ÖÄK, Thomas Fiedler. Und weiter: „Ein Tool wie den MUKIPA kann man nicht einfach auf Eis legen.“ Vielmehr sei eine ständige Begleitung notwendig – „und zu dieser Begleitung hat sich die interdisziplinäre Expertenkommission entschlossen“.

Mit einem „klaren Vorwurf an die Politik“ meldete sich der ehemalige Leiter der Kinderklinik Glanzing in Wien, Univ. Prof. Andreas Lischka, aus dem Publikum zu Wort: „Es ist völlig unverständlich und nicht einzusehen, dass eine jahrelang hervorragend arbeitende Kommission abgeschafft wurde, ohne vorher etwas Neues zu schaffen.“ Seiner Ansicht nach seien die vier Jahre, die inzwischen vergangen sind, nur schwer einzuholen. Weswegen er der Expertenkommission gratulierte, denn „sie hat erkannt, dass die Ärzte vorangehen und die Initiative ergreifen müssen, weil wir uns leider nicht auf die Politik verlassen können“, so Lischka.

Gut, aber nicht gut genug

Der generelle Tenor der Experten: Der MUKIPA ist gut, aber er muss besser werden. Wie? Dazu brauche es vor allem wieder eine regelmäßige Beurteilung der Maßnahmen – unter ständiger Einbindung von medizinischen Experten und der Zusammenarbeit der besten Kräfte, wie Univ. Prof. Reinhold Kerbl, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde, betonte. „Dabei soll jeder das machen, was er am besten kann. Die Datenanalyse soll durch Health Technology Assessment erfolgen, aber die medizinische Interpretation durch Ärzte.“

Und um die Wichtigkeit einer solchen klaren Aufgabenverteilung zu unterstreichen, zog Kerbl das Toxoplasmose- Screening im MUKIPA als Beispiel heran. Alle in den HTA-Berichten zitierten Studien – sie stammen vorwiegend aus dem anglo-amerikanischen Raum – kommen zum Schluss, dass das entsprechende Screening nichts bringt. Zu einem ganz anderen Ergebnis kommen hingegen die österreichischen Zahlen, wie Kerbl betonte. Und weiter: „Deshalb brauchen wir ein Gremium, das genau hier ansetzt und kritisch analysiert, inwieweit internationale Studien auf Österreich übertragen werden können.“ Wie ganz generell diese Interpretationen von Daten durch Experten – sogenannte Appraisals – endlich stattfinden müssten; bisher sei das schlichtweg nicht passiert. „Es ist höchste Zeit, Appraisal-Komitees aufzustellen und weiter daran zu arbeiten“, stimmte auch Claudia Wild, Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Health Technology Assessment, zu.

Denn Ideen, wie man den MUKIPA erweitern, verbessern und verändern könnte, gibt es viele. Erstes und vorrangiges Ziel ist es – darin sind sich die Experten einig – die im Zuge der MUKIPA-Untersuchungen erhobenen Daten österreichweit elektronisch zu erheben, zu sammeln und auszuwerten. „Nur so können wir sehen, wie sinnvoll das ist, was wir bisher machen und welche Erweiterungen sinnvoll wären“, erklärte Bancher-Todesca. Reinhold Glehr, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (ÖGAM), ist ebenfalls von der Notwendigkeit der Weiterentwicklung und eines „Update“ des MUKIPA überzeugt. „Ich bezweifle, dass es jemand wagen wird, dieses Bonus gestützte, moderne Präventionsmodell mit so hoher Beteiligung einem Sparprogramm zu unterwerfen.“

Die Leiterin der Koordinationsstelle Kinder- und Jugendgesundheit im Gesundheitsministerium, Petra Lehner – sie ist für fachliche Angelegenheiten von Mutter und Kind sowie den Mutter-Kind- Pass zuständig – wollte eine „versöhnliche Vorausschau“ abgeben, wie sie erklärte. Sie kündigte einen „Multi-Stakeholder- Prozess“ zur Weiterentwicklung des MUKIPA an, wollte jedoch keine Details nennen. Wie Lehner weiter ausführte, sei der Prozess zwar Ergebnis-offen, habe aber das Ziel, „die Weiterentwicklung des Mutter-Kind-Passes in einen legistischen Rahmen zu fassen“. Für den Gynäkologen Fiedler ist eines jedoch völlig klar: „Bei aller Einbeziehung von Stakeholdern können medizinische Themen auch in Zukunft ausschließlich von Ärzten behandelt werden.“ Sein Angebot an die Politik: die Zusammenarbeit zu suchen und die Verantwortung für das Vorsorge-Tool gemeinsam wahrzunehmen. „Ein Verweigern dieser Kooperation wäre eine Absage an eine großartige Entwicklung“, so das Resümee von Fiedler. Auch der Pädiater Kerbl ist davon überzeugt, dass nur durch die Zusammenarbeit von allen, die am MUKIPA beteiligt sind, und zwar eine Zusammenarbeit ohne Ressentiments – das Beste für die Kinder und Familien erreicht werden kann.

Aber eines steht auch für ihn außer Frage: Dass die Koordination aller Aktivitäten bei jemandem liegen muss, der die Gesamtübersicht und wissenschaftliche Erfahrung hat – so wie es über viele Jahre in der MUKIPA-Kommission der Fall war. „Die Koordination gehört somit in ärztliche Hand“, so sein Plädoyer.

Was der MUKIPA bewirkt…

„Es gibt kaum eine Erfolgsgeschichte in der Medizin, die so drastisch war wie die des MUKIPA“, betonte Univ. Prof. Sepp Leodolter, ehemaliger Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe. Die damalige Gesundheitsministerin Ingrid Leodolter – und Mutter von Sepp Leodolter – war es, die den MUKIPA 1974 eingeführt hat. Der Grund: Die enorm hohe Säuglingssterblichkeit in Österreich – doppelt so hoch wie in Deutschland, Skandinavien, England etc. Mit einer Säuglingssterblichkeit von 24,5 Promille war Österreich das „Schlusslicht Westeuropas“, fügte Univ. Prof. Dagmar Bancher-Todesca, Abteilung für Geburtshilfe und feto-maternale Medizin der Medizinischen Universität Wien, hinzu. Durch den MUKIPA, durch qualitative und medizinische Fortschritte sowie eine hohe Compliance der schwangeren Frauen – fast 100 Prozent nahmen das Angebot in Anspruch – besserten sich die Zahlen bald dramatisch. Leodolter dazu: „In keinem anderen Teilbereich der Humanmedizin wurden in den vergangenen 40 Jahren größere Fortschritte erzielt als in der Peri- und Neonatologie.“ Perinatale Mortalität und Säuglingssterblichkeit sanken von 1973 bis 1979 um je 40 Prozent. Im Vorjahr lag die perinatale Mortalität schließlich bei 5,1 Promille, die Säuglingssterblichkeit bei 3,2 Promille. Viel besser könnten diese Zahlen kaum noch werden, betonte Bancher-Todesca: „Unser Ziel muss es jetzt sein, die Frühgeburtenrate und die Morbidität zu senken.“

Die Frühgeburtenrate stagniert seit 1973 bei etwa sieben Prozent und stieg in den letzten Jahren sogar leicht an. 2012 betrug sie 8,2 Prozent und liegt damit im internationalen Trend. Der Grund: Immer mehr ältere und kränkere Frauen könnten durch den medizinischen Fortschritt schwanger werden; durch In-vitro-Fertilisation nehmen Mehrlingsschwangerschaften zu – was zu steigenden Frühgeburten-Raten führt. „Hier muss dringend etwas getan werden“, so Bancher-Todesca.

Als einen „Meilenstein“ in der jüngeren Entwicklung des MUKIPA bezeichnete Bancher-Todesca den oralen Glukosetoleranztest, der nach langen Diskussionen 2009 eingeführt wurde. „Viele Nachbarländer beneiden uns darum“, so die Expertin. Jede zehnte Schwangere leidet an Gestationsdiabetes; frühes Erkennen und die richtige Therapie könnten das Outcome wie bei einer Stoffwechsel-gesunden Frau bewirken.

Neben der geringen Säuglings-Mortalität, die mit dem MUKIPA erzielt werden konnte, geht es auch für Univ. Prof. Reinhold Kerbl, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde, in erster Linie darum, „Kinder mit Erkrankungen frühzeitig zu erkennen, zu therapieren und dadurch gesunde Erwachsene hervorzubringen“. Auch das metabolische Screening sei in Österreich ein ausgedehntes Programm, weil durch eine fortgeschrittene Methode in einem einzigen Durchgang auf 30 Metaboliten untersucht werden könne.

Und wie soll es – aus medizinischer Sicht – mit dem MUKIPA weitergehen? Die Vorsorge in der Schwangerschaft werde sich ändern, meinte etwa Bancher-Todesca. Wurden früher gegen Ende der Schwangerschaft immer mehr Untersuchungen durchgeführt, werde sich das nach Ansicht der Expertin künftig umkehren. Dadurch könne man Schwangere schon früh unterteilen: in eine Risikogruppe, die intensiver betreut werden muss, und eine Gruppe, die weniger Untersuchungen benötigt. Überdenken könne man aus ihrer Sicht die derzeitige Form der internen Untersuchung und das Syphilis-Screening – sie seien veraltet. Hingegen wäre es wichtig, das Schilddrüsen-Screening einzuführen. Kerbl schlägt weiters vor, den MUKIPA bis ins Schul- und Jugendalter zu erweitern. Seine Begründung: „Neben den Problemen Übergewicht und Bewegungsmangel haben wir auch viel zu viele rauchende und trinkende Jugendliche und wir müssen uns fragen, wie wir dem frühzeitig entgegnen können.“

Dass Anpassungen immer wieder nötig sind, diese Erfahrung habe man im Lauf von 40 Jahren MUKIPA gemacht, wie Leodolter betonte. „Das Wichtigste aber ist, dass medizinische Experten sagen, was einerseits möglich und was andererseits umsetzbar, leistbar und vordringlich ist.“

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 12 / 25.06.2014