Kommentar – Dr. Karl Forstner: Alternativ: Kernschmelze oder GAU

25.10.2014 | Politik

Von Karl Forstner*

Die Kernschmelze hat längst begonnen. Gott sei Dank nicht in einem der vielen Atommeiler dieser Welt – aber im österreichischen Gesundheitssystem. Dieses Land bildet zwar mit rund 1.400 Absolventen der medizinischen Universitäten knapp den Bedarf an Ärzten aus, die im kommenden Dezennium erforderlich sein werden, um die altersbedingten Abgänge zu kompensieren. Aber diese Annahme ist nur bei oberflächlicher Betrachtung richtig. Denn die Statistik der Österreichischen Ärztekammer spricht eine andere Sprache. Bei detaillierter Betrachtung zeigt sich nämlich, dass sich tatsächlich nur rund 900 dieser jährlichen Absolventen dem österreichischen Gesundheitssystem als Ärztinnen und Ärzte zur Verfügung stellen. Wer nun weiß, dass knapp 20.000 der derzeit in die Ärzteliste eingetragenen Kolleginnen und Kollegen älter als 50 Jahre sind, wird unschwer das Defizit ermessen können, das sich hier aufbaut. Ja, der Einwand ist richtig: Nicht alle dieser 20.000 Ärztinnen und Ärzte werden voll versorgungswirksam sein, nicht alle sind in der Sprache unserer Bürokraten „Vollzeitäquivalente“. Aber dies gilt sicher auch für die nachrückenden Generationen. Dies unter anderem auch im Wissen, dass die Lebensplanungen dieser Ärztinnen und Ärzte gänzlich anders aussehen als jene ihrer Vorgänger. Nicht zuletzt ist dies auch verständlich, da sich das Geschlechterverhältnis in den Generationen mit aktuell knapp zwei Drittel Ärztinnen-Anteil zahlenmäßig annähernd umkehrt.

Eines kann man unserer Politik nicht absprechen: Konsequenz. Allerdings beschränkt sich diese in der gegenständlichen Problematik auf kollektive Ignoranz. Dabei sind die bereits heute sichtbaren Probleme – Nachbesetzung von Kassenplanstellen, Turnusärztemangel, Abwanderung von Fachärzten – nur der sprichwörtliche Gipfel des Eisberges. Nicht die Ursachen des Problems werden analysiert, sondern bestenfalls bemitleidet sich die Politik selbst, wie bei der derzeitigen Diskussion um die Implementierung der EU-Arbeitszeitrichtlinie in österreichisches Recht. Dass sich Österreich bereits vor knapp 20 Jahren verbindlich zu dieser Richtlinie bekannt hat, wird einfach ausgeblendet.

Der Weg zu einem fundamentalen, das Gesundheitssystem bedrohenden Ärztemangel ist vorgezeichnet. Daran würde auch die Gründung von weiteren medizinischen Universitäten oder Fakultäten nichts mehr ändern können. All diese kämen zu spät und würden auch nicht das Grundproblem adressieren. Es wäre, als würde man versuchen, die Verluste aus einem löchrigen Eimer durch einen weiteren Eimer mit Löchern zu kompensieren.

Der einzig mögliche Weg, unser Gesundheitssystem leistungsfähig zu erhalten, wird nur mit einer spürbaren Attraktivitätssteigerung der Arbeitsbedingungen für unsere Ärztinnen und Ärzte gelingen. Und dafür bleibt keine Zeit. Sonst werden die Menschen dieses Landes dies als GAU erleben: als Größte Anzunehmende Unfähigkeit.

*) Dr. Karl Forstner ist 1. Vizepräsident der ÖÄK

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 20 / 25.10.2014