Interview – Prof. Helmut Brand: „Gesundheitssysteme vor Ort managen“

25.10.2014 | Politik

Das Management der Gesundheitssysteme muss vor Ort erfolgen, bei übergeordneten Fragen der öffentlichen Gesundheit ist die grenzüberschreitende Koordinierung in Europa notwendig, sagt Prof. Helmut Brand, Präsident des European Health Forum Gastein. Das Gespräch führte Agnes M. Mühlgassner.

ÖÄZ: Seit zwei Jahren sind Sie Präsident des European Health Forum Gastein, zu dem heuer rund 600 Teilnehmer aus mehr als 50 Staaten gekommen sind. Welchen Stellenwert hat diese Tagung?
Brand: Österreich ist jetzt seit 17 Jahren Gastgeber für europäische Gesundheitspolitik. Das Forum hier hat nicht nur Europa zu Gast, um Erfahrungen für Österreich daraus zu gewinnen, sondern es geht wirklich um europäische Gesundheitspolitik. Wir haben vier Säulen als Vertreter: die Administration, die Forschung, die NGOs und die Industrie. Es ist ein einzigartiger Event: Für drei Tage kommen 600 Leute in ein Tal, rollen den großen Stein vor den Tunneleingang, damit niemand weg kann und können in Ruhe miteinander reden. Wenn Sie so sonst in London, Paris oder Wien sind, dann wären alle abends in der Oper oder sonst wo. Und hier ist man zusammen. Es hat sich eine Gesprächskultur herauskristallisiert, wo man offen miteinander reden kann: Die NGOs reden mit der Industrie darüber, warum gewisse Sachen wie laufen. Die Industrie kann gegenüber der Verwaltung, gegenüber der Forschung erklären, warum sie gewisse Sachen macht. Die Kommission kann testen: Das wären so gewisse Ideen – was haltet ihr davon? Und das in einem Rahmen, der nicht gleich Lobbyismus-mäßig vollgefüllt ist. Wenn sie einen offiziellen Termin bei der Kommission haben, um etwas zu besprechen, dann gibt’s Vermerke etc. Und das ist auch ein Grund, wieso alle gerne kommen.

Wo liegt die Herausforderung für die Gesundheitspolitik in Europa?
Das ist die Kooperation der verschiedenen Mitgliedsstaaten im Bereich Gesundheit. Auf der einen Seite ist im Europäischen Vertrag geregelt, dass man das Management der Gesundheitssysteme vor Ort machen muss, denn da hat Europa nichts verloren. Aber es gibt übergeordnete Fragen der öffentlichen Gesundheit wie zum Beispiel die Kontrolle von Infektionskrankheiten. Wenn Sie den Ausbruch von Infektionskrankheiten haben, und die Niederländer kämen auf die Idee, den Flughafen von Amsterdam zuzumachen, dann würden alle sagen: ja, das könnt ihr gerne machen, dann fliegen wir alle von Düsseldorf oder von Brüssel. Das funktioniert nicht. Also muss ich zumindest die Nachbarländer mit an Bord haben. Man kommt ganz schnell dahinter: Wir müssen uns in Europa absprechen. Das heißt nicht, dass wir eine europäische Zentralregierung brauchen, sondern wir müssen uns koordinieren.

Können Sie das an einem Beispiel konkretisieren?
Die Lebenserwartung der Frauen in Dänemark ist immer weiter gestiegen und alle waren glücklich und zufrieden, bis sich jemand die Lebenserwartung der Schwedinnen und Finnen angesehen hat und die noch viel steiler war. Da fragte sich natürlich ganz Dänemark: Was läuft hier schief? Die Begründung ist die, dass die dänischen Frauen die ersten Skandinavierinnen waren, die vermehrt mit dem Rauchen angefangen hatten. Aber erst durch den Vergleich hat man das herausgefunden, vorher war alles in Ordnung. Erst durch den Vergleich kriegt man mit: Wo stehe ich überhaupt? Jetzt haben wir 28 Länder, und die sind sehr unterschiedlich. Aber wir haben die Möglichkeit, diese als Labor zu sehen, von dem man lernen kann. Wenn wir Gäste aus Asien haben, sagen die: Malta ist ein eigener Staat – das ist bei uns nicht einmal ein Dorf. Ja, aber Ihr habt hier die Chance, in einer Woche 28 verschiedene Lösungen zu den Problemen, die wir haben, zu sehen.

Primary Health Care ist etwas, was in den skandinavischen Staaten funktioniert und nun auch in Österreich umgesetzt werden soll. Inwiefern ist es nicht auch hier notwendig, lokale Gegebenheiten zu berücksichtigen mit einem gewachsenen Hausarztsystem – auch im Hinblick darauf, dass wir andere geographische Gegebenheiten als in den skandinavischen Ländern haben und der Hausarzt einen besonderen Stellenwert hat?
Am Beispiel von Europa sieht man ja: unity in diversity. Es geht also darum, die nationalen Unterschiedlichkeiten zu berücksichtigen und zu versuchen, sich abzusprechen und gemeinsame Lösungen zu finden für Probleme, die auch verschiedene Mitgliedsstaaten betreffen. Wenn Sie jetzt über Primary Health Care sprechen: Da muss man sich ja nicht nur die Hausärzte ansehen, sondern auch, was in den Krankenhäusern läuft. Zum Beispiel gibt es länderspezifische Empfehlungen vom Europäischen Rat, und das sind ja die Regierungschefs, die die Empfehlungen abgeben. Das ist ja nicht die Kommission. Da gibt es zum Beispiel auch für Österreich die Empfehlung, dass noch zu viel in den Krankenhäusern gemacht wird und zu wenig ambulant. Das heißt: Stärkt doch mal euer Primary Care-System. Das kommt aus dieser Ecke. Und es geht nicht darum: Wir mögen das österreichische Hausarztmodell nicht. Sondern es war so, dass es absehbar ist: In anderen Ländern läuft da schon mehr im ambulanten Bereich. Und deswegen der Vorschlag an Österreich, ob das nicht auch so gehen würde.

Heißt Primary Care also nicht nur Primary Health Care-Zentrum, sondern Primary Care, wie sie auch jetzt schon in Österreich gelebt wird?
Alles. Zum Beispiel in England sagt man zu Primary Care: Das ist der Hausarzt. Es ist vielmehr alles das, was nicht stationär ist. Ambulantes Operieren ist möglich. Patienten sind viel mündiger geworden, können selbst den Blutdruck-Check machen. Bei der Diabetiker-Versorgung muss ich nicht dauernd zum Arzt. Die Rolle des Hausarztes hat sich vom Experten zum Lotsen entwickelt. Hier sind ganz große Veränderungen im Laufen. Und auch das Berufsbild ändert sich ja. Und für jedes Land muss es ja passen. Die können sich ja ein Auto so zusammenstellen, wie sie das wollen – so ähnlich ist es mit den Gesundheitssystemen auch.

Fakt ist ja, dass es in Europa viele kleine Länder wie etwa Zypern, Malta und Luxemburg gibt – mit unterschiedlichen Anforderungen.
Die Niederlande zum Beispiel haben 16 Millionen Einwohner und sagen, sie sind ein kleines Land. Die profitieren von Europa ungemein. Also dieses gemeinsame Einkaufsmodell für Impfstoffe, das wir jetzt haben, ist für die ein richtiger Durchbruch. Weil wenn sie für 300.000 Malteken etwas einkaufen, dann heißt es: Wartet, wir machen einmal Frankreich, Spanien, Deutschland und dann kommt lange nichts und dann schauen wir einmal, ob wir noch einen Rest haben für die 300.000 Malteken. Dieses Einkaufsmodell ist natürlich auch ein Durchbruch für die Demokratie. Wenn Sie auf Staatsebene eine Ausschreibung machen, um Impfstoff zu kaufen, ist das so ein Papierkram und alle möglichen Leute müssen beteiligt werden. Das haben wir geschafft, dass wir jetzt eine europäische Ausschreibung haben. Wenn man etwa sagt: Ich brauche einen Impfstoff für 500 Millionen Menschen – okay, da können wir über Preise reden.

Welche Hürden auf EU-Ebene sind denn die größten im Bereich der Gesundheitspolitik?
Europa ist so erfolgreich geworden, dass die Bürger gar nicht mehr mitbekommen, was sie an Europa haben. Es ist so ähnlich wie bei einer guten Krankenversorgung: Solange sie da ist, ist alles gut. Sobald etwas schief läuft, heißt es: Wie kann das denn passieren? So ähnlich ist es auch mit Europa. Wir bilden in Maastricht Studenten aus in Public Health, die studieren in den Niederlanden, gehen in Deutschland einkaufen und donnern mit ihren Autos über die Grenzen. Sie brauchen kein Geld mehr zu wechseln und beschweren sich aber über Europa: Wozu brauchen wir das denn? Die Realität ist anders. Europa ist ein Erfolgsmodell, das sich sehr schlecht vermarktet hat. Das muss man schon sagen. Bei Gesundheit hängen wir auch noch hinten dran.

Warum gerade hier?
Wenn Sie zum Beispiel Europaparlamentarier sind, möchten Sie nicht in einem Bereich arbeiten, in dem Sie nur eine halbe Kompetenz haben. Da wird Ihnen eher abgeraten: Damit machst Du keine Karriere. Aber das ändert sich jetzt ein bisschen. Wenn wir zehn oder zwölf Prozent von unserem Bruttoinlandsprodukt für unsere Gesundheit ausgeben, dann ist das ein erheblicher Wirtschaftsfaktor. In dem Bereich arbeiten mehr Menschen als in der Automobilbranche. Und wenn wir da ein bisschen kürzen, dann werden die Behandlungen verzögert stattfinden und wir werden später mehr ausgeben. Das kann man quantifizieren. In Griechenland zum Beispiel wurden in der Wirtschaftskrise Sozialarbeiter-Programme mit dem Nadelaustausch-Programm bei Drogensüchtigen gestrichen. Dadurch ging dann die Hepatitis- und HIV-Rate nach oben. Das geringe Gehalt für Sozialarbeiter wäre gut investiertes Geld gewesen. Jetzt müssen die Kosten für die Hepatitis- und HIV-Behandlung getragen werden. Eine ganz andere Idee ist die von einem europäischen Fonds und wir einigen uns auf eine Art Minimalversorgung. Wenn aus irgendwelchen Gründen in einem Land – sei es aufgrund eines Vulkanausbruchs, Bürgerkriegs oder was immer – das nicht mehr national gemacht werden kann, dann springt die EU dafür ein und deckt die Basis-Versorgung ab. Später, wenn es dem Land wieder gut geht, hilft es mit, den Fonds wieder aufzufüllen.

Heißt das, dass in der EU dem Gesundheitssektor insgesamt zu wenig Bedeutung beigemessen wurde?
Wir sehen den Gesundheitsbereich immer nur so: Da werden Kosten verbrannt – etwa in einem Krankenhaus. Haben Sie einmal versucht, ein Krankenhaus zuzumachen? Der lokale Bäcker, der lokale Reinigungsdienst – alle stehen auf der Matte und sagen: Das kannst Du nicht tun, das ist ein Drittel von meinem Umsatz. Das ist das eine. Das andere: Dafür ein weit entferntes Beispiel, Afrika. Früher sagte man: Wir müssen den Kontinent wirtschaftlich entwickeln, dann wird es den Menschen auch gesundheitlich besser gehen. Dann kam AIDS. Jetzt war die Devise: Die Menschen sind so krank, hier müssen wir erst medizinische Hilfe geben. In Europa ist es so, dass wir eine so gute Wirtschaftsleistung haben, dass das Sozialsystem nachziehen konnte. Jetzt bröckelt unser Wirtschaftssystem und die Frage stellt sich: Wie gehen wir damit um? Muss da die medizinische Versorgung automatisch auch mit hinunter gehen oder ist sie mittlerweile nicht Teil der ganzen Wertschöpfungskette geworden? Wenn Sie sich alle sechs Monate ein Handy kaufen, freuen sich alle. Dass damit eine Umweltverschmutzung ersten Grades passiert, das interessiert keinen Menschen. Aber wenn im Gesundheitswesen die Ausgaben von 10 auf 10,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigen, dann wird Zeter und Mordio geschrien. Es gibt keine richtige Antwort, sondern es geht darum: Was ist es uns wert? Aber Länder wie China, die jetzt erst eine Mittelklasse bekommen, was fordern die? Dort heißt es: ‚Ich sehe nicht ein, dass meine Kinder mit Mundschutz zur Schule gehen müssen, weil die Grenzwerte der Umweltverschmutzung sind fünf- bis zehnfach so hoch wie erlaubt – Staat, tu etwas‘. Mit der wirtschaftlichen Entwicklung kommt die Nachfrage nach sozialen und nach Gesundheitsleistungen. Wenn ich die dann habe, stabilisieren sie das System. Und da müssen wir aufpassen, dass wir da nicht die Feinadjustierung verlieren. Das sind auch unsere Werte. Europa unterscheidet sich von Amerika durch die Werte.

Die Zuständigkeit für die Arzneimittel und die Medizinprodukte ist aus der Generaldirektion Gesundheit in das Ressort Binnenmarkt und Industrie verschoben worden. Wie beurteilen Sie das?
Es gibt zwei Hauptargumente, die das problematisch erscheinen lassen. Erstens: Der, der die Risikoabschätzung macht, sollte nicht auch für die Zulassung zuständig sein. Zweitens: Von der Verwaltungssystematik, vom guten Regieren her: ich würde mal sagen, das ist jetzt nicht so toll. Kritisch muss man sagen: Wie konnte das passieren? Ist die Generaldirektion Gesundheit so schwach, dass man denen das ohne weiteres wegnehmen konnte? Gleichzeitig – wenn man sich die Rede von Juncker anhört – geht es schon darum, die Ökonomie wieder auf Vordermann zu bringen, um eine Re-Industrialisierung. Er hat allerdings auch klare Aussagen gemacht: Die Sozialstandards dürfen nicht abgesenkt werden. Wir dürfen den sozialen nicht dem ökonomischen Fortschritt unterordnen.

Sollte man diese Zuständigkeit wieder rückgängig machen?
Ich glaube nicht, dass wir das schaffen werden. Die Kräfte des anderen Bereichs sind einfach zu stark. Es ist nicht geschickt gemacht und auch von der Systematik des guten Regierens nicht gut gemacht. Die Optik ist nicht gut. Wie die Realität aussieht, darüber kann man jetzt nur spekulieren. Das kann man erst in zwei Jahren sagen. Mich treibt mehr die Frage um: Wieso konnte das gehen?

Factbox Helmut Brand

1978 – 1984:
Studium der Humanmedizin an den Universitäten Düsseldorf, Deutschland und Zürich, Schweiz

1984: Promotion an der Universität Düsseldorf

1985 – 1987/1990:
Klinische Ausbildung in Innerer Medizin, Chirurgie und Psychiatrie

1987 – 1988: Master of Science in Community Medicine an der Universität von London/London School of Hygiene und Tropical Medicine in Zusammenarbeit mit der London School of Economics (LSE)

1991: Facharzt für Öffentliches Gesundheitswesen und Sozialmedizin in Deutschland

1996: Postgraduate Diploma der London School of Hygiene und Tropical Medicine der Community Medicine (DLSHTM)

2013: Präsident des European Health Forum Gastein (EHFG)

Nach der Arbeit in mehreren Gesundheitsbehörden und Gesundheitsministerien war Brand Direktor des Public Health- Institut des Landes Nordrhein-Westfalen (Deutschland). Als Politikberater ist er im Europäischen beratenden Ausschuss für Gesundheitsforschung (EACHR) der WHO/ Europa und in der Expertengruppe für „Effektive Investitionen in die Gesundheit“ (EXPH) für die Europäische Kommission.

Helmut Brand ist seit 2008 Jean-Monnet- Professor für Europäische öffentliche Gesundheit und Leiter der Abteilung für Internationale Gesundheit an der Universität Maastricht, Niederlande. (Der französische Unternehmer Jean Monnet war Wegbereiter der europäischen Einigungsbestrebungen; bei der gleichnamigen Professur handelt es sich um eine EU-Initiative zur Förderung von Forschung und Lehre an Hochschulen im Zusammenhang mit der europäischen Integration).

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 20 / 25.10.2014