Best Point of Ser­vice: Nur Kon­tu­ren, keine Details

10.04.2014 | Politik


Bis Ende 2016 soll ein Pro­zent der Bevöl­ke­rung in neuen Ver­sor­gungs­struk­tu­ren – Stich­wort „Best Point of Ser­vice“ – betreut wer­den. Wie diese aber orga­ni­siert sein sol­len und wo die­ser für die Gesund­heits­re­form zen­trale Best Point liegt, ist noch offen. Bei einer Podi­ums­dis­kus­sion in Wien ver­such­ten Exper­ten, Ant­wor­ten zu geben.
Von Marion Huber

Best Point of Ser­vice – ein in jüngs­ter Zeit viel zitier­ter Begriff, der aber bis­lang nur wenig kon­kret ist. Wo ist der Ort, an dem zum rich­ti­gen Zeit­punkt, die rich­tige Leis­tung, in der rich­ti­gen Qua­li­tät und nicht zuletzt kos­ten­güns­tig vor­ge­hal­ten wer­den kann? Ant­wor­ten dar­auf ver­suchte Rein­hold Glehr, Prä­si­dent der Öster­rei­chi­schen Gesell­schaft für All­ge­mein­me­di­zin (ÖGAM), zu geben. Er hielt das Impuls­re­fe­rat bei der 10. Ver­an­stal­tung der Karl-Land­stei­ner-Gesell­schaft aus der Reihe „Zukunft Gesund­heit“ Mitte März in Wien.

Im Zen­trum sei­ner Über­le­gun­gen – und im Zen­trum der Neu­ori­en­tie­rung des Sys­tems im Rah­men der Gesund­heits­re­form – stehe die Stär­kung der Pri­mär­ver­sor­gung, betonte Glehr. Als Prä­si­dent der ÖGAM habe er „mit Freude wahr­ge­nom­men, dass eine große Erwar­tung in die All­ge­mein­me­di­zin gesetzt wird“. Gleich­zei­tig knüpfe er daran auch die Hoff­nung, dass nun end­lich schon lange bestehende Pro­bleme in der All­ge­mein­me­di­zin auf höchs­ter Ebene bear­bei­tet wer­den. Nur so könne es gelin­gen, den Beruf wie­der attrak­ti­ver zu machen. Denn die All­ge­mein­me­di­zin hatte in den letz­ten Jahr­zehn­ten mit einem „schlei­chen­den Kom­pe­tenz­ent­zug“ und der „Gering­schät­zung der haus­ärzt­li­chen Leis­tungs­er­brin­gung“ zu kämp­fen, wie er wei­ter aus­führte. Klare Ver­sor­gungs­auf­träge sowie eine spe­zi­elle, zeit­ge­mäße Aus­bil­dung zum Fach­arzt für All­ge­mein­me­di­zin wür­den feh­len. „Außer­dem wer­den tech­ni­sche Leis­tun­gen höher geschätzt als die Gesprächs- und Bezie­hungs­me­di­zin“, kri­ti­sierte der All­ge­mein­me­di­zi­ner Glehr. Eine Erwei­te­rung des Leis­tungs­spek­trums im ambu­lan­ten Sek­tor – wie sie nun geplant ist – sei jedoch nur dann mög­lich, wenn das Geld der Leis­tung folgt.

Als Vor­aus­set­zun­gen für ein zukünf­ti­ges Sys­tem nannte Glehr drei Punkte:

  1. Die Qua­li­tät der Ver­sor­gung soll nach der Reform zumin­dest gleich gut oder bes­ser sein als bisher.
  2. Die Kos­ten sol­len zumin­dest gleich blei­ben oder weni­ger steigen.
  3. Die Pati­en­ten sol­len im neuen Ver­sor­gungs­sys­tem nicht unzu­frie­de­ner sein.

Die Frage nach dem Best Point of Ser­vice sei nicht zuletzt wegen der gro­ßen Kom­ple­xi­tät im Ver­sor­gungs­be­darf schwer zu beant­wor­ten, sagte Glehr, wes­we­gen die Ant­wort „natur­ge­mäß viel­fäl­tig aus­fal­len muss“. Zu viele Varia­blen wür­den eine Rolle spie­len; es gebe außer­dem zu viele Modelle, die nach stark ver­ein­fach­ten Sche­men eva­lu­iert seien und sich dadurch der Kom­ple­xi­tät ent­zö­gen. So seien etwa Best Point of Entry und Best Point of Care getrennt zu betrach­ten. Ers­te­rer sei abhän­gig vom Sym­ptom, der Art des Pro­blems, dem Fak­tor Zeit und der Dring­lich­keit. All­ge­mein­me­di­zi­ner soll­ten dafür aus­ge­bil­det sein, drin­gend behand­lungs­be­dürf­tige Krank­heits­bil­der zu erken­nen und von ande­ren zu unter­schei­den. Beim Best Point of Care wie­derum stelle sich die Frage, ob große Ver­sor­gungs­struk­tu­ren unter einem Dach oder bereits bestehende inter­dis­zi­pli­näre Pri­mär­ver­sor­gungs­for­men die Leis­tung erbrin­gen kön­nen. Für Glehr besteht jeden­falls nicht zwangs­läu­fig ein Gegen­satz zwi­schen den Model­len, „wenn die Ver­träge ent­spre­chend gestal­tet sind“. Ob aller­dings das gemein­same Dach alleine aus­reicht, um eine bes­sere Koope­ra­tion und die Steue­rung der Pati­en­ten zu gewähr­leis­ten, sei abzu­war­ten. „Man muss erst eva­lu­ie­ren, inwie­weit die Modelle ihr Ver­spre­chen hal­ten kön­nen“, so der ÖGAM-Präsident.

Kon­tu­ren definieren

Bei all den Varia­tio­nen, die in der Folge mög­lich sind, ist für Josef Probst, Gene­ral­di­rek­tor des Haupt­ver­bands der Sozi­al­ver­si­che­rungs­trä­ger, zunächst eines wich­tig: die gemein­same Grund­vor­stel­lung eines Zukunfts­mo­dells, wie er in der anschlie­ßen­den Podi­ums­dis­kus­sion erklärte. Ziel sei es jeden­falls, „die­ses Modell bis Som­mer 2014 zu beschrei­ben und des­sen Kon­tu­ren zu defi­nie­ren“. Details stün­den bis dahin aber noch nicht auf dem Pro­gramm… Und Ziel sei es auch, bis Ende 2016 ein Pro­zent der Bevöl­ke­rung in die­sen neuen Ver­sor­gungs­struk­tu­ren betreuen zu können.

Als Grund, wieso die Anfor­de­run­gen an diese Struk­tu­ren der Pri­mär­ver­sor­gung äußerst dif­fe­ren­ziert sind, nennt Andrea Fried, Bun­des­ge­schäfts­füh­re­rin der ARGE Selbst­hilfe Öster­reich, fol­gen­den: „Ganz ein­fach, weil die Bedürf­nisse der Pati­en­ten so ver­schie­den sind.“ Aus Sicht der Pati­en­ten ist – laut Fried – das Ziel der Reform jeden­falls klar: von einer Drei-Minu­ten-Medi­zin zumin­dest zu einer Zwölf-Minu­ten-Medi­zin zu gelan­gen. „Das ist nicht uto­pisch, son­dern inter­na­tio­nal durch­aus Stan­dard“, wie sie betonte. Mög­li­che Modelle, um die­ses Ziel zu errei­chen, sind viele im Gespräch. Die Frage am Ende des Tages laute aber: „Was kann davon wirk­lich umge­setzt wer­den und wie ist eine Qua­li­täts­ver­bes­se­rung zu finanzieren?“

Spi­tals­las­tige Medizin

Viel zu spi­tals­las­tig und in der Pri­mär­ver­sor­gung schwä­cher – das cha­rak­te­ri­siere bis­lang die Medi­zin in Öster­reich, sagt Cle­mens Mar­tin Auer, Sek­ti­ons­chef im Gesund­heits­mi­nis­te­rium. „Was uns treibt, ist daher die Sehn­sucht, die Men­schen in der Erst­ver­sor­gung behan­deln zu kön­nen, wo auch der pri­märe Point of Entry ist.“ Aber wel­che Auf­ga­ben hat die Pri­mär­ver­sor­gung? Wel­che Skills sowie Aus- und Wei­ter­bil­dungs­for­men braucht sie? Wie sehen neue Ver­trags- und Bezah­lungs­for­men, wie die Viel­falt der Orga­ni­sa­ti­ons­for­men aus? Auf diese Fra­gen wolle die Poli­tik Ant­wor­ten fin­den. Auer wei­ter: „In Wahr­heit geht es dabei um die Auf­wer­tung des All­ge­mein­me­di­zi­ners und der mit ihm sehr nah ver­wand­ten ande­ren medi­zi­ni­schen Dis­zi­pli­nen.“ Denn das Gesund­heits­mi­nis­te­rium sehe die Pri­mär­ver­sor­gung ein­ge­bet­tet in eine Team­welt, „bestehend aus Ärz­ten und den ande­ren wesent­li­chen Gesund­heits­be­ru­fen“. Zur Zeit basiere diese Zusam­men­ar­beit jedoch ledig­lich auf Frei­wil­lig­keit; diese Frei­wil­lig­keit soll durch einen grö­ße­ren Ver­pflich­tungs­cha­rak­ter ersetzt wer­den, betonte Auer.

Auf ein ein­zi­ges Modell will Probst die Pri­mär­ver­sor­gung aber nicht ein­schrän­ken: In der Stadt müsse es ganz anders aus­se­hen als am Land. „Man soll im länd­li­chen Raum keine Ver­sor­gungs­punkte auf­ge­ben, son­dern ent­spre­chende Netz­werke schaf­fen“, so Probst. Sehr wohl müss­ten die Leis­tungs­an­ge­bote der Ver­sor­gungs­punkte aber „sau­ber defi­niert und brei­ter sein als bisher“.

Als „vehe­men­ten Ver­tre­ter“ der Gleich­zei­tig­keit und Viel­falt der For­men sieht sich Auer, wenn er meint: „Ich bin der Letzte, der einen Ein­zel­arzt nicht sehen will. Ich möchte aber auch, dass Ärzte gemein­sam in einem Zen­trum prak­ti­zie­ren kön­nen.“ In den letz­ten Jah­ren und Jahr­zehn­ten habe man das „Hand in Hand“-Arbeiten und die Orga­ni­sa­ti­ons­struk­tur im Gesund­heits­we­sen ver­nach­läs­sigt, fügte Probst hinzu. Nun müsse man sich an den Wün­schen der Berufs­aus­üben­den ori­en­tie­ren und neue Orga­ni­sa­ti­ons­for­men und moderne Bezah­lungs­sys­teme schaf­fen. „Wir müs­sen schauen, wie wir Qua­li­tät und Ser­vice mit der Öko­no­mie unter einen Hut brin­gen“, so Probst.

Die Femi­ni­sie­rung des Arzt­be­ru­fes, neue Lebens- und Arbeits­vor­stel­lun­gen der jun­gen Gene­ra­tion und damit ver­bun­den der Ärz­te­man­gel in ver­schie­de­nen Berei­chen und Struk­tu­ren etc. – all das seien Fak­ten, die es zu berück­sich­ti­gen gelte, waren sich die Exper­ten einig. Und Fakt sei auch, dass die Pri­mär­ver­sor­gung gestärkt wer­den müsse, um die nach­ge­la­ger­ten Struk­tu­ren ent­las­ten zu kön­nen. Neben nach­hal­ti­gen Maß­nah­men müss­ten zur Über­brü­ckung auch kurz­fris­tige Lösun­gen gefun­den wer­den, so Glehr. In Wien etwa kor­re­liere die Zunahme der Kas­sen­stel­len nicht mit dem Bevöl­ke­rungs­wachs­tum – und die Haus­ärzte seien daher über­las­tet. „In Regio­nen, wo es brennt, sollte man auch die Kas­sen­stel­len auf­sto­cken, um den Akut­be­darf decken zu kön­nen“, so seine Forderung.

Die Ana­lyse all der Fak­to­ren und Pro­bleme sei alt – neu sei hin­ge­gen, dass es ein Gesetz und ein ver­trag­li­ches Com­mit­ment dazu gibt, betonte Auer: „Es geht kein Weg daran vor­bei, die Ver­sor­gung neu zu fas­sen und neu zu orga­ni­sie­ren.“ Ohne Instru­mente zur Real­lo­ka­tion von finan­zi­el­len Res­sour­cen, ohne Invest­ment in Infra­struk­tur und ohne neue Bezah­lungs­for­men werde es nicht gehen. Die sei­ner Ansicht nach ent­schei­dende Bot­schaft – die nun auch im Bewusst­sein von Ent­schei­dungs­trä­gern ange­kom­men sei – lau­tet: „Wenn wir nicht qua­li­ta­tiv neue Ver­trags­for­men und Bezah­lungs­for­men eta­blie­ren, wer­den wir auch nicht weiterkommen.“

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 7 /​10.04.2014

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