Schwindel: 80 Prozent sind Anamnese

25.03.2014 | Medizin


Bei der Schwindeldiagnostik lässt sich sehr viel schon aus der Anamnese ableiten. Eine der ersten zentralen Fragen, um den Patienten zum richtigen Spezialisten zu leiten, lautet: Sind es Attacken oder ist es wie eine ständige Schifffahrt?

Schwindeldiagnostik ist zu 70 bis 80 Prozent Anamnese, der Rest setzt sich aus klinischem Befund und detaillierter Diagnostik zusammen. Sehr viel lässt sich aber bereits aus der Anamnese beurteilen“, zeigt sich Univ. Prof. Gerald Wiest, Leiter der neurologischen Schwindelambulanz am Wiener AKH überzeugt. „Man muss als Neurologe auch periphere Ursachen erkennen können, um zentrale sicher auszuschließen“, betont Wiest die Wichtigkeit des interdisziplinären Denkens und der Zusammenarbeit.

Dennoch können schon einige simple Fragen des Allgemeinmediziners die Patienten zum richtigen Spezialisten leiten, erklärt Benjamin Loader von der Krankenanstalt Rudolfstiftung in Wien. Hat der Patient Kopfschmerzen oder ist der Schwindel Kopfschmerz-assoziiert, sollte die Überweisung zum Neurologen erfolgen. Leidet der Patient unter wiederholten Drehschwindelattacken, deutet das auf Lagerungsschwindel oder Morbus Menière hin und der weitere Weg führt zum HNO-Spezialisten. „Eine der ersten Fragen muss lauten: Sind es Attacken oder ist es wie eine ständige Schifffahrt? Im zweiten Fall sollte der behandelnde Arzt unbedingt auch an Kreislauf-Probleme, Hypertonie, nicht diagnostizierten Diabetes mellitus oder auch Arrhythmien oder Vorhofflimmern denken“, meint Loader. Auch den phobischen Schwankschwindel – häufig Begleiterscheinung einer Angststörung – und den Medikamenten-induzierten Schwindel sollten Ärzte im Hinterkopf behalten.

„Es gibt wenige wirklich objektivierbare Schwindelerkrankungen im HNO-Bereich“, meint Loader. Die häufigste ist aber sicher der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel (BPLS), der typischerweise in der Nacht auftritt, wenn sich der Patient im Schlaf von einer Seite auf die andere dreht. Der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel ist durch kurze, aber sehr intensive Drehschwindelattacken gekennzeichnet, die durch Bewegung ausgelöst werden und innerhalb von Sekunden oder Minuten – nur in seltenen Ausnahmefällen auch Stunden – wieder abklingen. Häufig sind Menschen betroffen, die bereits am Ohr operiert wurden, einen Vestibularis-Ausfall hatten oder unter Vitamin D-Mangel leiden. Außerdem nimmt die Inzidenz des Lagerungsschwindels mit steigendem Alter zu. Grund für die heftigen Attacken ist die Ablösung von aus Calciumcarbonatkristallen bestehenden Otokonien aus dem im Innenohr gelegenen Utriculus des Gleichgewichtsorgans. Als so genannte Otholithen rutschen sie in die Bogengänge des Ohrs und reizen die Winkelbeschleunigungsorgane pathologisch. „BPLS ist ungefährlich und durch die Beherrschung bestimmter Lagerungsmanöver leicht zu therapieren“, schildert Loader. Durch die ruckartigen Bewegungen in den Manövern werden die Kristalle entlang der Bogengänge zurück an ihren ursprünglichen Ausgangsort bewegt, der Drehschwindel stoppt.

Eine einzelne, heftige und plötzlich einsetzende Schwindelattacke ist Symptom einer Neuropathie oder Neuritis vestibularis. Der Funktionsverlust eines Gleichgewichtsorgans geht häufig mit starkem Nystagmus, Übelkeit, Erbrechen und einem allgemeinen Krankheitsgefühl einher. „Der Patient glaubt, er müsse in diesem Moment sterben“, berichtet Loader. Vorsicht ist vor allem im Hinblick auf eine mögliche zentrale Genese geboten: Die Symptome der Neuritis vestibularis können auch durch eine kleine zerebelläre mittelliniennahe Läsion bedingt sein. „Diese Pseudo-Neuritis sieht klinisch genauso aus, nur die Reflextestung mit dem Kopf-Impuls-Test ist in diesem Fall normal“, ergänzt Wiest. Patienten mit einem Vestibularis-Ausfall werden meist stationär aufgenommen und mit Antiemetika und Kortison behandelt; die Funktion des Gleichgewichtsorgans kommt nicht in allen Fällen zurück. „Als Hausarzt ist man kaum mit akuten Fällen, aber dafür häufig mit regenerierenden und kompensierenden Patienten konfrontiert“, meint Loader. Um den Fortschritt zu testen, empfiehlt der HNO-Spezialist als einfache Mittel einen Kopf-Impuls-Test sowie den Unterberger-Tretversuch.

M. Menière: Drehschwindelattacken

Die dritte häufige Schwindelursache aus dem HNO-Bereich ist der M. Menière. Klassisch sind in diesem Fall wiederkehrende Drehschwindelattacken von einer halben bis zwei Stunden, Tinnitus sowie eine Funktionsschwäche des Innenohrs in tiefen Frequenzen. Grund dafür ist die Bildung von Überdruck (Hydrops cochleae) in der Gehörschnecke; wird die Druckschwelle überschritten, kommt es zur Attacke. „Helfen medikamentöse Therapien wie Betahistin, Kortison oder Lasix nicht, kann chirurgisch eingegriffen werden“, so Loader. Gute Erfolge, die etwa eineinhalb bis zwei Jahre anhalten, erzielt man laut Loader etwa durch eine Labyrinth-Anästhesie, bei der ein konzentriertes Lokalanästhetikum durch das Trommelfell in die Paukenhöhle injiziert wird. Derzeit etabliert sich außerdem das Verfahren der Tenotomie, bei der zwei Mittelohrmuskeln durchtrennt werden und so die Gehörschnecke entlastet wird.

Die häufigste Ursache für zentralen Schwindel vor allem bei jüngeren Menschen ist die Migräne. „Der Begriff des Migräne-assoziierten Schwindels als Symptom der vestibulären Migräne hat erst in den letzten zehn bis 15 Jahren wirklich Eingang in die Diagnostik gefunden“, erklärt Wiest. Die Patienten leiden kaum unter Attacken, sondern an Tage-weisen episodischen Verschlechterungen mit Schwankschwindel und Gangunsicherheit. Auch Wetterwechsel können eine verstärkende Rolle spielen. „Typisch ist der fluktuierende Verlauf“, so Wiest weiter. Behandelt wird wie bei der Migräneprophylaxe mit Betablockern wie Inderal oder Kalziumantagonisten wie Flunarizin.

Gar nicht so selten ist die Vestibuläre Paroxysmie. Sie ist gekennzeichnet durch kurze, für Sekunden anhaltende spontane Vertigo-Schwindelepisoden, die häufig auch durch Bewegung ausgelöst werden – besonders die Unterscheidung zum Lagerungsschwindel kann schwierig sein. „Bei der Paroxysmie besteht ein Gefäß-Nerven-Kontakt zwischen dem achten Hirnnerv und einem Gefäß“, beschreibt Wiest. Zusätzlich zu den Vertigo-Episoden können bei Gefäßkontakten mit den cochleären Anteilen des achten Hirnnerven auch Hörsymptome wie Tinnitus oder Belegtheitsgefühle auftreten. Die Diagnose erfolgt mittels Magnetresonanz; in vielen Fällen führt bereits eine niedrige Dosis Carbamazepin oder Gabapentin zu einer deutlichen Besserung und zum Sistieren der Symptome.

„Es gibt zwei Kardinalsymptome, die klar auf eine zentrale Ursache des Schwindels hinweisen“, sagt Wiest. Das sind der Downbeat-Nystagmus, bei dem die rasche Phase des Nystagmus vertikal nach unten schlägt und der Upbeat-Nystagmus, bei dem die rasche Phase vertikal nach oben schlägt. „In diesen Fällen muss man eine zentrale Ursache wie etwa einen Tumor oder eine Läsion im Hirnstamm oder Cerebellum annehmen“, führt Wiest aus. Auch die Skew-Deviation oder Ocular Tilt Reaction – also eine vertikale Fehlstellung der Augen – hat sich Studien zufolge bei akuter Schwindelsymptomatik als verlässlicher diagnostischer Parameter für eine zentrale Störung im Hirnstammbereich erwiesen.

Klassische neurologische Erkrankungen, die mit Schwindelsymptomen einhergehen, sind außerdem die vertebro-basiläre Insuffizienz, die vor allem bei älteren vaskulären Patienten eine Rolle spielt. „Ein Patient, der von mehrmals täglich auftretenden kurzzeitigen und spontanen Vertigo-Episoden berichtet, sollte per MR-Angio und transkranieller Dopplersonographie immer auch vaskulär abgeklärt werden, um Gefäßstenosen beziehungsweise Gefäßverschlüsse auszuschließen“, meint Wiest. Oft können Labyrinthinfarkte auch Vorsymptome von Insulten im gesamten AICA-Stromgebiet beziehungsweise von Vertebralisverschlüssen sein.

Auch Normaldruckhydrozephalus und neurodegenerative Erkrankungen – wie etwa bestimmte Formen der spinozerebellären Ataxie oder die Multisystematrophie – können Auslöser für Schwindel und Gangunsicherheit sein. Vor allem im fortgeschrittenen Lebensalter – etwa ab der achten Lebensdekade – nehmen auch Schwankschwindel und Gangunsicherheit zu. Neben einer altersbedingten Involution der peripher vestibulären Sensororgane im Sinne einer bilateralen Vestibulopathie spielen im Alter auch Einschränkungen des visuellen Systems und Polyneuropathien eine ätiologische Rolle. „Der Abklärungdieser so genannten ‚dizziness in the elderly‘ kommt aufgrund der häufigen Assoziation dieser Schwindelform mit Stürzen eine zusätzliche Bedeutung zu“, meint Wiest abschließend.
BW

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 6 / 25.03.2014

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