Originalarbeit: Notarzt: ein Arzt für alle Fälle?

15.07.2014 | Medizin


Nur jeder neunte Notarzt-Einsatz – sie haben sich in den letzten 30 Jahren verzehnfacht – benötigt auch tatsächlich einen Notarzt. Erfolgt die Erstversorgung dann durch einen Arzt, verbessert sich die Prognose etwa bei einem Herzkreislauf-Stillstand um das Vierfache. Eine Schärfung des Tätigkeitsprofils Notarzt ist dringend erforderlich.

Von Gerhard Prause und Johann Kainz*

In Österreich gibt es Notarztsysteme seit mehr als 30 Jahren. Entsprechend dem franko-germanischen Modell der medizinischen Versorgung von vital-gefährdeten Patienten beginnen Diagnostik und Therapie bereits am Notfallort durch präklinisch tätige Notärzte. Ergebnisrelevant für eine adäquate Versorgung sind dabei neben einer guten Ausbildung vor allem die Erfahrung des Einzelnen und die regelmäßige Anwendung der entsprechenden Notfall-relevanten Fertigkeiten. Wie aus zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen ersichtlich und auch durch die tägliche Praxis bewiesen, ergeben sich die positiven Erfolge solcher Skills insbesondere aus der Anbindung des notärztlichen Personals an eine entsprechend qualifizierte Krankenversorgungseinrichtung. In diesem Zusammenhang sind bei der Aus- und Weiterbildung des Notarztes die Einbindung in die Versorgungsabläufe einer Notaufnahme sowie das Erwerben von intensivmedizinischen und/oder anästhesiologischen Fachkenntnissen wesentlich.

Die Ökonomisierungstendenzen im Gesundheitssystem und ein drohender Mangel an qualifizierten Ärzten führen aktuell zu Diskussionen rund um die künftige Organisation des Notarztdienstes beziehungsweise der präklinischen Notfallversorgung. Dass in diesem Kontext die Schaffung eines „Paramedic-Systems“ diskutiert und öffentlich medial eingebracht wird oder etwa eine Auslagerung des notärztlichen Dienstes auf private Rettungsorganisationen als Lösung bereits partiell umgesetzt wird, zeigt, dass die tatsächlichen Probleme des Notarztwesens weithin nicht bekannt sind oder zumindest unterschätzt werden.

Mit der vorliegenden Arbeit wird der Status quo der österreichischen Notarztlandschaft aufgezeigt, auf real existente Problemstellungen hingewiesen und mögliche Lösungsvorschläge diskutiert.

Logistik des Notarztwesens

Das heutige Notarztwesen ist schwer belastet durch eine extensive Ausweitung der Notarztanforderungen in den vergangenen 30 Jahren. In den 1980er Jahren lag die Häufigkeit der Notarzteinsätze bei etwa 3,5 pro 1.000 Einwohner und Jahr. Im Vergleich dazu gibt es in Österreich heute Notarztsysteme, die bei einem Einzugsgebiet von knapp 100.000 Einwohnern 15 Einsätze pro Tag absolvieren; in manchen Bundesländern sind es 35 Einsätze pro 1.000 Einwohner und Jahr, was einer zehnfachen Steigerung entspricht. Dies mit der Überalterung der Bevölkerung zu begründen, ist nicht haltbar. Dies hätte nämlich allenfalls zu einer Verschiebung des Durchschnittsalters der Notfallpatienten, nicht aber zu einer derart drastischen Zunahme von Notarztanforderungen geführt. Vielmehr kann das Phänomen folgendermaßen erklärt werden: Zum ersten sind es die vorgegebenen Indikationslisten für die Notarztalarmierung in den Leitstellen der Rettungsdienstorganisationen. Diese indizieren mit Hilfe von Stichworten den Notarzt-Einsatz und im Bedarfsfall auch eine „Ausrückeordnung“ (zum Beispiel Brandeinsatz). Abweichungen von diesem Vorschlag durch den Disponenten sind zwar prinzipiell möglich, werden aber nicht immer umgesetzt. Grund hierfür könnte sein, dass Einsatz-Feedbacksysteme kaum verwendet werden. Mit Hilfe solcher Tools können auf Basis einer intensiven Zusammenarbeit von Leitstelle und ärztlichen Stützpunktleitern fehlerhafte Systemvorgaben im Alarmierungsprozess erkannt und behoben werden, ohne die Entscheidung oder Nicht-Entscheidung des einzelnen Disponenten auf persönlicher Ebene zu kompromittieren.

Zum zweiten sind es medizinische Versorgungslücken, die sich kumulativ aus dem Mangel an kompetenten Fachkräften ergeben: Es stehen immer weniger geeignete Ärzte zur Verfügung. Heutzutage fährt der Notarzt etwa aus, um den Blutdruck nachzumessen, Lagerungshilfe bei Kreuzschmerzen zu leisten, primär hausärztliche Aufgaben durchzuführen oder um Heim-Respiratoren einzustellen. Erst vor kurzem wurde angeregt, Tätigkeiten der nunmehr scheidenden Distriktsärzte wie beispielsweise die Totenbeschau und die Umsetzung des Unterbringungsgesetzes an die Notärzte zu delegieren. Dazu kommen Arzt-begleitete Interhospitaltransporte und das innerhospitale Notfallwesen, mit dem der eigentlich für den präklinischen Einsatz geschaffene Notarzt zunehmend betraut wird. Der Notarzt ist somit zum „Arzt für alle Fälle“ avanciert, er ist mobil unterwegs, schnell und ohne großen Aufwand (per Knopfdruck) über die Rettungsleitstellen und für alle verfügbar. Nicht zuletzt ist auch eine gestiegene Erwartungshaltung der Bevölkerung für die hohen Einsatzzahlen zu nennen: Der Notarzt wird als das Maximum der möglichen Erstversorgung eingefordert.

Realistisches Tätigkeitsprofil

Mit den vermehrten Anforderungen hat sich auch das Tätigkeitsprofil des Notarztes in Bezug auf die Häufigkeit von bestimmten Skills deutlich verändert. Lebensrettende Maßnahmen sind – statistisch gesehen – zur Seltenheit geworden. In einer Analyse von Daten des Grazer Notarztsystems aus dem Jahr 2011 konnte festgestellt werden, dass nur bei 72 Prozent der Patienten ein venöser Zugang gelegt, nur 9,5 Prozent intubiert und 9,8 Prozent der Patienten (nicht-invasiv und invasiv) beatmet wurden. Ein Medikament wurde in nur 37,1 Prozent der Fälle verabreicht; 32,9 Prozent der Patienten wurden gar nicht ins Krankenhaus gebracht. Selektiert man in der Auswertung die Frage nach den „notärztlichen“ Sofortmaßnahmen bei vital-gefährdeten Patienten (Intubation, Beatmung, Katecholamingabe, antiarrhythmische Therapie, Defibrillation etc.) – was der eigentliche Sinn des Notarztwesens wäre – reduziert sich der Anteil auf 11,1 Prozent.

Fazit: Nur jeder neunte Einsatz benötigt einen Notarzt! Am Notarzt-Stützpunkt des Universitätsklinikums LKH-Graz sind das nach korrekter Interpretation der Daten etwa 170 Fälle pro Jahr. Diese Erhebungen sind international durchaus vergleichbar („Realistische Bewertung des Notarztdienstes in Deutschland, Anaesthesist 2006“). Objektiv lässt sich daher festhalten, dass durch die hohe Anzahl von inadäquaten Anforderungen vor allem für erfahrene Ärzte die Motivation immer geringer wird, als Notarzt tätig zu sein. Dies lässt sich nicht zuletzt auch durch die Verweildauer eines Notarztes im System des organisierten Rettungsdienstes belegen: Sie liegt im Durchschnitt bei nur etwa zwei Jahren!

Sinn der notärztlichen Versorgung

Bis vor wenigen Jahren war das franko-germanische Modell der Notfallversorgung („Der Arzt kommt zum Notfallpatienten“, Kirschner 1938) mit dem Vorwurf konfrontiert, dass es für die präklinische Notwendigkeit des Notarztes keine Evidenzbasis gäbe. Das Problem dieser notfallmedizinischen Statistiken ist, dass im Regelfall die Methode ohne Rücksicht auf die Qualität der Durchführung verglichen wird. Es gibt mehrere Studien, die den Sinn von erweiterten lebensrettenden Maßnahmen wie beispielsweise Intubation, Beatmung, Narkose-Einleitung etc. hinterfragen und ein oft schlechtes Outcome attestieren, wenn diese Maßnahmen bereits am Notfallort erfolgt sind. Unterzieht man diese Untersuchungen jedoch einer detaillierten Betrachtung, so ist festzustellen, dass lediglich einzelne Maßnahmen per se, aber nicht die Qualität und die Kompetenz des Durchführenden verglichen wurden. Auf der einen Seite führen beispielsweise „Paramedics“ oder auch Notärzte ohne entsprechende Erfahrungen und Fertigkeiten die Primärversorgung durch, welche überdies meist nur am Phantom trainiert wurde. Auf der anderen Seite sind es dann Fachärzte, die mit mehreren Jahren Berufserfahrung in einer zentralen Notaufnahme arbeiten. Diagnose und Therapie von Notfallpatienten mit respiratorischer Insuffizienz, Schockgeschehen oder schwierigem Atemweg gehören zu ihrer Routine. Die präklinischen Ergebnisse fallen konsequenterweise kaum positiv aus, da die Kompetenzen, die hier verglichen werden, zu unterschiedlich verteilt sind. In der Zwischenzeit sind jedoch auch hochrangig publizierte Studien verfügbar, die den Sinn von notärztlichen Maßnahmen unter Beweis stellen.

Bahnbrechend in dieser Fragestellung war der direkte Vergleich in der Versorgung von Notfallpatienten in Bonn (Notarztsystem) und Birmingham (Paramedics-System). Dabei wurde die gesamte medizinische Versorgung mit Hilfe des MEES (Mainzer Emergency Evaluation Score, dieser dient der Beurteilung des Patientenstatus anhand objektiv erhebbarer Vitaldaten) im Sinne eines „Vorher-Nachher-Vergleichs“ überprüft. Im Speziellen wurde der Erfolg der Wiederbelebungsmaßnahmen beim Herz-Kreislaufstillstand bewertet. Dabei konnte statistisch signifikant nachgewiesen werden, dass sich die ärztliche Versorgung positiv auf den Patientenzustand (MEES) auswirkt und sich die Prognose bei Patienten mit Herzkreislauf-Stillstand um das Vierfache bessert.

Der ALS (Advanced Life Support) im Rahmen der Reanimation gilt als Surrogat-Parameter für die Qualität einer notfallmedizinischen Versorgung, da dieser mehr oder weniger alle relevanten Notfallmaßnahmen aber auch die Koordinationsqualität des Prozessablaufs beinhaltet (Kontinuität der Herzmassage, venöser Zugang, Intubation, Beatmung, EKG, Monitoring, Sedierung, evtl. Laborwerte, Sonographie, Transport, Teamführung Zielkrankenhaus etc.). Dementsprechend liegen für dieses Notfallszenario die meisten Studienergebnisse vor. Darin wird bewiesen, dass präklinisch involvierte Ärzte den Reanimationserfolg deutlich verbessern. Doch auch für andere notfallmedizinische Krankheitsbilder liegt klare Evidenz für den Benefit einer frühzeitigen notärztlichen Hilfe vor: Es ist zum Beispiel bewiesen, dass die Intubation und die kontrollierte Beatmung das Outcome von Schädel-Hirn-Trauma-Patienten deutlich verbessern. Die Intubation im Rahmen der Reanimation ist von nachweisbarem Vorteil und Patienten mit akutem Herzinfarkt profitieren signifikant von der notärztlichen Versorgung.

Man kann es als bewiesen ansehen, dass der (erfahrene, trainierte) Notarzt das Outcome von vital gefährdeten Patienten verbessert. Es ist davon auszugehen, dass in Österreich – bezogen auf den Herzkreislaufstillstand – 250 Menschen pro Jahr mehr überleben, als wenn die Versorgung ohne Notarzt stattfinden würde. Im Zusammenhang mit der Diskussion um die Notwendigkeit des Notarztes ist insbesondere die jüngste Entwicklung in Großbritannien sehr interessant. Dort wird rezent zusätzlich zum „Paramedic-System“ nunmehr ein bodengebundenes Notarztsystem als höchste Kompetenz der präklinischen Notfallversorgung installiert.

Anwendungskompetenz

Zu den Kernaufgaben der modernen Medizin-Wissenschaft zählt unter anderem die Anhebung der Fachkompetenz durch Verbesserung und Strukturierung der Ausbildung und eine Gewährleistung des kontinuierlichen Trainings. Besonders die Herstellung und Erhaltung eines „sicheren Atemwegs“ durch eine fachgerechte orotracheale Intubation ist eine zentrale Aufgabe und jedenfalls Herausforderung für den Notarzt. Die korrekte Ausführung in angemessener Zeit ist nachweislich Outcome-relevant. Das erfordert aber eben entsprechende Kompetenz. So zeigten Konrad, Schüpfer und Bernhard, dass für eine 90-prozentige Erfolgswahrscheinlichkeit der Intubation 100 bis 150 Durchführungen erforderlich sind. Zur Gewährleistung einer ausreichenden Erfahrung gehören dann auch die laufenden Anwendungen solcher, auch in der Notfallversorgung nicht alltäglicher, Skills.

Die aktuellen Guidelines des ERC (= European Resuscitation Council) empfehlen die prähospitale Intubation beim Herz-Kreislaufstillstand nur ausreichend ausgebildeten und trainierten Anwendern. In den Richtlinien des ILCOR (International Liaison Committee on Resuscitation) aus dem Jahr 2006 stand sogar noch eine Empfehlung für mindestens zwölf Intubationen pro Jahr. Es ist ableitbar und logisch, dass diese „Forderung nach Regelmäßigkeit“ für alle Notfallmaßnahmen gilt. Speziell am Notfallort herrschen im Regelfall wesentlich schlechtere Umgebungsbedingungen als im Krankenhaus, weshalb die Erfahrung und darüber hinaus die Improvisationsfähigkeit des Einzelnen von noch größerer Bedeutung sind.

Lösungsvorschläge

a) Primärziel sollte die Schaffung eines definierten Aufgaben- und Tätigkeitsprofils für den Notarzt sein. Darüber hinaus muss eine klare Abgrenzung zu jenen Maßnahmen erfolgen, die durch Sanitätspersonal eigenverantwortlich und rechtskonform bewerkstelligbar sind. Es bedarf einer deutlichen Aufwertung der notärztlichen Kompetenz. Rettungs- und Notarztdienst müssen als funktionelle, professionelle und organisatorische Einheit agieren, deren Fundament jedenfalls Krankenhaus-assoziiert sein muss.

b) Indikationslisten und sogenannte „Ausrückeordnungen“ von disponierenden Leitstellen müssen im Hinblick auf den gesamten Behandlungspfad des Notfallpatienten einer laufenden Prozess- und Qualitätskontrolle unterzogen werden; diese muss in kompetente ärztliche Hände gelegt werden.

c) Es müssen daher Einrichtungen geschaffen werden mit dem Auftrag, den gesamten Rettungsdienst (inklusive Notarztdienst) der Länder anhand medizinischer Kennzahlen – von der Einsatzdisposition bis hin zur endgültigen Versorgung – einer Bewertung und einem kontinuierlichen Verbesserungsprozess zu unterziehen. Wie in vielen deutschen Systemen bereits üblich, wurde dies beispielhaft bereits im Bundesland Tirol umgesetzt: Eine Stabstelle und die Funktion eines ärztlichen Leiters für den Notarzt- und Rettungsdienst wurden implementiert. Das Portfolio umfasst die Aufgabe der Koordination des gesamten Rettungs- und Notfallwesens über eine zentrale Leitstelle des Landes, die Qualitätssicherung durch eine zentrale Datenerfassung und einen kontinuierlichen Evaluierungs- und Reflexionsprozess.

Fazit

Österreichweit besteht nach wie vor eine hohe Bereitschaft der Ärzte, sich aktiv an der notärztlichen Versorgung von vital gefährdeten Patienten zu beteiligen. Die Frage nach der Sinnhaftigkeit der schnellst möglichen, kompetenten ärztlichen Versorgung im Notfall ist mit einem klaren „Ja“ zu beantworten. Mit einem definierten Anforderungs- und Tätigkeitsprofil sowie durch die Verbesserung der Begleitumstände (zum Beispiel im Bereich der Aus- und Fortbildung) werden auch in Zukunft Notärzte zur Verfügung stehen, um Menschenleben zu retten.

Literatur bei den Verfassern

*) Univ. Prof. Dr. Gerhard Prause,
Dr. Johann Kainz;
beide: Universitätsklinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin/
Medizinische Universitätsklinik Graz,
Auenbruggerplatz 29, 8036 Graz;
Tel.: 0316/385 81170;
E-Mail: gerhard.prause@medunigraz.a
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© Österreichische Ärztezeitung Nr. 13-14 / 15.07.2014