Inter­view – Univ. Prof. Harald Vogel­sang: Glu­ten­sen­si­ti­vi­tät: immer häufiger

25.01.2014 | Medizin

Da Glu­ten-rei­chere Wei­zen­sor­ten aus­gie­bi­ger sind, wer­den sie ver­mehrt gezüch­tet, wodurch die Nah­rung mehr Glu­ten ent­hält als frü­her. Univ. Prof. Harald Vogel­sang, Lei­ter der Spe­zi­al­am­bu­lanz für Zöli­a­kie im Wie­ner AKH, wun­dert es daher nicht, dass die Nicht-Zöli­a­kie-bedingte Glu­ten­sen­si­ti­vi­tät immer häu­fi­ger auftritt.

ÖÄZ: Wie viele Men­schen sind in Öster­reich von Zöli­a­kie betrof­fen?
Vogel­sang: Die Krank­heit wird sowohl bei Ärz­ten als auch bei Pati­en­ten immer bekann­ter und daher deut­lich häu­fi­ger dia­gnos­ti­ziert. Auch die dia­gnos­ti­schen Metho­den haben sich deut­lich ver­bes­sert. In Mit­tel­eu­ropa rech­net man mit einer Prä­va­lenz von unge­fähr einem Pro­zent der Bevöl­ke­rung, für Öster­reich selbst gibt es kaum Zahlen.

Inwie­fern beein­flusst unsere Ernäh­rung das Auf­tre­ten von Zöli­a­kie?
Die Erkran­kung hat eine sehr starke gene­ti­sche Basis, hängt aber auch mit den Umwelt­be­din­gun­gen zusam­men. Offen­sicht­lich braucht es als Aus­lö­ser noch einen Umwelt­fak­tor. Das kann sehr Glu­ten-rei­che Ernäh­rung sein, aber auch inter­kur­rente Darm­in­fekte, im Zuge derer die Darm­schleim­haut auf­ge­ris­sen wird. So wird die Per­mea­bi­li­tät erhöht und mehr Glu­ten kann ein­strö­men. In der Land­wirt­schaft wer­den in den letz­ten Jahr­zehn­ten auf­grund der Aus­gie­big­keit zuneh­mend Glu­ten-rei­chere Wei­zen­sor­ten gezüch­tet. Dadurch ist mehr Glu­ten in der Nah­rung als früher.

Wäh­rend Zöli­a­kie durch­aus seit lan­gem bekannt ist, wird in den letz­ten Jah­ren die Nicht-Zöli­a­kie­be­dingte-Glu­ten­sen­si­ti­vi­tät immer mehr zum Thema.
Im Bereich der Wei­zen­ei­weiß-Unver­träg­lich­keit fin­den wir drei Krank­heits­bil­der: Das erste ist die IgE-Anti­kör­per-asso­zi­ierte Nah­rungs­mit­tel­all­er­gie auf Wei­zen­ei­weiß, eine echte All­er­gie. Zwei­tens gibt es die Zöli­a­kie, die eine T‑Zell-ver­mit­telte Reak­tion ist und mit ent­spre­chen­den IgA-Anti­kör­pern ein­her­geht. Die Nicht-Zöli­a­kie-bedingte-Glu­ten­sen­si­ti­vi­tät funk­tio­niert dage­gen über keine bekann­ten Anti­kör­per. Die Pati­en­ten mer­ken bei die­sem inzwi­schen aner­kann­ten Syn­drom ein­fach, dass sie Glu­ten nicht so gut ver­tra­gen, mei­den es und spü­ren eine deut­li­che Bes­se­rung. Haupt­säch­lich sind das Pati­en­ten mit der Grund­er­kran­kung Reiz­darm­syn­drom. Sie pro­fi­tie­ren von einer Glu­ten-freien Diät, obwohl sie in der Dia­gnos­tik keine Zöli­a­kie-Sym­ptome und ‑Anti­kör­per auf­wei­sen. Wahr­schein­lich gibt es auch ähn­li­che Glu­ten-Emp­find­lich­kei­ten bei ent­zünd­li­chen Darmerkrankungen.

Was löst diese Sen­si­ti­vi­tät aus?
Man ver­mu­tet, dass diese Reak­tion nicht direkt über das Wei­zen­ei­weiß läuft, son­dern über die Abwehr­stoffe der Getrei­de­äh­ren, die sie gegen Schäd­linge, Pilze oder Para­si­ten aus­bil­den. Diese so genann­ten Amy­lase-Tryp­sin-Inhi­bi­to­ren (ATI) sind wie­derum Eiweiß­stoffe, die mit­ge­mah­len wer­den und so auch im Mehl lan­den. Da sich die Getrei­de­indus­trie resis­tente Sor­ten wünscht, hat sich die ATI-Kon­zen­tra­tion in den letz­ten Jah­ren sicher­lich ver­viel­facht. Denn dadurch wur­den auto­ma­tisch Sor­ten gezüch­tet, die eine grö­ßere Menge an ATI pro­du­zie­ren. Ein ver­mehr­tes Auf­tre­ten von Nicht-Zöli­a­kie-beding­ter-Glu­ten­sen­si­ti­vi­tät ist daher nicht verwunderlich.

Wie sieht denn der­zeit die State of the Art-Vor­gangs­weise in der Dia­gnos­tik der Zöli­a­kie aus?
Bevor eine Glu­ten-freie Diät begon­nen wird, soll­ten die Pati­en­ten posi­tive endo­my­siale oder Tis­sue-Trans­glut­ami­nase-Anti­kör­per auf­wei­sen. Zudem muss die Dia­gnose durch eine typi­sche Duo­den­al­bi­op­sie mit Zot­te­n­atro­phie bestä­tigt wer­den.

Viele Pati­en­ten berich­ten von einer eher lang­wie­ri­gen Dia­gnose.

Es gibt Pati­en­ten, die seit der Kind­heit oder Jugend Beschwer­den haben und erst im mitt­le­ren Erwach­se­nen­al­ter dia­gnos­ti­ziert wer­den; da gibt es eine lange Latenz­zeit. Das große Pro­blem ist, dass rund 60 Pro­zent der Pati­en­ten an einer stum­men Zöli­a­kie lei­den. Das bedeu­tet, sie haben keine typi­schen Bauch­be­schwer­den. Wenn jemand das klas­si­sche Bild mit schwe­ren Durch­fäl­len, Mal­ab­sorp­tion, Gewichts­ab­nahme und Man­gel­er­schei­nun­gen bis zur schwe­ren Eisen­man­gel­an­ämie auf­weist, ist es rela­tiv leicht, an Zöli­a­kie zu den­ken. Wenn aller­dings jemand eine unspe­zi­fi­sche Sym­pto­ma­tik mit nur gele­gent­lich brei­igem Stuhl und ein biss­chen Blä­hun­gen hat und etwas dün­ner ist als der Durch­schnitt, tut man sich schon bedeu­tend schwerer.

Inzwi­schen ist man auch schon den aus­lö­sen­den Glu­ten-Pep­tid­be­stand­tei­len auf der Spur.
Glu­ten ist ein grö­ße­res Pep­tid, bei dem nicht alle Bestand­teile anti­gen-wirk­sam sind. Es sind ganz bestimmte Bestand­teile des Glia­dins, die eine Immun­re­ak­tion aus­lö­sen kön­nen. Pro­ble­ma­tisch ist, dass es von Pati­ent zu Pati­ent unter­schied­li­che Teile sein können.

Inwie­fern wird das denn in der Behand­lung in Zukunft eine Rolle spie­len?
Aller­höchs­tens teil­weise. Es hat bereits ein paar Ver­su­che mit Enzym­prä­pa­ra­ten gege­ben, die diese anti­gen-wirk­sa­men Pep­tide auf­spal­ten und so eine Immun­re­ak­tion beim Betrof­fe­nen ver­mei­den. Bis jetzt hat aber kei­nes die­ser Prä­pa­rate eine Zulas­sung für die Behand­lung oder Teil­be­hand­lung der Zöli­a­kie bekom­men. Die Pro­ble­ma­tik sind nicht nur die unter­schied­li­chen Pati­en­ten, son­dern auch die nicht 100-pro­zen­tige Wirk­sam­keit der Enzyme. Man muss über­le­gen: In wel­chem Maß ist es sinn­voll, ein Prä­pa­rat zu ver­ab­rei­chen, damit der Pati­ent eine Diät-Erleich­te­rung hat, aber kei­nen Scha­den nimmt.

Gibt es noch andere Behand­lungs­an­sätze?
Da man den Wer­de­gang der Erkran­kung kennt, gibt es Ansätze, die auf die Ober­flä­chen­struk­tur der Leu­ko­zy­ten zie­len. Es hat auch Ver­su­che mit Imp­fun­gen gegen Glia­din gege­ben – das war aller­dings nicht so erfolgreich.

Momen­tan bleibt also die Glu­ten­freie Diät die ein­zige The­ra­pie­form?
Das ist der­zeit Stan­dard. Auch von den Enzym­prä­pa­ra­ten ist höchs­tens zu erwar­ten, dass sie beim Essen aus­wärts dazu genom­men wer­den kön­nen, um kleine unbe­wusste Feh­ler aus­zu­mer­zen. Das würde das Leben schon etwas erleichtern.

Eine strikte Diät ist oft schwie­rig ein­zu­hal­ten. Wie sieht es mit Lang­zeit­fol­gen einer unbe­han­del­ten Zöli­a­kie aus?
Im Gegen­satz zu den ande­ren bei­den Erkran­kun­gen ist es bei der Zöli­a­kie tat­säch­lich sehr wich­tig, ein Leben lang strikte Diät zu hal­ten. Geht es bei den ande­ren Krank­heits­bil­dern eher darum, keine Beschwer­den zu haben, muss man bei der Zöli­a­kie dar­auf ach­ten, keine wei­te­ren Immun­pro­zesse in Gang zu set­zen. Pati­en­ten haben ver­mehrt Auto­im­mun­erkran­kun­gen, Schild­drü­sen­er­kran­kun­gen und teil­weise auch Dia­be­tes. Sie haben ein erhöh­tes Risiko, an Osteo­po­rose zu erkran­ken und Frauen, die unbe­han­delt schwan­ger wer­den, erlei­den häu­fi­ger Fehl­ge­bur­ten. Eine lang­fris­tige Folge, die vor allem Pati­en­ten betrifft, die nach dem 50. Lebens­jahr dia­gnos­ti­ziert wur­den oder danach noch immer nicht durch­ge­hend Diät hal­ten, ist ein erhöh­tes Dünndarm-Lymphom-Risiko.

Wor­auf soll­ten All­ge­mein­me­di­zi­ner beson­ders ach­ten?
Zöli­a­kie-Pati­en­ten haben sehr häu­fig einen unty­pi­schen Ver­lauf. Wor­auf man aber ach­ten kann, ist uner­klärte Eisen­man­gel­an­ämie auch ohne Bauch­sym­ptome, unbe­ab­sich­tig­tes Unter­ge­wich­tig­keit und wech­selnde Darm­be­schwer­den mit rela­tiv volu­mi­nö­sen Stüh­len und Blä­hun­gen. Auch ganz leicht erhöhte Tran­sami­na­sen – etwa zehn bis 20 Pro­zent über dem Norm­wert – kön­nen ein Hin­weis sein.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 1–2 /​25.01.2014

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