Nahrungsmittelintoleranzen: Köstliche Qual

25.04.2010 | Medizin

Bis zu zwei Stunden nach dem Kontakt mit dem Agens kommt es zu einer dosisabhängigen Reaktion. Als Auslöser kommen dafür nicht nur Gluten, Fruktose, Laktose und Histamin in Frage, sondern auch Lebensmittelzusatzstoffe wie Emulgatoren, Farbstoffe und Konservierungsstoffe.
Von Irene Mlekusch

Echte Nahrungsmittelallergien sind selten, trotzdem können wegen der damit verbundenen unangenehmen Symptome immer weniger Menschen gewisse Speisen zu sich nehmen. „Das weite Spektrum der klinischen Symptome von Übelkeit, Erbrechen über Nesselausschlag, Ekzemschübe, Schwellungen, Durchfälle, Asthma und Heuschnupfen bis hin zum anaphylaktischen Schock, den Gelenksbeschwerden und den Gefäßentzündungen macht aber die Krankheitsbilder oft schwer fassbar“, schildert Univ. Prof. Werner Aberer, Vorstand der Universitätsklinik für Dermatologie und Venerologie der Medizinischen Universität Graz. Zehn bis 20 Prozent der Menschen leiden an einer oder mehreren so genannten Nahrungsmittelintoleranzen. Anders als bei einer Allergie kommt es bis zu zwei Stunden nach dem Kontakt mit dem Agens zu einer Reaktion, die zusätzlich auch dosisabhängig ist.

Pseudoallergien, Malabsorptions-Syndrome, Enzymdefekte und andere Entitäten werden unter dem Begriff Nahrungsmittelintoleranzen zusammengefasst. Abgesehen von der Sensitivität gegenüber Gluten, Fruktose, Laktose und Histamin können auch Lebensmittelzusatzstoffe wie Emulgatoren, Farbstoffe, Konservierungsstoffe und andere Auslöser einer Nahrungsmittelunverträglichkeit sein. Aberer dazu: „In Mitteleuropa gehören Kuhmilch, Hühnerei, Nüsse, Gewürze, Gemüse, Getreide, Fisch und Fleisch sowie Obst zu den relativ häufigen Allergenen. Von zahlenmäßig großer Bedeutung sind die Kreuzreaktionen zwischen verschiedenen Obstsorten und Baumpollen sowie zwischen Beifußpollen und verschiedenen Gewürzen.“ Dabei ist es auch nicht ungewöhnlich, wenn sich Intoleranzen vergesellschaften. Die intestinale Fruktoseintoleranz führt die Liste der Unverträglichkeiten an, dicht gefolgt von der Histaminintoleranz. Die Laktoseintoleranz ist dagegen in isolierter Form nicht so häufig anzutreffen wie in Kombination mit der Fruktose- und/oder Histaminintoleranz. „Die Laktoseintoleranz ist beim Erwachsenen aber aufgrund von Restmengen an Enzym meist ein gut tolerierbares Krankheitsbild“, berichtet
Aberer.

Univ. Prof. Reinhart Jarisch, Ärztlicher Leiter des Allergiezentrums Floridsdorf in Wien berichtet von vielen Patienten, die an einem Reizdarm leiden, die trotz ihrer offensichtlich funktionellen Störung mittels endoskopischen Verfahren diagnostisch untersucht werden, meist ohne zu einer Diagnose zu kommen. „Beschwerden wie Blähungen und Durchfall anzusprechen, ist vielen Patienten peinlich“, sagt Jarisch. Er hat die Erfahrung gemacht, dass viele Betroffene ihr Leiden als gottgewollt annehmen. In ihrer Verzweiflung lassen sich die Patienten auf alternative Heilmethoden ein, was wiederum Rückschlüsse auf psychosomatische Ursachen zulässt. Aberer findet es in diesem Zusammenhang bedenklich, dass nicht nur für die Therapie, sondern auch für die Diagnostik von Nahrungsmittelallergien und Nahrungsmittelunverträglichkeiten sehr häufig Methoden eingesetzt werden, die dafür entweder nicht geeignet sind wie etwa der IgG-Nachweis auf bestimmte Nahrungsmittel oder paramedizinischem Denken entsprechen.

„Die Diagnostik von Nahrungsmittelunverträglichkeiten kann einfach sein und sich ganz klar aus der Anamnese allein ergeben“, weiß Aberer. Häufig ist aber eine sehr differenzierte Hauttestung und in-vitro-Diagnostik erforderlich. Viele Allergien können aber letztlich nur in der Placebo-kontrollierten doppelblinden Exposition gesichert werden. Auch sind falsch-positive Testergebnisse sowohl im Hauttest als auch in der invitro-Diagnostik häufig, was nicht selten zu völlig falschen Diätempfehlungen führt. Ein weiteres in-vivo-Diagnostikum ist der Prick-to-Pricktest; dieser gibt Unverträglichkeiten gut wieder. Der Anamnese und bisherigen Befunde entsprechend wird die Testlanzette in frische oder tiefgekühlte native Nahrungsmittel gestochen und anschließend die Haut geprickt. Da bei diesem Verfahren alle Allergene des jeweiligen Lebensmittels erfasst werden, ist mit einem sensitiven Ergebnis zu rechnen.

„Da Provokationen grundsätzlich nicht ungefährlich sind und insbesondere Histamin schwere Reaktionen auslösen kann, wird im Allergiezentrum Floridsdorf die negative Provokation bevorzugt“, schildert Jarisch aus seinem Arbeitsalltag. Nach der klinischen Verdachtsdiagnose werden beim Betroffenen im Blut die Histamin- sowie Diaminoxydase-Werte (DAO) bestimmt und im Anschluss an eine vierzehntägige histaminfreie Diät neuerlich kontrolliert. Im Fall einer Histaminintoleranz sinkt der Histaminspiegel signifikant, während die DAO steigt und sich die Symptome deutlich gebessert haben oder sogar ganz verschwunden sind. Liegt keine Histaminintoleranz vor, bleiben Blutwerte und klinische Symptomatik gleich.

„Interessant ist, dass etwa zehn Prozent der Patienten, die zur Abklärung einer Nahrungsmittelintoleranz die Ambulanz aufsuchen, ungefragt über Kopfschmerzen berichten“, betont Jarisch. Andere Symptome der Histaminintoleranz können Unterlidschwellungen, Flush im Gesicht, Pruritus, rinnende oder verstopfte Nase postprandial, Asthma bronchiale, Herzrasen, Hypotonie, aber auch Durchfälle und Dysmenorrhö sein. Beachtet man außerdem die Tatsache, dass etwa 80 Prozent der Betroffenen Frauen im Alter um die 40 sind, so lässt sich bei sorgfältiger Anamnese schon eine gute Verdachtsdiagnose erstellen. Die Unverträglichkeit von Alkohol, im Speziellen Rotwein, ist ebenfalls ein deutlicher Hinweis auf das Krankheitsbild. Außerdem scheinen Urticaria-Patienten eine Prädisposition für eine Histamin-Intoleranz aufzuweisen, da etwa ein Viertel von ihnen von einer histaminfreien Diät profitiert. Patienten mit Asthma bronchiale sollten ebenfalls auf den Histamingehalt ihrer Nahrungsmittel achten. Dabei gilt: Alles, was frisch und frei von Konservierungsstoffen ist, darf – abgesehen von Tomaten und Spinat – gegessen werden. Therapeutisch steht also die Diät an erster Stelle. „Vor allem bei intestinalen Beschwerden kann den Patienten mit einem Antihistaminikum sofort geholfen werden“, empfiehlt Jarisch, der den Darm treffenderweise als die Seele des Menschen bezeichnet. Aberer wiederum spricht den Nocebo-Effekt an: „Unverträglichkeitssymptome werden häufig ausgelöst, ohne dass ein kausaler Zusammenhang zu bestimmten Inhaltsstoffen nachweisbar ist.“ Die Angst vor versteckten Gefahrstoffen, übertriebene Berichte in den Medien und verschiedene andere Faktoren führen nicht selten zur Phobie. Der Betroffene kann bestimmte Nahrungsmittel nicht genießen, weil er Probleme erwartet.

Häufig klagen Menschen auch nach einer Mahlzeit in einem asiatischen Restaurant über diverse Symptome. „Beim China-Restaurant-Syndrom, das weltweit verbreitet ist, kommen gleich drei Ursachen in Frage“, weiß Jarisch. Oft ist hier eine Glutamatunverträglichkeit, die in Form einer Pseudoallergie zu Kopfschmerzen, Spannungsgefühl und Schmerzen führt, schuld. Da diese Unverträglichkeit aber nur unter sehr aufwendigen Bedingungen nachgewiesen werden kann, ist es sinnvoller, die beiden anderen möglichen Auslöser auszuschließen. Einerseits kann es durch eine Intoleranz oder ein Überangebot an Histamin zu einer Unverträglichkeit asiatischer Speisen kommen, andererseits kann es auch an einem leicht zu diagnostizierenden Vitamin B6-Mangel liegen.

„Unverträglichkeitsreaktionen durch Nahrungsmittel und Nahrungsmittelbestandteile stellen zweifellos ein zunehmendes Problem im allergologischen Klinik- und Praxisalltag dar“, merkt Aberer an. Er gibt weiters zu bedenken, dass die Ursachen für die Zunahme von Nahrungsmittelallergien und Nahrungsmittelunverträglichkeiten letztlich unbekannt sind. „Ein Faktor dürfte wohl das Angebot früher bei uns nicht üblicher Nahrungsmittel sein“, macht sich Aberer Gedanken. Jarisch hingegen sieht das gesteigerte Interesse der Bevölkerung und Medien an diesem Thema als Grund für die ausgesprochen hohe Patientenfrequenz in seinem Allergiezentrum. „Die Betroffenen informieren sich selbst zum Beispiel über das Internet und kommen immer öfter schon mit einer eigenen Verdachtsdiagnose“, fasst Jarisch seine Eindrücke in der Praxis zusammen. Auch seine Erklärung für die Zunahme der Laktoseintoleranz mit steigendem Lebensalter erscheint plausibel. Jarisch geht davon aus, dass die veränderten Ernährungsgewohnheiten im Verlauf des Lebens bei vielen Menschen mit einer Reduktion von Milch und Milchprodukten einhergehen.

Die Empfindlichkeit gegenüber Milchzucker ist sehr individuell, je nachdem wie viel oder wie wenig Laktase vorhanden ist. Das Angebot reguliert hier eindeutig die Nachfrage am Enzym. Wer an Laktoseintoleranz leidet und dementsprechend Milch und Milchprodukte reduziert hat, sollte bedenken, dass damit eine wesentliche Kalziumquelle verloren geht und die Wahrscheinlichkeit für eine Osteoporose steigt. Eine Kalzium- und Vitamin D-Substitution kann unter Umständen nötig sein.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 8 / 25.04.2010