Inter­view – Univ. Prof. Gün­ther Gastl: Über­le­ben mit Krebs

25.05.2014 | Medizin

Bis 2030 wer­den die onko­lo­gi­schen Erkran­kun­gen jene des Herz-Kreis­lauf-Sys­tems im Hin­blick auf die Mor­ta­li­tät über­tref­fen. Wel­che Kon­se­quen­zen das hat, erklärt Univ. Prof. Gün­ther Gastl, Kli­nik­di­rek­tor Innere Medi­zin, Häma­to­lo­gie und Onko­lo­gie an der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Inns­bruck im Gespräch mit Verena Ulrich.

ÖÄZ: Die Öster­rei­chi­sche Gesell­schaft für Häma­to­lo­gie und Medi­zi­ni­sche Onko­lo­gie hat eine Stu­die zu den soge­nann­ten „Future Trends“ in Auf­trag gege­ben. Wohin ent­wi­ckelt sich die Onko­lo­gie in Öster­reich in den nächs­ten Jah­ren?
Gastl: Im Rah­men der Stu­die sind zwei Ergeb­nisse zutage getre­ten. Die gute Nach­richt ist, dass die Inzi­denz von Krebs­er­kran­kun­gen in den kom­men­den Jah­ren wei­ter sin­ken wird. Die Prä­va­lenz jedoch wird stei­gen. Der­zeit wird pro­gnos­ti­ziert, dass 2020 in etwa 300.000 Men­schen in Öster­reich mit der Dia­gnose Krebs leben wer­den. Das bedeu­tet einen Anstieg um 60 bis 80 Pro­zent. Es ist vor­her­seh­bar, dass bis 2030 die Krebs­er­kran­kun­gen die Herz-Kreis­lauf- Erkran­kun­gen hin­sicht­lich der Mor­ta­li­tät über­tref­fen wer­den. Die­ser Trend ist auf die Ver­bes­se­run­gen bei der Krebs­the­ra­pie und die all­ge­mein stei­gende Lebens­er­war­tung zurückzuführen.

Das heißt, dass bald 60 bis 80 Pro­zent mehr Pati­en­ten betreut wer­den müs­sen. Wie wirkt sich die­ser Trend auf das öster­rei­chi­sche Gesund­heits­sys­tem aus?
Mei­ner Ansicht nach sind die der­zei­ti­gen Struk­tu­ren gut geeig­net, um die­ser neuen Her­aus­for­de­rung zu begeg­nen. Das Kran­ken­haus-basierte Ver­sor­gungs­sys­tem sollte bei­be­hal­ten wer­den. Aller­dings wer­den wir uns inten­si­ver um die Aus­bil­dung von neuen Fach­ärz­ten für Innere Medi­zin mit Addi­tiv­fach Häma­to­lo­gie und inter­nis­ti­sche Onko­lo­gie küm­mern müs­sen. Wir gehen davon aus, dass bis 2020 in etwa 170 bis 200 Fach­ärzte mehr benö­tigt wer­den. Das ist eine Stei­ge­rung um fast 50 Prozent.

Wel­che medi­zi­ni­schen Fort­schritte füh­ren zu die­sem dras­ti­schen Anstieg der Lebens­er­war­tung von Krebs­pa­ti­en­ten?
Es sind vor allem die Mole­ku­lar­dia­gnos­tik und die ziel­ori­en­tierte Tumor­t­he­ra­pie, die die Krebs­me­di­zin der­zeit bewe­gen. Die revo­lu­tio­nä­ren Erkennt­nisse in die­sem Bereich sind einer­seits auf den tech­ni­schen Fort­schritt zurück­zu­füh­ren, ande­rer­seits auf die Ent­schlüs­se­lung des mensch­li­chen Genoms, im Spe­zi­el­len des Tumor­ge­noms. In der Dia­gnos­tik wer­den soge­nannte mole­ku­lare Tumor­pro­file erstellt und damit die Vor­aus­set­zung geschaf­fen, dass mole­ku­lar ziel­ori­en­tiert the­ra­piert wer­den kann. Die Indus­trie ent­wi­ckelt welt­weit eine Viel­zahl an soge­nann­ten mole­ku­lar-ziel­ori­en­tier­ten The­ra­peu­tika. Das sind meist Medi­ka­mente in Tablet­ten­form, deren che­mi­sche Struk­tur am Reiß­brett ent­stand und die maß­ge­schnei­dert für bestimmte mole­ku­lare Fehl­re­gu­la­tio­nen in Tumo­ren ein­ge­setzt wer­den. Zusätz­lich kom­men immer mehr neue Immun­the­ra­peu­tika wie zum Bei­spiel mono­klon­ale Anti­kör­per als Krebs­me­di­ka­mente zum Ein­satz. Klas­si­sche Che­mo­the­ra­pien wer­den durch diese Medi­ka­mente in Zukunft zuneh­mend ersetzt. Damit kön­nen auch typi­sche Neben­wir­kun­gen der kon­ven­tio­nel­len Che­mo­the­ra­pie ver­mie­den wer­den. Aller­dings sind auch diese neuen Medi­ka­mente nicht nebenwirkungsfrei.

Wer­den diese mole­ku­lar­ge­ziel­ten The­ra­peu­tika in Öster­reich schon ein­ge­setzt?
Öster­reich ist eines der weni­gen Län­der in der EU, das Pati­en­ten sol­che neuen Medi­ka­mente sehr rasch zugäng­lich macht. Zum Bei­spiel wer­den diese Medi­ka­mente bereits erfolg­reich bei Lun­gen­krebs ein­ge­setzt. Auch die Klas­si­fi­ka­tion von mali­gnen Tumo­ren ist im Umbruch. Frü­her hat man nur zwei Arten von Lun­gen­krebs unter­schie­den: Das klein­zel­lige und das nicht-klein­zel­lige Lun­gen­kar­zi­nom. Nun ken­nen wir mehr als zehn his­to­lo­gi­sche bezie­hungs­weise mole­ku­lare Sub­ty­pen und für einige davon gibt es bereits effi­zi­ente mole­ku­lare The­ra­pie­an­sätze. Pati­en­ten mit nicht-klein­zel­li­gem Lun­gen­krebs und einer Muta­tion des EGF-Rezep­tors erhal­ten zum Bei­spiel eine Tablette eines EGF-Rezep­tor­blo­ckers täg­lich statt einer klas­si­schen Che­mo­the­ra­pie. Damit kön­nen diese Tumore oft über sehr lange Zeit effi­zi­ent und neben­wir­kungs­arm behan­delt werden.

Kön­nen Sie wei­tere Bei­spiele für Krebs­ar­ten nen­nen, die bereits erfolg­reich mole­ku­lar the­ra­piert wer­den?
Im Bereich der häma­to­lo­gi­schen Tumore sind vor allem die The­ra­pie­er­folge bei chro­ni­schen Leuk­ämien beacht­lich. Die chro­ni­sche mye­loi­sche Leuk­ämie wird schon län­ger mit einer soge­nann­ten Leuk­ämie-Pille wie zum Bei­spiel Imat­i­nib behan­delt. Nun gibt es bereits sol­che Medi­ka­mente der zwei­ten Gene­ra­tion, die noch wirk­sa­mer sind. Stu­dien zei­gen, dass etwa 40 Pro­zent der Pati­en­ten, bei denen man diese Medi­ka­mente in mole­ku­la­rer Remis­sion absetzt, keine Krank­heits­rück­fälle zei­gen und mög­li­cher­weise geheilt sind. Eine Hei­lung der CML war bis­her nur mit einer Stamm­zel­len­trans­plan­ta­tion mög­lich. Dank der neuen The­ra­pie steigt die Lebens­er­war­tung bei CML signi­fi­kant. Lag die mitt­lere Lebens­er­war­tung bei Pati­en­ten mit CML frü­her bei etwa drei bis vier Jah­ren, so liegt sie der­zeit schon bei 20 Jah­ren. Viele Krebs­er­kran­kun­gen wer­den künf­tig zu chro­ni­schen Krank­hei­ten mit lan­gen Über­le­bens­zei­ten wer­den. Das bedarf zwar stän­di­ger Betreu­ung, die Pati­en­ten wer­den jedoch ein weit­ge­hend nor­ma­les Leben füh­ren kön­nen. Hin­sicht­lich der Betreu­ung und Über­wa­chung von Tumor­pa­ti­en­ten kann in Zukunft auch die Infor­ma­ti­ons­tech­no­lo­gie Erleich­te­run­gen brin­gen. Ein Ziel der­zei­ti­ger Ent­wick­lun­gen ist, Pati­en­ten zusätz­lich über moderne Kom­mu­ni­ka­ti­ons­sys­teme wie Tablets und Smart­phones zu überwachen.

Gibt es andere Berei­che in der Onko­lo­gie, in denen Infor­ma­ti­ons­tech­no­lo­gien eine Rolle spie­len bezie­hungs­weise spie­len wer­den?
Ein wesent­li­ches Thema, mit dem wir uns aus­ein­an­der­set­zen müs­sen, sind soge­nannte kli­ni­sche EDV-basierte Krebs­re­gis­ter. Auf­grund der stei­gen­den Anzahl an Pati­en­ten und der auf­wen­di­ge­ren Dia­gnos­tik sind wir mit sehr gro­ßen Daten­men­gen kon­fron­tiert. Die Daten sicher zu archi­vie­ren und best­mög­lich zu nut­zen und dabei die Anfor­de­run­gen des Daten­schut­zes aus­rei­chend zu berück­sich­ti­gen, sind große Her­aus­for­de­run­gen, denen wir uns der­zeit stel­len. Ein wei­te­res Zukunfts­thema sind soge­nannte Exper­ten­sys­teme. Das sind elek­tro­ni­sche Hilfs­mit­tel, die dem Arzt bei der The­ra­pie­steue­rung hel­fen. Auf Knopf­druck kann der Arzt her­aus­fin­den, wel­che The­ra­pie­op­tio­nen und The­ra­pie­richt­li­nien es gibt oder er kann die Ver­träg­lich­keit von Medi­ka­men­ten über­prü­fen. Die Öster­rei­chi­sche Gesell­schaft für Häma­to­lo­gie und Medi­zi­ni­sche Onko­lo­gie hat gemein­sam mit der Schwei­zer und der Deut­schen Gesell­schaft mit ONKOPEDIA eine Web­site und Wis­sens­da­ten­bank für Onko­lo­gen ent­wi­ckelt. ONKOPEDIA umfasst über 65 Leit­li­nien zur Dia­gnos­tik und The­ra­pie von Krebs­er­kran­kun­gen. Die Web­site hat im deut­schen Sprach­raum bereits sie­ben Mil­lio­nen Zugriffe im Jahr. Nun soll ONKOPEDIA auch auf Eng­lisch über­setzt und für den gesam­ten EU-Raum zugäng­lich gemacht werden.

Tipp:
www.dgho-onkopedia.de

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 10 /​25.05.2014