Interview – Univ. Prof. Alexander Gaiger: Diagnose Krebs – und was nun?

25.06.2014 | Medizin

Jährlich erkranken rund 36.000 Menschen in Österreich an Krebs. Diese schlechte Nachricht kann man nicht gut überbringen, sondern nur sofort – davon ist Univ. Prof. Alexander Gaiger von der Universitätsklinik für Innere Medizin I der Medizinischen Universität Wien überzeugt, wie er im Gespräch mit Verena Isak ausführt.

ÖÄZ: Wie überbringt man am besten eine schlechte Diagnose?
Gaiger: Das Überbringen einer schlechten Nachricht gehört wohl zu den schwierigsten und einschneidendsten Momenten in der Arzt-Patienten-Begegnung. Die Eröffnung der Diagnose einer Krebserkrankung ist stets unabhängig davon, wie gut wir kommunizieren und wie immer auch die spezielle Prognose dieser Erkrankung aussieht: Sie ist eine schlechte Nachricht. Sie erschüttert fundamental und zieht den Boden unter den Füßen weg. Eine schlechte Nachricht kann man nicht gut überbringen, sondern nur sofort.

Wie sollte man vorgehen?
Ein Weg, Ressourcen der Patienten und ihrer Angehörigen zu mobilisieren und in den Prozess einzubinden, ist das sogenannte „shared decision making“. Dabei leistet der Patient nicht mehr nur den Anweisungen des Arztes Folge. Vielmehr wird der Untersuchungs- und Behandlungsplan gemeinsam erstellt. Dies bedeutet in keiner Weise, dass etablierte onkologische Protokolle oder chirurgische Vorgangsweisen abgeändert werden. Es werden Bereiche definiert, die ohne Nachteil für den Patienten seinen unmittelbaren Bedürfnissen entsprechend angepasst werden können. Es werden Grenzbereiche definiert, in denen Abänderungen Nachteile oder Schaden für den Patienten nach sich ziehen könnten oder werden. Es wird in diesem Prozess für den Patienten klar fassbar, worüber er wann entscheidet. Wir sprechen nun anstelle von Compliance von Adhärenz, einer Verbundenheit zwischen Arzt und Patient in einem klar gegliederten und verständlichen Prozess. Die bekannten Daten über Non-Compliance zeigen eindrücklich, dass ein neuer Weg der Arzt-Patient-Kommunikation, nämlich genau dieser gemeinsame Entscheidungsprozess des „shared decision making“, notwendig ist.

Was sind Voraussetzungen für das Diagnosegespräch?

Zu einer guten Vorbereitung gehört das Wissen um die soziale Vernetzung des Patienten und die Wahrnehmung seiner Beziehungsstruktur. Der Patient ist der Vertragspartner des Arztes und er entscheidet, was er zu einem bestimmten Zeitpunkt über sein Kranksein wissen will und an wen diese Informationen weitergegeben werden dürfen. Nur gehört zu diesem Prozess der Aufklärung auch die Information, dass ein soziales Netzwerk wie zum Beispiel die Familie und die Ressourcen hilfreich sind. Damit der Patient eine Entscheidung darüber treffen kann, wen er in diesem Prozess einbinden möchte, benötigt er eine Information darüber, was dafür und was dagegen spricht. Oft verbirgt sich hinter dem Zögern, die eigene Familie einzubinden, eine Angst, die uns Betreuern auch vertraut ist. Es ist die Angst vor der Reaktion der Partner und/oder der Kinder auf die schlechte Nachricht. Oder die Angst, denen, die man liebt, Schmerzen und Leid zuzufügen, ihnen durch Krankheit zur Last zu fallen. Es ist eine große Qualität, wenn schon vor dem Aufklärungsgespräch geklärt ist, wen der Patient bei sich haben möchte.

Welche Redewendungen kann man für die Erstinformation anwenden?
Zum Beispiel: Es ist, wie wir befürchtet haben: Sie haben Krebs. Oder: Ich habe keine gute Nachricht für Sie: Wir haben eine bösartige Erkrankung entdeckt. Sie haben Krebs. Oder: Wir wissen nun definitiv, dass dieser Knoten Krebs ist. Oder: Leider muss ich Ihre Befürchtung bestätigen: Wir haben bösartige Zellen gefunden. Das heißt: Sie sind an Krebs erkrankt.

Wie geht es dann weiter?
Nach dem Wort ‚Krebs‘ ist es den meisten Betroffenen nicht möglich, Kontakt zu halten. Oft erfolgt ein Rückzug aus dem Gespräch – wenn auch nur kurz. Die nun nachfolgenden Informationen werden in aller Regel nicht aufgenommen und können nicht wiedergegeben werden. Die Überbringung einer Diagnose ist weniger eine Methode als vielmehr Inhalt. Wesentlich an diesem Inhalt ist die Authentizität des Überbringers. Der Patient hört nicht nur die Botschaft, er beobachtet auch die Gestik, Mimik und die Stimme des Überbringers. Deshalb ist eine sorgfältige Vorbereitung auf diese Konfrontation von größter Bedeutung. Es wird immer wieder versucht, den Patienten so schonungsvoll wie möglich aufzuklären. Das mag zwar gut gemeint sein – unterm Strich aber ist es für den Patienten fatal. Dieser Prozess der Erschütterung erfolgt so oder so, früher oder später! Wollen wir diesen Schritt irgendwelchen Zufälligkeiten oder Willkürlichkeiten überlassen?

Wie kann man sich als Arzt auf das Diagnose-Gespräch vorbereiten?
Mit folgenden Überlegungen: Ich bereite mich sorgfältig vor und kann mögliche Fragen gut erklären. Ich weiß um die Erschütterung und lasse dem Patienten die notwendige Zeit. Ich will ein Vertrauensverhältnis zum Patienten aufbauen. Ich nehme mir vor, weder Fremdwörter noch lateinische Bezeichnungen oder Kürzel zu verwenden. Ich formuliere einfache und kurze Sätze und beobachte die Reaktion des Patienten.

Wie reagiert man als Arzt am besten auf die Frage eines Patienten mit einem Karzinom, ob er sterben wird?
Wenn es zum Beispiel eine Krankheit ist, die wir sehr gut behandeln können: ‚Wieso kommen Sie auf den Gedanken, dass Sie sterben? Spannend sind dann meistens Familiengeschichten: ‘Wie ich 14 war, habe ich meinen Großvater gepflegt, der ist elend an Lungenkrebs gestorben.‘ Dann kann ich dieses Bild korrigieren und sagen: ‚Das ist eine völlig andere Erkrankung.‘

Was antwortet man, wenn ein Betroffener fragt, ob denn bei ihm wirklich nichts mehr getan werden könne?
Das nenne ich das Dilemma zwischen Hoffnung und Illusion. Wir versuchen immer Hoffnung zu machen, aber unterstützen dann häufig Illusion. Wenn jemand eine fortgeschrittene, metastasierende Krebserkrankung hat und ich weiß, dass die Lebenszeit auf Monate beschränkt ist, dann nie Daten sagen oder: ‚Sie haben noch sechs Monate!‘

Was tun, wenn der Betroffene aber weiter auf einer Antwort besteht und eine ungefähre Zeitangabe haben will?
Etwa mit: ‚Das kann ich nicht, ich weiß es nicht. Aber die meisten Menschen leben in dieser Situation einige Monate. Das kann aber auch mehr sein, das könnte auch weniger sein. Warum müssen Sie das jetzt so genau wissen?‘ Manchmal kommt auch etwas ganz Wichtiges, etwa dass das Kind demnächst Erstkommunion hat, maturiert oder heiratet.

Wie soll man reagieren?
Eine meiner Patientinnen hat den Hochzeitsschmuck ihrer Tochter in einer Box verpackt und gesagt: ‚Ich kann leider bei deiner Hochzeit nicht dabei sein, aber ich denke an dich.‘ Und ich habe diese Leute kennengelernt. Sie haben sich riesig gefreut, dass die Mama auch in der Situation, in der es ihr so schlecht gegangen ist, so viel an sie gedacht hat. Meistens freuen sich die Kinder unendlich; wie schön, was ist das für ein Liebesbeweis, dass die Mama, der Papa, oder auch das Kind an mich denkt in der Zeit, in der es ihr oder ihm eigentlich schlecht geht. Und Kinder suchen auch nach Tonspuren, Bildspuren der Eltern wie Bilder oder ein kurzes Tagebuch, wie es mir so geht. Die Kinder haben oft Phantasien, die sie beunruhigen: was los ist und wie das war, und das kann hilfreich sein.

Welche Rolle spielen psychische Faktoren im Laufe der Krebserkrankung?
Es gibt eine Vielzahl an reaktiven Veränderungen wie beispielsweise Belastung des sozialen Umfelds durch lange Krankheitsdauer, Gefahr des sozialen Abstiegs durch Verlust des Arbeitsplatzes, Einkommensverlust, posttraumatische Belastungsreaktion u. a. m. Die Kombination dieser Faktoren sowie die fehlenden Ressourcen im Spitalsalltag für psychosomatische und psychosoziale Aspekte der Krebserkrankung und Therapie erschweren die Krankheitsbewältigung und können zur Chronifizierung von Leidensdruck führen. Letztlich führt der mangelnde Einsatz von Ressourcen (hier Psychosomatik und Psychotherapie) im ‚Akutsetting‘ zu einem Mehr an Leid, aber später auch an finanziellen Kosten. Dank des Engagements der Pensionsversicherungsanstalt kann in diesem Aspekt durch das Pilotprogramm Onkologische Rehabilitation gegengesteuert werden. Dabei erfolgt ähnlich den physikalischmedizinischen Therapien eine genaue ärztliche/psychoonkologische Diagnostik und ein darauf aufbauendes individualisiertes Rehabilitationsprogramm.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 12 / 25.06.2014