5. Wie­ner Sym­po­sium: Heim­li­che Ratio­nie­rung auf dem Vormarsch

10.02.2013 | Politik

Gene­rell herr­sche in Deutsch­land wie in Öster­reich eher die Ten­denz, heim­lich zu ratio­nie­ren, erklär­ten Exper­ten uni­sono beim fünf­ten Wie­ner Sym­po­sium der ÖÄK mit ihren deut­schen Kooperationspartnern.Von Marion Huber

Bereits zum fünf­ten Mal war die Öster­rei­chi­sche Ärz­te­kam­mer Ende Jän­ner Gast­ge­ber des Wie­ner Sym­po­si­ums, zu dem auch heuer wie­der Ver­tre­ter der Poli­tik, der Lan­des­ärz­te­kam­mern, der Kran­ken­haus­ge­sell­schaf­ten und der Kas­sen­ärzt­li­chen Ver­ei­ni­gung aus den neuen deut­schen Bun­des­län­dern ein­ge­la­den waren. Zahl­rei­che öster­rei­chisch-deut­sche Gemein­sam­kei­ten fan­den die Exper­ten bei den The­men „Ratio­na­li­sie­rung – Ratio­nie­rung – Prio­ri­sie­rung“. Denn in bei­den Län­dern setzt die Poli­tik häu­fig auf Ratio­nie­rung, um den stei­gen­den Finanz­be­darf durch die demo­gra­phi­sche und medi­zi­nisch wis­sen­schaft­li­che Ent­wick­lung ein­zu­däm­men – womit den Pati­en­ten bewusst Leis­tun­gen vor­ent­hal­ten werden.

„Öster­reich pen­delt zwi­schen Ratio­na­li­sie­rung und Ratio­nie­rung. Prio­ri­sie­rung ken­nen wir prak­tisch nicht“, erklärte ÖÄK-Prä­si­dent Artur Wech­sel­ber­ger. Wäh­rend die Exper­ten alle­samt Ratio­nie­rungs­maß­nah­men ablehn­ten, befan­den sie die Ratio­na­li­sie­rung als öko­no­misch sinn­voll und ethisch gebo­ten – wird sie doch durch das Aus­schöp­fen von Effi­zi­enz und Pro­duk­ti­vi­tät erreicht, ohne dass den Pati­en­ten Not­wen­di­ges und Nütz­li­ches vor­ent­hal­ten wird. „Aber auch die Aus­schöp­fung aller Effi­zi­enz­po­ten­tiale wird lang­fris­tig das Finan­zie­rungs­pro­blem nicht lösen“, befürch­tet der ÖÄK-Präsident.

Wäh­rend etwa Schwe­den „Vor­rei­ter“ in Sachen Prio­ri­sie­rung ist und dort ver­sucht wird, dem Finan­zie­rungs­pro­blem auf diese Weise zu begeg­nen, herrscht in Deutsch­land und Öster­reich keine offene Dis­kus­sion über die Not­wen­dig­keit, Prio­ri­tä­ten zu set­zen, wie Mathias Wes­ser, Prä­si­dent der Lan­des­ärz­te­kam­mer Thü­rin­gen, fest­stellte. Prio­ri­sie­rung, die zu Ver­sor­gungs­ge­rech­tig­keit füh­ren würde, ist für viele noch ein Fremd­wort. Frü­her stand auch in Schwe­den die Kran­ken­ver­sor­gung gesetz­lich der gesam­ten Bevöl­ke­rung zu glei­chen Bedin­gun­gen zu. Durch eine par­la­men­ta­ri­sche Ent­schei­dung wurde die­sem Gesetz 1997 der Pas­sus hin­zu­ge­fügt, dass „der, der den größ­ten Bedarf an Gesund­heits­leis­tun­gen hat, im Gesund­heits­we­sen Vor­rang hat“. Für Wes­ser ist das Kon­zept damit in Schwe­den „am wei­tes­ten ent­wi­ckelt und nachgebessert“.

Neben dem obers­ten Prin­zip der Men­schen­würde kom­men dabei auch das Bedarfs- und Soli­da­ri­täts­prin­zip sowie das Kos­ten­ef­fek­ti­vi­täts-Prin­zip zum Tra­gen. Als Fak­to­ren wer­den bei­spiels­weise Krank­heits­schwere, Dring­lich­keit und Wirk­sam­keit her­an­ge­zo­gen; chro­no­lo­gi­sches Alter oder soziale Rolle hin­ge­gen wer­den als Kri­te­rien ent­schie­den abge­lehnt, so Wes­ser wei­ter. Die Prio­ri­sie­rung bie­tet damit einen Ord­nungs­rah­men im Hin­blick auf hohen oder nied­ri­gen Ver­sor­gungs­be­darf und schließt kein Ange­bot grund­sätz­lich aus. Ganz im Gegen­satz zur Ratio­nie­rung, die den Pati­en­ten bewusst Leis­tun­gen – sowohl qua­li­ta­tiv als auch quan­ti­ta­tiv – vor­ent­hält.

Vor­ge­täuschte Transparenz

Den Ver­such einer offe­nen Ratio­nie­rung gibt es in Öster­reich erst seit kur­zem – mit der Novelle des Bun­des­ge­set­zes über Kran­ken- und Kur­an­stal­ten (KAKuG) 2011 müs­sen War­te­zei­ten auf Ope­ra­tio­nen bei­spiels­weise für die Fächer Ortho­pä­die und Neu­ro­chir­ur­gie offen­ge­legt wer­den. „Das pas­siert aber nicht, um Ratio­nie­rungs­not­wen­dig­kei­ten aus dem Man­gel an Res­sour­cen auf­zu­zei­gen, son­dern ledig­lich um Trans­pa­renz vor­zu­täu­schen“, kri­ti­sierte Wech­sel­ber­ger. Gene­rell herr­sche in Deutsch­land wie in Öster­reich eher die Ten­denz, heim­lich zu ratio­nie­ren, so die Exper­ten uni­sono. Ver­steckte Ratio­nie­run­gen hier­zu­lande sieht Wech­sel­ber­ger etwa bei Bewil­li­gungs­sys­te­men und Behand­lungs­pfa­den gege­ben sowie bei War­te­zei­ten, Stel­len­plä­nen, Groß­ge­rä­te­plä­nen oder bei den Limi­tie­run­gen und Degres­sio­nen im Ver­trags­arzt­sys­tem. Und Theo­dor Wind­horst, Prä­si­dent der Ärz­te­kam­mer West­fa­len-Lippe, fügte hinzu: „Von der Poli­tik wird dem Pati­en­ten aber immer vor­ge­gau­kelt, dass es unein­ge­schränkte Spit­zen­me­di­zin für alle gibt. Aber schon ein ein­ge­schränk­tes Bud­get ist Ratio­nie­rung par excellence.“

Dabei sind es immer die Ärzte, an die – de facto – die Ver­ant­wor­tung dafür dele­giert wird. Sie fin­den sich in einem ethi­schen und beruf­li­chen Dilemma wie­der: Sind sie doch oft­mals dazu gezwun­gen, aus Kosten‑, Zeit- und Kapa­zi­täts­grün­den den Pati­en­ten Leis­tun­gen vor­zu­ent­hal­ten, obwohl ein Bene­fit für die­sen zu erwar­ten wäre und die Leis­tun­gen nach Maß­gabe der ärzt­li­chen Wis­sen­schaft und Erfah­rung gebo­ten wären. So ver­pflichte das deut­sche Berufs­recht Ärzte auf der einen Seite zur gewis­sen­haf­ten Ver­sor­gung; auf der ande­ren Seite müs­sen die Leis­tun­gen laut Sozi­al­recht „aus­rei­chend, zweck­mä­ßig und wirt­schaft­lich sein. Sie dürf­ten das Maß des Not­wen­di­gen aber nicht über­schrei­ten“, wie Wind­horst die Situa­tion schil­derte. „Aber wer ent­schei­det denn, was aus­rei­chend ist?“, so seine Frage. Die Ant­wort: Der Arzt – denn er wird gezwun­gen, die Ratio­nie­rung weiterzugeben.

Poli­tik muss Farbe beken­nen

Des­halb for­derte Wind­horst die Poli­tik auf, end­lich Farbe zu beken­nen, die Pati­en­ten zu infor­mie­ren und die Ärzte aus der Ver­ant­wor­tung zu neh­men anstatt hin­ter vor­ge­hal­te­ner Hand zu ratio­nie­ren. Andern­falls sieht er eine „heim­li­che Ratio­nie­rung hoch drei“. Und er fürch­tet, dass das Arzt-Pati­en­ten-Ver­hält­nis schwer gefähr­det ist, wenn der Kon­flikt „auf dem Rücken des Arz­tes“ aus­ge­tra­gen wird. „Ist die­ses Ver­hält­nis ein­mal nach­hal­tig zer­stört, weiß ich nicht, wie wir das wie­der auf­bauen wol­len“, gab er zu beden­ken. Die Poli­tik aber lasse den Arzt mit dem Kon­flikt im Stich, ent­ziehe sich der Dis­kus­sion und ver­weise ledig­lich auf Ratio­na­li­sie­rungs­re­ser­ven. Und Wech­sel­ber­ger fügte hinzu: „Es muss klar und offen gesagt wer­den, was kein Poli­ti­ker gern in den Mund neh­men möchte. Es könne nicht immer alle Leis­tun­gen allen Bür­gern jeder­zeit zur Ver­fü­gung gestellt wer­den. Man muss trans­pa­rent, nach­voll­zieh­bar und öffent­lich machen, wel­che Kon­se­quen­zen dar­aus für die Ver­sor­gung entstehen.“

So kris­tal­li­sierte sich im Rah­men der Ver­an­stal­tung ganz klar her­aus, was es wirk­lich braucht, um einen Aus­weg aus dem Finan­zie­rungs­di­lemma zu fin­den: eine offene poli­ti­sche Dis­kus­sion über Prio­ri­sie­rung und Ver­tei­lungs­kri­te­rien. Gibt es diese Dis­kus­sion nicht, sieht Wind­horst schwarz: „Wenn sich die Poli­tik der Ver­ant­wor­tung ent­zieht, fährt sie das Gesund­heits­sys­tem an die Wand!“

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 3 /​10.02.2013