Interview – Univ. Prof. Kurt Widhalm: „Heiße Kartoffel“ Ernährung

10.04.2013 | Politik

„Heiße Kartoffel“ Ernährung

Niemand will sich mit der „heißen Kartoffel“ Ernährung befassen. Mit dem kürzlich in der ÖÄK eingeführten Referat für Ernährungsmedizin unter der Leitung von Univ. Prof. Kurt Widhalm soll sich das ändern. Das Gespräch führte Barbara Wakolbinger.

ÖÄZ: Welche Maßnahmen werden Sie als erste setzen?
Widhalm: Das erste und wichtigste Ziel ist, den Ärzten Ernährungsmedizin schmackhaft zu machen und zu zeigen, dass man sie sowohl in der Therapie als auch in der Diagnostik und Prävention täglich benötigt. Dazu wird es aber notwendig sein, die Ausbildung in Ernährungsmedizin zu verbessern. Derzeit ist sie, gelinde gesagt, mangelhaft, wenn nicht sogar gar nicht vorhanden. Wir hören immer noch, dass ein Patient beim Arzt war und mit dem Ratschlag „Nehmen Sie zehn Kilo ab und kommen Sie dann wieder“ nach Hause geschickt wurde oder Ernährungsempfehlungen gemacht werden, ohne auf die individuelle Situation einzugehen.

Dabei hat man den Eindruck, Ernährung wird inzwischen überall thematisiert.
Wir haben ein Heer von Beratern, Gurus und Ernährungsexperten, die keine Ausbildung haben und die täglich irgendwo irgendwelche Messages zu gesunder Ernährung verbreiten. Von offizieller Seite gibt es übergeordnete Guidelines und evidenzbasierte Empfehlungen, die aber für den einzelnen Patienten nicht anwendbar sind. Deshalb braucht es den Arzt, der den täglichen Kontakt mit dem individuellen Patienten hat und etwa über Allergien Bescheid weiß. Er muss ganz konkrete ernährungswissenschaftliche Führung anbieten. Ich fürchte mich vor dem Wort Empfehlungen, weil an diese hält sich niemand, damit der Patient seine Lebensgewohnheiten umstellen kann.

Wo orten Sie Lücken in der Ausbildung?
Die Medizinischen Universitäten haben versäumt, Ernährung überhaupt in den Lehrplan einzubauen. Auch der Lehrstuhl für Ernährungsmedizin an der Universität Wien wurde nicht nachbesetzt. Die Frage muss aber auch sein, wie bringe ich Inhalte so hinüber, dass der Patient seine Gewohnheiten tatsächlich ändert. Bis eine geänderte Ausbildung allerdings greift, kann das dauern.

Und bis dahin?
Fast jeder Arzt, der mit Patienten zu tun hat, muss praktisch in Ernährungsmedizin geschult werden. Die postgraduelle Weiterbildung muss noch viel bekannter werden. Die Ärzte sollten sich auch Strukturen wie etwa eine Extra-Sprechstunde schaffen und sich wirklich interaktiv mit den Patienten beschäftigen und nicht nur irgendeine Broschüre herausgeben. Papier ändert das Ernährungsverhalten nicht. Wir müssen Ernährungsmedizin als wesentlichen Bestandteil der Prävention, nicht nur von Übergewicht, sondern auch von kardiovaskulären Erkrankungen begreifen. Man muss den Ärzten klar machen, dass sie sich für die Prävention zuständig fühlen sollten. Die Sozialversicherungen müssen das natürlich auch entlohnen. Derzeit gibt es hier keine Position, die verrechnet werden kann.

Soll das alles in der klassischen Arztpraxis stattfinden?
Wir brauchen auch Strukturen außerhalb der Universitäten, also zertifizierte Ambulanzen in Spitälern oder Gruppenordinationen. Die sind in Österreich kaum bis gar nicht vorhanden. Es gibt auch keine Kriterien. In Deutschland wird eine Einrichtung für Übergewichtige nur von der Sozialversicherung finanziell unterstützt, wenn sie zertifiziert ist. Denn das kann nicht einfach irgendjemand machen. Zusätzlich brauchen wir auch einen Report über die Zentren, die es bereits gibt. Wir wissen momentan gar nicht, wo welche Einrichtung existiert. Ein Muss wäre auch eine klare evidenzbasierte Statistik, wie es sie auch bei chirurgischen Eingriffen gibt. Denn die Erfolge sind derzeit eher niederschmetternd. Deshalb braucht es auch Anreize, wie sie jetzt etwa die Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft mit der Senkung des Selbstbehalts bei absolvierter Gesundenuntersuchung geschaffen hat. Das halte ich für eine gute und innovative Lösung.

Übergewicht ist keine neue Entwicklung. Wieso kommen Reaktionen in Österreich dennoch spät oder gar nicht?
Der Druck muss scheinbar sehr groß werden, bevor etwas passiert. Es wird immer noch behauptet, Übergewichtige sind an ihren Problemen selbst schuld, unwillig oder faul. Hauptsächlich wurden diese Menschen aber falsch beraten. Wenn ein Kind sichtbar an Fettgewebe zunimmt, dann muss man intervenieren und nicht erst, wenn es dann als Erwachsener 130 Kilogramm wiegt. Da tragen die Ärzte Mitschuld, weil aufgrund fehlender Ausbildung und gesellschaftlicher Strukturen oft zu lange abgewartet wird. Sie haben regelrecht Angst vor dem Thema ‚dickes Kind‘. Die Zahlen hört man seit Jahren immer wieder. Aber in den Medien werden keine therapeutischen oder präventiven Maßnahmen transportiert, sondern nur Horrormeldungen, die niemand mehr hören kann. Stadt, Universitäten, Krankenhäuser: jeder schiebt die heiße Kartoffel Ernährung ab.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 7 / 10.04.2013