Exper­ten­fo­rum – Dr. Ernest Pichl­bauer: Gesund­heits­re­form kon­kret – am Bei­spiel Dia­be­tes mellitus

25.03.2013 | Politik

Von Ernest Pichlbauer*

Durch die Reform soll die Insti­tu­tio­nen­ori­en­tie­rung (Spi­tals­stand­orte und Kas­sen-plan­stel­len) zuguns­ten einer inte­grier­ten Ver­sor­gung über­wun­den wer­den: Pati­en­ten sol­len zur rich­ti­gen Zeit an der rich­ti­gen Stelle – genannt „Best Point of Ser­vice“- behan­delt wer­den. Wo das ist, wird nicht dekre­tiert, son­dern ist dezen­tral, auf Ebene der 32 Ver­sor­gungs-regio­nen des ÖSG fest­zu­le­gen. Die ambu­lante Ver­sor­gung ist der sta­tio­nä­ren vor­zu­zie­hen – das bedeu­tet, dass die ambu­lante Ver­sor­gung durch Spi­tals­am­bu­lan­zen und Kas­sen- (Fach-)ärzte bedarfs­ori­en­tiert auf‑, aus- und umge­baut wird. An den Abbau von Haus­ärz­ten denkt defi­ni­tiv nie­mand – im Gegenteil.

Zen­tral wer­den Rah­men­ziele auf­ge­stellt, die dezen­tral – also in den 32 Ver­sor­gungs-regio­nen – unter Berück­sich­ti­gung der regio­na­len und spe­zi­fi­schen Beson­der­hei­ten zu kon­kre­ti­sie­ren sind. Es sind keine „zen­tra­lis­ti­schen“ Dik­tate ange­dacht, son­dern pra­xis- bezie­hungs­weise wir­kungs­ori­en­tierte Rah­men­vor­ga­ben. Die Reform klingt abs­trakt! Stimmt – und wie könnte das kon­kret aus­se­hen? Betrach­ten wir Dia­be­tes mellitus.

In Öster­reich gibt es viele Dia­be­ti­ker – wie viele, ist ein Geheim­nis. Die Kran­ken­kas­sen gehen von 300.000 aus, fragt man die Bevöl­ke­rung, sind es 430.000, das Minis­te­rium gibt 500.000 und die Selbst­hilfe (ÖDV) 600.000 an. Will man wis­sen, wie gut Dia­be­ti­ker ver­sorgt (das ist nicht mit behan­delt gleich­zu­set­zen – ver­sorgt wer­den alle, behan­delt jeder ein­zelne!) sind, ist die Prä­va­lenz ein wich­ti­ger Para­me­ter. Wird die Zahl unter­schätzt, ergibt sich auto­ma­tisch eine gute, wird sie über­schätzt, eine schlechte Ver­sor­gung. So ist zu ver­ste­hen, dass sei­tens der Selbst­hilfe die Prä­va­lenz so hoch, sei­tens der Kas­sen so nied­rig ange­se­hen wird.

Ver­sor­gung

Wir wis­sen nicht, wie Dia­be­ti­ker ver­sorgt sind: also, wie viele erblin­den, wie vie­len wer­den Füße ampu­tiert, wie viele müs­sen an die Dia­lyse … . Es gibt prak­tisch keine Daten dazu, nur Emi­nenz-basierte Aus­sa­gen. Das ist nicht neu. Diese Pro­bleme wur­den schon 2005 im Dia­be­tes­plan ange­spro­chen und auch Lösun­gen (u.a. Regis­ter) emp­foh­len – umge­setzt wurde eigent­lich nichts. Man­gels Regis­ter blei­ben so auch heute nur zwei Daten­sätze übrig, die Hin­weise über die Ver­sor­gungs­si­tua­tion der Dia­be­ti­ker geben kön­nen: die Mor­ta­li­täts­da­ten­bank und die Spi­tals­sta­tis­tik – und beide zei­gen wie seit Jah­ren Verbesserungspotential.

Bun­des-Ziel-Steue­rungs­ver­trag

Völ­lig an der Idee der Reform vor­bei wäre es, wenn erst Regis­ter geschaf­fen wer­den müs­sen, um mess­bare Ver­sor­gungs­ziele zu defi­nie­ren. Anders aus­ge­drückt, kön­nen die bis 30. Juni 2013 im soge­nann­ten Bun­des-Ziel-Steue­rungs­ver­trag zu beschlie­ßen­den Ziele nicht darin bestehen, zuerst Regis­ter zu errich­ten und dann die Ver­sor­gung zu ver­bes­sern. Es gilt, prag­ma­ti­sche Ziele fest­zu­le­gen, die den Dia­be­ti­kern hel­fen – nicht den Büro­kra­ten! Und da die Ziele ohne­hin an inter­na­tio­na­ler Ver­gleich­bar­keit ori­en­tiert sein sol­len, ist es mög­lich, diese am OECD-Ergeb­nis­pa­ra­me­ter für die Ver­sor­gung von Dia­be­ti­kern aus­zu­rich­ten. Das könnte so aus­se­hen:

Bun­des­ziele „Ver­bes­se­rung der Ver­sor­gung von Diabetes-Patienten“:

  • Sen­ken der Spi­tals­auf­ent­halte von Dia­be­ti­kern wegen kurz- und lang­fris­ti­ger Kom­pli­ka­tio­nen ent­spre­chend den OECD-Defi­ni­tio­nen bis 2016 auf 110 pro 100.000 Ein­woh­ner. Die Reduk­tion soll pri­mär durch Ver­mei­dung von kurz­fris­ti­gen, und in wei­te­rer Folge von lang­fris­ti­gen Kom­pli­ka­tio­nen erfolgen.
  • Für jede der 32 Ver­sor­gungs­re­gio­nen sind Sta­tis­ti­ken über ent­spre­chende Spi­tals­auf­ent­halte zu publizieren. 
  • Es ist eine Home­page ein­zu­rich­ten, die inter­na­tio­nal erprobte ambu­lante Ver­sor­gungs­kon­zepte (zum Bei­spiel aus Finn­land, UK, Bel­gien …) so auf­be­rei­tet, dass in den Ver­sor­gungs­re­gio­nen ent­spre­chend der spe­zi­fi­schen Beson­der­hei­ten Kon­zepte aus­ge­wählt und ange­passt wer­den kön­nen. Zudem ist eine Bera­tungs­stelle vor­zu­hal­ten, die zu Ver­sor­gungs­fra­gen aus den Ver­sor­gungs­re­gio­nen eine Lite­ra­tur­re­cher­che durch­führt und einen „Kurz-HTA-Bericht“ erstellt.

Lan­des-Ziel­steue­rungs­ver­trag

Die­ses Bun­des­ziel muss nun dezen­tral kon­kre­ti­siert wer­den. Lei­der gibt es (noch) keine regio­na­len Sta­tis­ti­ken nach den OECD-Defi­ni­tio­nen, also sind wir auf offi­zi­elle Ent­las­sungs­sta­tis­ti­ken ange­wie­sen. Diese Spi­tals­häu­fig­keit ist kein guter aber ein brauch­ba­rer Para­me­ter, um zu zei­gen, wie inho­mo­gen die Dia­be­ti­ker-Ver­sor­gung ist (ein völ­lig nor­ma­ler Befund, wie man zum Bei­spiel in Finn­land sieht). Prak­tisch jedes Bun­des­land muss eigene Ziele und Maß­nah­men set­zen, da die Aus­gangs­po­si­tion über­all anders ist.

Wie wich­tig es ist, auf die regio­na­len Beson­der­hei­ten Rück­sicht zu neh­men, sieht man am Dia­be­tes-Pro­gramm „The­ra­pie aktiv“: Fünf Jahre nach Beginn neh­men höchs­tens zehn Pro­zent aller Dia­be­ti­ker teil, und bei den Teil­neh­mern blei­ben die erziel­ten Ver­bes­se­run­gen weit hin­ter den Erwar­tun­gen. Der Grund ist schlicht die feh­lende Akzep­tanz die­ses von oben ver­ord­ne­ten Pro­gramms. Zen­trale, rigide Vor­ga­ben kön­nen, egal wie gut durch­dacht, mehr irri­tie­ren, als nüt­zen – das sagt schon die WHO. Nur wenn Ver­sor­gungs­kon­zepte an den Bedürf­nis­sen der Betrof­fe­nen (dazu gehö­ren auch Ärzte!) aus­ge­rich­tet sind, ist eine erfolg­ver­spre­chende Umset­zung zu erwar­ten. Kon­zepte müs­sen daher ent­we­der zen­tral über einen sehr lan­gen Zeit­raum vor­be­rei­tet oder eben dezen­tral ent­wor­fen wer­den – schnell und zen­tral geht gar nicht!

Mit der gesetz­lich vor­ge­ge­be­nen Zeit­achse 2016 ist daher klar, dass dezen­trale Ver­sor­gungs­kon­zepte – also in jeder der 32 Ver­sor­gungs­re­gio­nen eigene – umge­setzt wer­den müs­sen. Diese 32 Kon­zepte, in denen regio­nale Initia­ti­ven berück­sich­tigt wer­den, müs­sen detail­liert aus­ge­ar­bei­tet und in neun Lan­des-Ziel­steue­rungs­ver­trä­gen, abzu­schlie­ßen mit dem Bund am 30. Sep­tem­ber 2013, ein­ge­ar­bei­tet wer­den. Für Dia­be­ti­ker könnte ein Ziel so aussehen:

Lan­des­ziel für die Ver­sor­gungs­re­gion (zum Bei­spiel: 22: Kärn­ten-West: „Ver­bes­se­rung der Ver­sor­gung von Diabetes-Patienten“)

  • Reduk­tion der Spi­tals­auf­ent­halte von Dia­be­ti­kern wegen kurz- und lang­fris­ti­ger Kom­pli­ka­tio­nen durch Imple­men­tie­rung ambu­lan­ter Ver­sor­gungs­kon­zepte bis 2016 um X Prozent.
  • Die Ver­sor­gungs­kon­zepte ent­hal­ten Ziele und Maßnahmen, 
    • für die Hoch­ri­siko-Bevöl­ke­rung im Sinne der spe­zi­fi­schen Pri­mär­prä­ven­tion
      Maß­nah­men: … (wer, was, wann, wo, mit wel­chen Res­sour­cen)
      Ziele: … (wie wird gemessen)
    • für die Betreu­ung von Neu­erkrank­ten im Sinne der Kura­tion und Sekun­där­prä­ven­tion
      Maß­nah­men: …; Ziele: …
    • für die Betreu­ung bekann­ter Dia­be­ti­ker im Sinne der Kura­tion und Sekun­där- und Ter­ti­är­prä­ven­tion
      Maß­nah­men: …; Ziele: …
  • Die Ziele und Maß­nah­men sind evi­denz­ba­siert und ori­en­tie­ren sich an inter­na­tio­nal erprob­ten Vorbildern.

In der Dia­be­tes-Prä­ven­tion spielt der Haus­arzt die zen­trale Rolle. Aller­dings muss er dabei von Dia­be­tes-Schwes­tern, Diä­to­lo­gen, Phy­sio­the­ra­peu­ten, loka­len Selbst­hil­fe­grup­pen etc. unter­stützt wer­den. Im bes­ten Fall bil­den diese mit dem Haus­arzt ein Team. Neben der Kon­trolle der medi­zi­ni­schen Werte und der direk­ten Pati­en­ten­mo­ti­va­tion die (medi­ka­men­töse) The­ra­pie ein­zu­hal­ten, müs­sen vor allem Lebens­sti­län­de­rung und Selbst-Manage­ment geför­dert wer­den. Vom Aspekt der Ver­sor­gung sind sie ein wesent­li­cher Hebel, um für Pati­en­ten weni­ger Leid und das Sys­tem nied­ri­gere Behand­lungs­kos­ten her­bei­zu­füh­ren, sie sind effek­tiv und kos­ten­ef­fi­zi­ent. Aller­dings ist mit der Unter­stüt­zung zur Lebens­sti­län­de­rung und zum Selbst-Manage­ment der Haus­arzt allein defi­ni­tiv überfordert.

Ist mit lang­fris­ti­gen Kom­pli­ka­tio­nen zu rech­nen, müs­sen Pati­en­ten moti­viert wer­den, die vor­ge­schrie­be­nen Unter­su­chun­gen und The­ra­pien bei den diver­sen Fach­ärz­ten zu erhal­ten. Für fast alle Inter­ven­tio­nen ist die Kos­ten­ef­fi­zi­enz nach­ge­wie­sen, das Pro­blem ist „nur“, Pati­en­ten dazu zu brin­gen, sich den gefor­der­ten Inter­ven­tio­nen zu unter­zie­hen. Daher muss es ent­spre­chende Scree­ning- und Ver­sor­gungs­pro­gramme geben, die auch bedeu­ten kön­nen, dass in man­chen Regio­nen Fach­ärzte in die Haus­arz­tor­di­na­tion, oder auch zum Pati­en­ten nach Hause müs­sen, um die nöti­gen Inter­ven­tio­nen durchzuführen.

Jeden­falls ist klar, dass für jede Ver­sor­gungs­re­gion eigene Kon­zepte ent­wi­ckelt wer­den müs­sen – von Selbst­hil­fe­grup­pen über den Haus­arzt bis zum spe­zia­li­sier­ten Fach­arzt müs­sen Anlauf­stel­len (Best Point of Ser­vice) defi­niert wer­den, die aktu­elle Ver­sor­gungs-wirk­sam­keit der ambu­lan­ten Ein­rich­tun­gen ist zu durch­leuch­ten, um Defi­zite fest­zu­stel­len und dann auch aus­zu­glei­chen, die Leis­tungs­spek­tren müs­sen abge­stimmt wer­den, Fort­bil­dungs­kon­zepte für Ärzte und Pati­en­ten müs­sen ent­wor­fen wer­den, Betreu­ungs-kon­zepte wie zum Bei­spiel via e‑Health müs­sen ent­wi­ckelt und auch imple­men­tiert wer­den. Und damit alle Ein­rich­tun­gen so zusam­men­spie­len, dass der Pati­ent inte­griert ver­sorgt
und wirk­lich zum „Best Point of Ser­vice“ gelei­tet wird, müs­sen die Leis­tungs­an­reize abge­stimmt werden.

So könnte die Reform kon­kret aus­se­hen. Aber das ist sehr viel echte Arbeit, weit weg vom Gla­mour der „gro­ßen Poli­tik“. Ob unsere Ent­schei­dungs­trä­ger dafür bereit sind?

*) Dr. Ernest Pichl­bauer ist Gesundheitsökonom

Wei­tere Infor­ma­tio­nen unter:
www.rezeptblog.at

Hin­weis

Beim Exper­ten­fo­rum der ÖÄZ han­delt es sich um eine – in loser Folge erschei­nende – Platt­form, im Rah­men derer unab­hän­gige wis­sen­schaft­li­che Exper­tise über rele­vante The­men an die ärzt­li­che Öffent­lich­keit her­an­ge­tra­gen wird und die Dis­kus­sion dar­über ange­regt wer­den soll.

Die im Exper­ten­fo­rum dar­ge­leg­ten Ansich­ten und Schluss­fol­ge­run­gen müs­sen sich nicht mit der Mei­nung des Her­aus­ge­bers oder der Redak­tion decken.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 6 /​25.03.2013