Klinische Ernährung: Besser später als früher?

25.03.2013 | Medizin


Werden Intensivpatienten sehr früh sehr hohe Energiemengen verabreicht, liegen sie Studien zufolge länger auf der Intensivstation als solche, denen erst am achten Tag ergänzende Nährstoffe zugeführt werden.
Von Elisabeth Gerstendorfer

Derzeit gültige Meinung ist, bei Intensivpatienten möglichst früh nach einem aktuellen Ereignis – etwa bei einem Myokardinfarkt oder einer Sepsis – die volle Deckung des Nährstoffbedarfs zu erreichen. Aktuelle Ernährungsstudien aus Belgien und Israel zeigen, dass die Infektionsrate steigt, wenn schon früh mit hochdosierter enteraler oder parenteraler Ernährung begonnen wird. „Eine dritte Gruppe von Schweizer Autoren hat in Untersuchungen mit mehreren 100 Patienten herausgefunden, dass die Ergänzung der ungenügenden enteralen Ernährung mit parenteraler entsprechend dem Nährstoff- verbrauch ab dem dritten Tag günstig ist. Auch wenn es noch keine definitive Klärung für die alleinige Sonden-Ernährung gibt, wird man künftig etwas vorsichtiger mit der Menge der zugeführten Energie umgehen und auf Nebenwirkungen achten“, sagt Univ. Prof. Michael Hiesmayr von der Abteilung für Herz-, Thorax-, Gefäßchirurgische Anästhesie und Intensivmedizin an der Universitätsklinik für Anästhesie Wien und Präsident der Arbeitsgemeinschaft Klinische Ernährung.

Werden sehr früh sehr hohe Energiemengen verabreicht, liegen die Patienten laut Studien länger auf der Intensivstation als solche, denen erst am achten Tag ergänzende Nährstoffe zugeführt werden. Auswirkungen auf die Mortalität konnten dabei nicht festgestellt werden. Durch das Fehlen der Ernährung in den ersten beiden Tagen können aber auch Defizite auftreten. „Pro Tag verliert man etwa ein Viertel Kilogramm Muskulatur, wenn man nicht isst. Es gibt zahlreiche Studien, die zeigen, dass dieser Verlust an Körpersubstanz das Risiko für Infektionen erhöht“, so Hiesmayr. Eine mögliche Lösung für diese kontroversen Befunde könnte das Ergebnis einer der drei Studien sein, wonach in der Frühphase pro Tag eine geringe enterale Menge (circa 250 bis 500 ml einer Nährstofflösung) ausreiche, um die Darmfunktion zu erhalten. „Künstliche Ernährung ist durch diese Expertenmeinungen wieder spannend geworden“, meint Hiesmayr.

Ernährung überwachen

Neben künstlicher Ernährung ist die Mangelernährungsprophylaxe und Mangelernährungs- therapie zentrale Aufgabe der klinischen Ernährung. So kommt es beispielsweise häufig nach bariatrischen Operationen zu mangelhafter Ernährung – ein Problem, das im Steigen begriffen ist. Mit chirurgischen Verfahren wie dem Einsetzen eines Magenbands, dem Magenbypass oder der biliopankreatischen Diversion wird bei krankhaft Übergewichtigen, bei denen übliche Maßnahmen zur Gewichtsreduktion nicht erfolgreich waren, die Nahrungszufuhr begrenzt – sie können nicht mehr so viel zu sich nehmen und verlieren an Gewicht. „Die Patienten freuen sich natürlich, wenn sie abnehmen. Der Gewichtsverlust muss aber qualitativ richtig sein. Mit der Operation allein ist es nicht getan“, betont Hiesmayr. Ohne spezifische Überwachung kann es zu Mangelzuständen kommen, sehr häufig ist etwa ein Defizit an Vitaminen. Viel zu oft verlieren die Patienten durch eine mangelhafte Ernährung auchan Muskelmasse statt an Fett – vor allem dann, wenn viele Kohlenhydrate und wenig Proteine zugeführt werden. Um die Komplikationen von Defiziten zu vermeiden, muss die Ernährung nach der Operation weiterverfolgt werden wie etwa durch Impedanz-Messungen der Körperzusammensetzung. Hiesmayr: „Zwar werden bariatrische Patienten meist über Spezialambulanzen betreut. Es braucht aber auch längerdauernde Beratung im niedergelassenen Bereich, um eine sichere Gewichts- reduktion zu gewährleisten.“

Auch im Bereich der Nahrungsmittelallergien und Nahrungsmittelunverträglichkeiten ist die Allgemeinmedizin gefragt. „Viele Patienten unterscheiden nicht zwischen Intoleranz und Allergie. Das kann dazu führen, dass Menschen im Glauben, eine lebensgefährliche Allergie zu haben, zu viele Nahrungsmittel vermeiden und in ihrer Ernährung eingeschränkt werden“, erklärt Hiesmayr. Die sehr häufig vorkommende Laktose-Intoleranz ist dadurch gekennzeichnet, dass der aufgenommene Milchzucker als Folge fehlender oder verminderter Produktion des Enzyms Laktase nicht verdaut werden kann, sondern von Bakterien im Darm vergoren wird. Ob und wann Beschwerden auftreten, hängt aber von der zugeführten Menge des Nahrungsmittels ab – sie ist individuell unterschiedlich und kann über Tests bestimmt werden.

Der einfachste Test, ob eine Laktose-Intoleranz vorliegt, erfolgt über den Nachweis von Wasserstoff in der Ausatemluft, der bei der bakteriellen Aufarbeitung der Laktose im Dickdarm entsteht. „Viele, die im H2-Atemtest positiv sind, haben gar keine Befindlichkeits- störungen. Nach dem Test erhalten sie aber das ,Etikett‘ der Unverträglichkeit, was zu nicht unbedingt notwendigen Einschränkungen in der Ernährung führen kann“, so Hiesmayr. Das Testen auf Unverträglichkeiten sowie ein Verzicht auf bestimmte Nahrungsmittel sollten daher nur bei Beschwerden und mit entsprechender Ernährungsberatung erfolgen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 6 / 25.03.2013