Suizid im Kindes- und Jugendalter: An zweiter Stelle der Todesursachen

25.01.2013 | Medizin

Der Suizid zählt im Kindes- und Jugendalter zu den häufigsten Todesursachen. So hat etwa jeder fünfte Jugendliche Suizidgedanken. Derzeit wird auch in Österreich eine breit angelegte Präventionsstrategie namens SUPRA – Suizidprävention Austria – etabliert.

Der Suizid gilt weltweit als eine der häufigsten Todesursachen: Jedes Jahr stirbt etwa eine Million Menschen auf diese Weise. In Österreich übersteigt die Anzahl der Suizide jene der Verkehrstoten um mehr als das Doppelte. Das Risiko für die Entstehung von Suizidgedanken steigt während der Adoleszenz an und stabilisiert sich im mittleren Lebensabschnitt. „Die häufigste Todesursache bei Kindern ist in der Regel der Unfall. In den jungen Altersgruppen folgt dann schon der Suizid als zweite Todesursache“, erklärt Ass. Prof. Nestor Kapusta, Facharzt für Psychiatrie und Leiter der ‚Suicide Research Group‘ der Klinik für Psychoanalyse und Psychotherapie an der Medizinischen Universität Wien.

Die Inzidenz von Suizidversuchen erreicht einen Höhepunkt im Alter zwischen 14 und 24 Jahren. In diesem Lebensabschnitt werden die Prävalenzraten für Suizidversuche Länderübergreifend mit drei bis neun Prozent angegeben. Die Prävalenz für suizidale Absichten liegt sogar bei 20 bis 25 Prozent. Das heißt: Etwa jeder fünfte Jugendliche hat Suizidgedanken. Kinder unter zehn Jahren entwickeln zwar ebenfalls suizidale Gedanken, setzen diese aber nur sehr selten in die Tat um. Die jährlichen Suizidraten bei den Fünfbis 14-Jährigen liegen weltweit unter einem Prozent.

In Österreich wurden im vergangenen Jahr 33 Suizide von Kindern und Jugendlichen verzeichnet. „Es gibt zwar in einigen Ländern einen leichten Anstieg von Suiziden im Kindes- und Jugendalter, aber für Österreich trifft das nicht zu“, so Kapusta. In den letzten drei Jahren wurden in Österreich die wenigsten Kinderund Jugendlichen-Suizide seit mehr als 40 Jahren verzeichnet. Laut Kapusta lässt sich allerdings derzeit nicht empirisch belegen, worauf der Rückgang zurückzuführen ist. Dennoch weist laut einem OECD-Bericht Österreich nach Neuseeland, Finnland, Norwegen, Kanada und Irland die höchste Suizidrate bei den 15- bis 19-Jährigen auf.

Das Risiko für selbstschädigendes Verhalten und Suizid wird durch eine familiäre Belastung sowie psychische, soziale und kulturelle Faktoren bestimmt. Gut dokumentiert ist der Zusammenhang von Suiziden und psychischen Erkrankungen. Kapusta nennt hier beispielsweise depressive Erkrankungen und Anorexie. „Allgemein kann gesagt werden, dass jede Form der psychischen Erkrankung mit einem erhöhten Suizidrisiko einhergeht“, so der Experte. Außerdem erhöhen akute Belastungssituationen das Suizidrisiko. Hierbei sind bei Jugendlichen vor allem schulische Anforderungen, Partnerschaftskonflikte, familiäre Zerrüttung, Finanznöte oder Reaktionen auf autoritären Erziehungsstil zu nennen. Soziale Ausgrenzung und direkte oder indirekte Konfrontation mit suizidalem Verhalten bei anderen Personen können ebenfalls zu einem erhöhten Risiko führen. Zunehmend stellt auch das Internet einen Risikofaktor dar, da Informationen zu Suizidmethoden und Suizidmitteln für Kinder und Jugendliche leichter verfügbar sind. „Es werden sogar Verabredungen zum sogenannten Cybersuicide möglich“, so Kapusta. ‚Cybersuicide‘ beschreibt einen Suizidpakt zwischen Personen, die sich im Internet treffen.

Warnsignale häufig missachtet

Den meisten Suiziden gehen Warnsignale voraus, denen meist zu wenig Beachtung geschenkt wird. Kindern und Jugendlichen fehlt häufig die Fähigkeit, ihr Leid zu beschreiben und sie scheuen sich davor, sich an Erwachsene zu wenden. Anstatt sich zu öffnen, zeigen sie Symptome wie Aufsässigkeit, Interessenlosigkeit, Antriebsminderung oder Zurückgezogenheit, die von der Umgebung falsch gedeutet werden. Beschwerden auf somatischer Ebene können ebenfalls für psychische Erkrankungen und somit für erhöhte Suizidgefahr sprechen. „Bei Mädchen sind das oft Unterbauchbeschwerden. Bei Burschen können es Atemnotbeschwerden oder Asthma-artige Zustände sein“, erklärt Kapusta.

Erkennt der Hausarzt oder Pädiater eine Suizidgefährdung, ist eine Aufklärung der Eltern und infolge eine Zusammenarbeit mit Fachärzten wesentlich. „Zunächst muss eine Beziehung zu dem Kind oder Jugendlichen aufgebaut und Vertrauen hergestellt werden. Nach der psychosozialen Anamnese sollte der Verweis an einen Kinder- und Jugendpsychotherapeuten oder einen Kinder- und Jugendpsychiater folgen“, rät
der Experte.

Als problematisch sieht Kapusta es an, dass es in Österreich wenig Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche mit psychischen Problemen gibt. „Es ist ein berufspolitisches Problem, dass es viel zu wenig Kinder- und Jugendpsychiater gibt. Die Refundierung der kinder- und jugendpsychiatrischen Leistungen durch Kassen kommt erst langsam in Gang“, klagt Kapusta. ‚Die Boje‘, das Ambulatorium für Kinder und Jugendliche in Krisensituationen und die Ambulanz für Kinderund Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik Wien können derzeit Hilfestellung in Akutsituationen bieten.

Derzeit arbeitet Kapusta mit Kollegen aus Deutschland an einer Leitlinie zum Umgang mit Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen, die von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) in Auftrag gegeben wurde. Diese Evidenzbasierte Leitlinie wird 2013 verfügbar sein. Sie soll zur Aufklärung beitragen und den niedergelassenen Ärzten die Erkennung und Behandlung suizidaler Kinder und Jugendlicher erleichtern.

Ansätze zur Suizidprävention

Studien zufolge haben 90 Prozent aller Kinder und Jugendlichen, die Suizid begangen haben, an einer psychischen Erkrankung gelitten. Nur weniger als die Hälfte erhielt jedoch vor dem Suizid eine entsprechende Betreuung. Allein dieser Umstand macht die Notwendigkeit breit angelegter Präventionsstrategien deutlich. Speziell die Früherkennung und die effektive Behandlung psychischer Erkrankungen stellen wesentliche Maßnahmen in der Suizidprävention bei Kindern und Jugendlichen dar.

Es gab zwar bisher viele Suizid-präventive Aktivitäten in Österreich, diese waren aber häufig lokal begrenzt und wenig koordiniert. Das soll sich künftig ändern. Mit dem Jahr 2012 erhielt Österreich ganz nach internationalem Vorbild einen politisch wirksamen bundesweiten Suizidpräventionsplan, genannt ‚Suizidprävention Austria (SUPRA)‘. „Es ist an der Zeit, präventive Interventionen und Ressourcen auf einer höheren Ebene zu bündeln“, so Kapusta, der als Mitglied des Expertenbeirats des Bundesministeriums für Gesundheit an der Umsetzung von SUPRA beteiligt ist. Die ersten Projekte zur Suizidprävention im Kindes- und Jugendalter sind bereits geplant. „Prävention im Kinder- und Jugendbereich ist am ehesten über die Schulen zu bewerkstelligen“, erklärt der Experte. Im Rahmen von Schulprojekten soll das Vertrauen von Kindern und Jugendlichen gestärkt und das Hilfesuchverhalten gefördert werden. „Ein Projekt zielt beispielsweise darauf ab, den Schülern Kriseninterventions-Skills zu vermitteln, damit sie sich gegenseitig helfen können. Dazu gehört zwingend, dass sie dieHilfe von Erwachsenen und Experten einbeziehen. Studien belegen nämlich, dass die erste Anlaufstelle in Krisen nicht Profis oder Eltern, sondern Mitschüler sind. Wenn die wüssten was zu tun ist, wäre ein wichtiger Schritt getan“, so Kapusta. Ein wesentliches Problem sieht der Psychiater darin, dass viele Suizid-Ankündigungen nicht ernst genommen und übergangen werden. SUPRA soll helfen, dass Kinder und Jugendliche mit erhöhtem Suizidrisiko künftig besser identifiziert werden, Ansprechpartner für ihre Probleme finden und eine präventive Behandlung rechtzeitig eingeleitet werden kann.

‚STOP Suicide‘

Im Rahmen der Behandlung von suizidalen Patienten ist eine regelmäßige Evaluation des Suizidrisikos von großer Bedeutung, um als behandelnder Arzt rechtzeitig intervenieren zu können. Vor diesem Hintergrund erarbeitete ein Konsortium von Kinder- und Jugendpsychiatern aus ganz Europa ein EU-finanziertes Projekt zur besseren Evaluierung des Suizidrisikos bei jungen Patienten. Das sogenannte STOP-Projekt (Suicidality: Treatment Occurring in Paediatrics) wurde im Rahmen des 25. Kongresses des European College of Neuropsychopharmacology (ECNP) im Oktober 2012 in Wien vorgestellt.

Parameter zur Messung von Suizidalität werden in einen so genannten ‚Health Tracker‘, ein Internet-basiertes Multimedia-Gesundheitsmonitoring-System, aufgenommen. In der Praxis heißt das, dass Suizid-gefährdete Kinder und Jugendliche regelmäßig via Internet Fragen zu ihrem Zustand beantworten; diese Fragen sind auf das Alter und das Geschlecht abgestimmt. Im Sinn einer frühzeitigen Intervention werden entsprechende Warnsysteme etabliert und Ärzte werden rechtzeitig über ein erhöhtes Suizidrisiko informiert. Das STOPProjekt wird derzeit in einem Pilotversuch in Großbritannien erprobt.

Laut Kapusta entspricht das STOPProjekt dem Hilfesuchbedürfnis von jungen Menschen im Zeitalter neuer Medien. Auf die Frage, an wen sie sich bei suizidalen Gedanken wenden würden, geben Jugendliche an, dass ihnen eine anonyme Möglichkeit des Austausches im Internet am liebsten wäre. Es bleibt aber noch offen, wie der Übergang zu einem realen Erstkontakt zu einem Experten gestaltet werden kann. „Die Forschung steckt hier noch in den Kinderschuhen“, so Kapusta.
VU

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 1-2 / 25.01.2013