Interview – Univ. Prof. Richard Greil: „Systemerkrankung“ Krebs

10.11.2013 | Medizin

Warum onkologische Rehabilitation viel mehr ist als nur Rezidiv-Bekämpfung, erklärt Univ. Prof. Richard Greil, Vorstand der Universitätsklinik für Innere Medizin III am Landeskrankenhaus Salzburg und designierter ärztlicher Leiter des Onkologischen Rehabilitationszentrums St. Veit im Gespräch mit Barbara Wakolbinger.

ÖÄZ: Wie sehen denn die Gegenwart und die Zukunft der onkologischen Rehabilitation aus?
Greil: Die onkologische Rehabilitation ist in Österreich etwas relativ Neues. Das ist eine Entwicklung weg von der organspezifischen Rehabilitation hin zu einem Verständnis von Krebs als Systemerkrankung des Menschen und auch als Systemerkrankung des Menschen in der Gesellschaft. Dazu muss man begreifen, wie sich eine Krebserkrankung auf den Menschen auswirkt. Krebserkrankungen sind häufig mit einem sozioökonomischen Abstieg verbunden, weil viele Menschen aus der aktiven Leistung und dem Berufsleben aussteigen oder auch aussteigen müssen, weil sie Diskriminierung erfahren. Eine Erkrankung ist mit beträchtlichen Kosten verbunden, etwa wenn jemand aus der Familie die Pflege übernehmen muss. Die Patienten haben zudem in einem hohen Ausmaß Angstgefühle: einerseits Rückfallangst, aber andererseits auch große Angst im Hinblick auf ihre Zukunft. Das sind langfristige Effekte, die nicht nur einmal auftreten, sondern grundsätzlich die Position eines Menschen in der Gesellschaft erschüttern. Auch das Familien-, Partner- und Sexualleben sind stark betroffen. Dies beeinträchtigt Selbstbild und Selbstsicherheit und erhöht die Vulnerabilität.

Was muss also das Ziel sein?
Wichtig ist, dass Menschen mit einer Krebserkrankung in einem immer besseren Allgemeinzustand immer stärker in die Gesellschaft eingebunden werden können. Krebs ist die Erkrankung, die den höchsten Verlust an vorzeitigen Lebensjahren und Produktivität in einer Gesellschaft mit sich bringt.

Wie erreicht man das? Wo liegt der Schwerpunkt der modernen onkologischen Rehabilitation?
Die Schwerpunkte muss man sehr individualspezifisch  festlegen. Rehabilitation ist kein Leistungspaket, das pauschal für jeden gleich zur Anwendung kommen kann. Es müssen die individuellen Probleme diagnostiziert und die Rehabilitationsleistungen priorisiert werden. Bei einem Patienten wird ein Schwerpunkt eine gravierende psycho-onkologische Störung sein, beim zweiten eine organische Störung und beim dritten vielleicht eine bereits bestehende partnerschaftliche Funktionsstörung, zu der dann noch die Symptome der Krebserkrankung und die Therapieauswirkungen auf das partnerschaftliche und Sexualleben kommen. Ein vierter Patient kann etwa großes Übergewicht haben, das ihn für einen Rückfall, sekundäre kardiovaskuläre Probleme oder ähnliches prädestiniert. Das muss man individuell nach den Bedürfnissen des Patienten und gewissen Vortest-Wahrscheinlichkeiten festlegen. Genau das ist das Kennzeichen einer vernünftigen und wissenschaftlich orientierten onkologischen Rehabilitation.

Warum war die Rehabilitation bis jetzt in Österreich eher auf die einzelnen Disziplinen aufgeteilt?
Bis vor kurzem hat es in Österreich eine onkologische Rehabilitation in einer remunerierten Form gar nicht gegeben. Sondern die ‚Rehabilitation‘ ist als symptomorientierte Therapie im Rahmen der onkologischen Behandlung angeboten worden oder eben nicht – je nachdem, wie sensibel und motiviert die einzelnen Onkologen und medizinischen Einrichtungen waren. Vor allem aufgrund der Erkenntnis, dass die Auswirkungen einer Krebserkrankung extrem langfristig und systemisch sind, geht man nun dazu über, andere Aspekte in die Rehabilitation einzubinden. Dadurch kann beträchtlich gewonnen werden: Nicht nur in Bezug auf das Lebensqualitätsgefühl und die Funktionsfähigkeit des Menschen in der Gesellschaft, sondern auch im Hinblick auf ökonomische Aspekte wie Verhinderung von beruflichem Rückzug, Vermeidung von Früh- und Invaliditätspension teilweise auch schon in sehr jungen Jahren und Vermeidung oder langfristige Postposition von Pflegebedürftigkeit. In diesem Kontext sind die Kosten für onkologische Rehabilitation nicht nur aus menschlicher Perspektive, sondern auch aus Sicht der Gesellschaft sehr gut angelegt.

Ist das international schon Standard? Ist man da einen Schritt voraus?
In anderen Ländern, beispielsweise in Deutschland, wird onkologische Rehabilitation fast flächendeckend angeboten. Ich glaube aber nicht, dass es ein Fehler ist, dass wir es in Österreich erst jetzt in vollem Umfang beginnen. Vor allem, da wir es sehr viel koordinierter und genauso evidenzbasiert wie in der Akutmedizin angehen wollen.

Krebserkrankungen gehören zu den häufigsten Todesursachen. Wie sehen die aktuellsten Inzidenzen aus?
Älterwerden ist einer der wichtigsten Risikofaktoren für Krebs. Das mediane Erkrankungsalter liegt bei 60 bis 65 Jahren. Ab dem 40. Lebensjahr steigt die Inzidenz bei den meisten Tumoren exponentiell an. Die Menschen werden zunehmend älter. Man kann also davon ausgehen, dass sich die absolute Zahl der Neuerkrankungen nach oben entwickelt. Im internationalen Vergleich kann man damit rechnen, dass jeder zweite Mann und jede dritte Frau im Laufe ihres Lebens an Krebs erkranken wird. Derzeit stirbt etwa jeder vierte Mann und jede fünfte Frau an einer Krebserkrankung. Berechnungen aus den USA lassen eine Beinahe-Verdoppelung der Prävalenz zwischen 2005 und 2020 für Männer und circa 69 Prozent Zunahme für Frauen erwarten. Dieser Anstieg wird vor allem durch die immer besseren Behandlungs- und Heilungserfolge bedingt. Pro Zeiteinheit sind immer mehr Menschen mit einer Krebserkrankung am Leben: Krebs wird häufiger zu einer chronischen Erkrankung werden.

Und in Österreich?
Auch in Österreich wird es sicherlich eine starke Zunahme der Prävalenz geben. Die konkreten Zahlen für Österreich werden derzeit im Onkologiebeirat beziehungsweise durch die Statistik Austria erarbeitet und sollen dann auch Basis einer gezielten Entwicklung des Nationalen Krebsplans sein. In den Szenarien kann man allerdings den medizinischen Fortschritt in einem derart forschungsaktiven Bereich wie der Onkologie nur schwer vorhersagen. In den USA betrug die Abnahme der jährlichen Krebsmortalität zwischen 1995 bis 2000 ungefähr 0,8 Prozent. Sie sank danach um 1,6 bis 1,8 Prozent pro Jahr.

Gibt es auch prädiktive Tools für den Erfolg von Rehabilitation?
Heute kann man vorwiegend den Bedarf feststellen. Für die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs einer Rehabilitation gibt es derzeit wenig validierte Messinstrumente. Genau das ist ein Punkt, den wir im neuen Rehabilitationszentrum St. Veit stark etablieren wollen. Besonders wichtig ist das bei Lebensstilmaßnahmen, die oft nur schwer umzusetzen sind: Welche Maßnahmen sind prädiktiv für das positive oder negative Erreichen eines Rehabilitationszieles? Risiko-adaptierte Rehabilitation wird in Zukunft im Vordergrund stehen. Die Rehabilitation in einer Sonderkrankenanstalt wie in Salzburg wird, und das ist unser besonderes Konzept, mittels eines onkologischen Rehabilitationspasses in eine kontinuierliche ‚Langzeitrehabilitation‘ einzubetten sein, die nachhaltige Problemlösung und Lebensstiländerung garantieren soll, wo dies nötig und sinnvoll ist.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 21 / 10.11.2013