Interview – Univ. Prof. Johann Kinzl: Adipositas: Sensibilisieren, nicht beschämen

15.12.2013 | Medizin

Der Arzt muss einen Adipösen sensibilisieren, ohne zu beschämen. Die Aussage ‚Sie sind zu dick‘ ist für den Patienten keine Neuheit, sondern eine Beschämung, erklärt Univ. Prof. Johann Kinzl vom Department für Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Universität Innsbruck. Das Gespräch führte Barbara Wakolbinger.


ÖÄZ: Was bedeutet Adipositas für die betroffenen Patienten?

Kinzl: Ganz wichtig ist es, Adipositas nicht nur als Essstörung, sondern eigentlich als typische sozio-psychosomatische Erkrankung zu sehen, bei der soziale, psychische und körperliche Faktoren in einer sehr komplexen und individuell unterschiedlichen Weise zusammenwirken. Es ist weder eine rein körperliche noch eine rein psychische Erkrankung. Betrachtet man nur die Essgewohnheiten, wird man der Adipositas auch nicht gerecht, denn es gibt doch deutliche Hinweise auf die genetische Bereitschaft des Körpers zum Übergewicht. Bekannte Zwillingsuntersuchungen, bei denen eineiige Zwillinge in unterschiedlichen Familien aufgewachsen sind, zeigen, dass dem genetischen Faktor als Ursache mindestens 30 Prozent zukommen. Wenn jemand eine genetische Veranlagung hat, braucht er gar keine große Essstörung, um eine Adipositas zu entwickeln. Habe ich die Neigung, muss ich relativ früh relativ viel tun, um der Genetik und dem Körper entgegenzuwirken.

Gibt es außer der genetischen Veranlagung auch weitere Risikogruppen?
Wir haben ein besonderes Problem in gewissen sozioökonomischen Schichten. Vor allem in der sozialen Unterschicht ist das Risiko für Übergewicht deutlich erhöht. Das hat viele Gründe – unter anderen aber jenen, dass Gesundheitsverhalten in bestimmten Schichten keinen hohen Wert darstellt. Während Gesundheit vor allem in der gehobenen Mittelschicht und dort vor allem bei Frauen eine riesige Rolle spielt, trifft das in der Unterschicht kaum zu. Da treten ganz andere Dinge in den Vordergrund. Adipositas wird in diesem Umfeld auch recht gut toleriert und kaum diskriminiert. Das ist einerseits natürlich gut, allerdings bedeutet das auch kaum Anreize, etwas zu verändern. Natürlich findet man bei Adipösen auch gehäuft gestörtes Essverhalten von der ‚Binge Eating-Störung‘ über die ‚Over Eaters‘ bis hin zu den ‚Emotional Eaters‘.

Essverhalten wird bereits im Kleinkindalter von den Eltern erlernt. Wie schwierig ist es, im Erwachsenenalter noch eine Veränderung herbeizuführen?
Relativ schwierig. Ernährung ist eine der Gewohnheiten, die sehr stark ins spätere Leben mitgenommen werden. Besonders schlechte Ernährungsgewohnheiten sind oft schwer abzulegen. Man braucht meist einen massiven Auslöser, um zu erkennen, so kann es nicht mehr weitergehen. Sei es nun, weil man in seiner Funktionalität eingeschränkt ist oder diskriminiert wird. Die Unzufriedenheit, also die Differenz zwischen Soll-Zustand und Ist-Zustand, muss relativ groß sein, damit jemand bereit ist, etwas zu verändern. Die Entscheidung fällt zwischen zwei Übeln: Die Adipositas mit all ihren Konsequenzen in Kauf zu nehmen oder sein Leben zu verändern. Und Veränderung macht den Menschen häufig Angst und verunsichert sie.

Welche Faktoren gibt es noch, die das Essverhalten beeinflussen können?

Neben den vielen genetischen Einflussfaktoren spielen natürlich auch die Umgebung, die Lebenssituation und die gesamte seelische Befindlichkeit eine große Rolle. Gestörtes Essverhalten tritt meist nicht über den Tag verteilt auf, sondern zeigt sich speziell am Abend. Warum am Abend? Weil am Abend bestimmte narzisstische Bedürfnisse stärker werden. Bei Traurigkeit oder Einsamkeit ist die Gefahr groß, dass die Menschen zu essen beginnen. Die narzisstischen Bedürfnisse sind vor allem bei Langeweile stark vernachlässigt, sie gilt deshalb als einer der stärksten Auslöser für vermehrtes Essen. Eigentlich besteht eine Unterforderung, die aber gleichzeitig eine massive Überforderung ist. Besonders deutlich zeigt sich dieses Schema am ‚Night-Eating-Syndrom‘, bei dem die Menschen mehr als die Hälfte ihrer Nahrung nach dem Abendessen zu sich nehmen.

Man versucht Essen also zu nutzen, um Emotionen wie etwa Langeweile oder Einsamkeit zu unterdrücken. Funktioniert das?
Das funktioniert relativ gut. Vor allem, wenn jemand wenig Muster zur Bewältigung zur Verfügung hat und Essen eines dieser wenigen ist. Die Lösung des Problems kann aber mit Adipositas zum Problem werden. In der Therapie ist das ganz wichtig. Wenn man sieht, dass Essen genutzt wird, um Befindlichkeiten zu regulieren, gilt der Grundsatz: Man darf einem Menschen nichts wegnehmen, ohne ihm dafür auch etwas anzubieten. Was tritt an die Stelle des Essens? Man muss andere Strategien entwickeln.

Stress gilt häufig als Risikofaktor für ein gestörtes Ernährungsverhalten.

Das gilt vor allem für unangenehme Stressoren wie etwa Probleme am Arbeitsplatz, Armut oder Mobbing, die Essverhalten sehr stark begünstigen. Auch bestimmte Persönlichkeitsstrukturen sind stärker gefährdet, Essstörungen zu entwickeln. Ebenso sind Menschen, die allein leben, stärker gefährdet. Es ist eine große Bandbreite an sozialen, psychischen und psychosozialen Faktoren, die einen Beitrag dazu leisten, dass jemand in ein gestörtes Essverhalten hineinrutscht oder nicht mehr herauskommt.

Wie kann ungesundem Essverhalten vorgebeugt werden? Gibt es Präventionsmöglichkeiten?
Relativ wenige. Ideal ist natürlich, wenn ich einen Lebensstil leben kann, mit dem ich weitgehend im Einklang stehe. Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Je früher eine mögliche Störung erkannt wird, desto besser ist es. Vorbeugend helfen sicher körperliche Aktivität und ein gutes Stressmanagement. Das ist aber sehr unspezifisch. Eigentlich muss jeder Patient schauen, welche Lösung für ihn individuell die beste ist.

Inwiefern hat Adipositas auch mit einem gestörten Sättigungsgefühl zu tun?

Normalerweise sind Dinge wie Hunger, Appetit oder Sättigung sehr gut reguliert. Vor allem Kinder sind da eigentlich optimal ausgestattet. Ein Kind nimmt sich bei großem Hunger vielleicht eine große Portion, hört aber schlagartig zu essen auf, wenn die Sättigung eintritt. Erwachsene haben oft ganz andere Mechanismen entwickelt: Wir hören erst auf, wenn der Teller leer ist. Viele Menschen wissen nicht mehr, was Sättigung ist und wie viel Nahrung sie eigentlich brauchen – das zeigt sich sowohl bei Patienten mit einer Adipositas, aber auch Patienten mit einer Anorexia oder Bulimia nervosa. Auch durch zu kontrolliertes Essen ist die Gefahr groß, dass man die internen Regulationssysteme überfordert und außer Kraft setzt – das begünstigt Essstörungen. Wir kommen mit internen Regulationsmechanismen auf die Welt, die uns jedoch abtrainiert werden beziehungsweise die wir uns selbst abtrainieren. Natürlich muss ein Kind lernen, Mengen zu regulieren, aber Regeln wie ‘so lange sitzenbleiben zu müssen, bis aufgegessen wurde‘, arbeiten ganz stark gegen unsere internen Regulationsmechanismen. Sich diese Regulation wieder anzueignen, ist ein langer Lernprozess, der Wochen und Monate dauern kann.

Warum steigen nicht nur in Österreich, sondern weltweit die Zahlen der Adipositas-Erkrankungen?
Unsere genetische Ausstattung richtet sich vor allem gegen das Verhungern, gegen eine Gewichtszunahme ist der Körper nicht gut ausgestattet. Zusätzlich hat das Aktivitätsniveau in unserer Gesellschaft extrem abgenommen. Oft kann gar nicht mehr von Aktivität gesprochen werden. Die Dauer des täglichen Fernsehkonsums oder des Sitzens am Computer korreliert relativ gut mit der Adipositas. Da muss man früh ansetzen – mit vielen kleinen Teilaktionen etwa der Einführung einer gesunden Jause oder einer täglichen Turnstunde. Die Effekte der Schule können aber nur marginal sein, solange die Ernährung und Bewegung im Elternhaus nicht stimmt.

Wie verhalte ich mich als Arzt im Umgang mit adipösen Patienten?

Ich muss vor allem darauf achten, die Menschen nicht zu beschämen und dementsprechend rücksichtsvoll und vorsichtig vorgehen. Die Aussage ‚Sie sind zu dick‘ ist für den Patienten keine Neuheit, sondern eine Beschämung. Das führt nicht zu Lösungen, sondern zu Rückzugsverhalten und Isolation. Die Patienten kommen, weil sie Beschwerden haben oder geschickt werden, nicht weil sie abnehmen wollen. Sie befinden sich im Stadium der Absichtslosigkeit, direkte Appelle bringen zu diesem Zeitpunkt gar nichts. Man muss den Patienten langsam an die Problematik heranführen, etwa anhand von Untersuchungsergebnissen und gemeinsam über Essverhalten, körperliche Aktivitäten und Strategien nachdenken. Der Arzt muss sensibilisieren, ohne zu beschämen; Ziele sollten im Bereich des Möglichen und Erreichbaren gesetzt werden. Schon eine Bushaltestelle früher aussteigen kann ein Ziel sein, tägliches Laufen wäre Überforderung.

Ist diese Überforderung dann häufig auch der Grund für das Scheitern in der Umstellung von Gesundheitsverhalten?
Die Erwartungshaltung bestimmt auch den Erfolg. Oft nehmen sich Patienten Dinge vor, die nicht eingehalten werden können. Etwa: nie wieder Schokolade. Wenn sie dann einmal Schokolade essen, sind sie gescheitert. Oft verfällt der Patient dann in eine ‚Auch schon egal‘-Haltung. In der Psychotherapie hat sich eher die flexible Kontrolle bewährt: Es ist verboten, etwas zu verbieten. Stattdessen könnte man bestimmte Schokolademengen pro Woche festlegen, wann die gegessen werden, ist egal. Wenn die Patienten dann gar keine Schokolade weniger essen, weil sie es eh dürfen, umso besser.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 23-24 / 15.12.2013