Inter­view – Prof. Wolf­gang Hol­ter: Neue The­ra­pien mit Riesenpotential

25.09.2013 | Medizin

Drei von vier Kin­dern über­le­ben eine Krebs­er­kran­kung heute. Dass bei der The­ra­pie Revo­lu­tio­nen mög­lich sind, sagt Wolf­gang Hol­ter, Pro­fes­sor für Päd­ia­tri­sche Onko­lo­gie an der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Wien und Ärzt­li­cher Lei­ter des St. Anna Kin­der­spi­tals in Wien, im Gespräch mit Bar­bara Wakolbinger.

ÖÄZ: Bei der Krebs­the­ra­pie von Erwach­se­nen wird abseits der kon­ven­tio­nel­len Che­mo­the­ra­pie zuneh­mend auch auf neu­ar­tige Behand­lungs­for­men gesetzt. Wie sieht das bei Kin­dern aus?
Hol­ter: Hier gibt es inter­es­sante Ent­wick­lun­gen auf meh­re­ren Gebie­ten. Die kon­ven­tio­nelle Che­mo­the­ra­pie wird per­ma­nent adap­tiert. Ins­be­son­dere set­zen wir sie bei prak­tisch allen Erkran­kun­gen risi­ko­ad­ap­tiert ein, das heißt, der indi­vi­du­el­len Krank­heits­aus­prä­gung ange­passt. Bei Kin­dern, bei denen wir wäh­rend der The­ra­pie mes­sen kön­nen, dass sie sehr gut dar­auf anspre­chen, lau­fen Opti­mie­rungs­stu­dien zur Reduk­tion der Inten­si­tät der Behand­lung. Die­ser Pro­zess wird The­ra­pien ver­träg­li­cher machen. Soll­ten Kin­der im umge­kehr­ten Fall eine stär­kere The­ra­pie brau­chen, ver­su­chen wir, diese gezielt und früh­zei­tig zu inten­si­vie­ren. Zusätz­lich wer­den über­all dort neue Medi­ka­mente ent­wi­ckelt – bei­spiels­weise die soge­nann­ten „small mole­cu­les“ –, wo wir Krank­heits­me­cha­nis­men bes­ser ver­ste­hen. Hier wird die the­ra­peu­ti­sche Her­aus­for­de­rung darin bestehen, sol­che neuen Sub­stan­zen in Ver­schrän­kung mit der kon­ven­tio­nel­len Che­mo­the­ra­pie ein­zu­set­zen. Denn wir haben in der Onko­lo­gie gelernt, dass in vie­len Fäl­len eine The­ra­pie­mo­da­li­tät oder ein Che­mo­the­ra­peu­ti­kum alleine das Kind nicht heilt. Aber in der Kom­bi­na­tion der Che­mo­the­ra­peu­tika und in der Kom­bi­na­tion der Dis­zi­pli­nen – Chir­ur­gie, Strah­len­the­ra­pie, Che­mo­the­ra­pie – konn­ten wir Kon­zepte ent­wi­ckeln, die heute drei von vier Kin­dern dau­er­haft gesund machen. Die neuen The­ra­pie­prin­zi­pien in die­ses Kon­zert ein­zu­bauen, wird eine Her­aus­for­de­rung – aller­dings eine mit Riesenpotential.

Ihre For­schungs­tä­tig­keit beschäf­tigt sich vor allem mit Immun­the­ra­pie. Wel­che Fort­schritte sind hier zu erwar­ten?
Hier kom­men wir nach 20 bis 30 Jah­ren Grund­la­gen­for­schung auf meh­re­ren Gebie­ten in die Anwen­dung am Pati­en­ten und sehen bereits ver­ein­zelt ein­drucks­volle Ergeb­nisse. Eine Vari­ante ist die Anti­kör­per-basierte, also pas­sive Immun­the­ra­pie. Hier gibt es inzwi­schen Medi­ka­mente, die eine kli­ni­sche Zulas­sung haben. Wei­ter­ent­wick­lun­gen sol­cher Anti­kör­per-basier­ter Sub­stan­zen befin­den sich der­zeit noch im Zulassungsverfahren.

Wie sieht die Zukunft bei indi­vi­du­el­len The­ra­pie­an­sät­zen aus?
Die zweite große Schiene ist die adop­tive Zell­the­ra­pie, bei der Zel­len ver­ab­reicht wer­den, die etwas Beson­de­res kön­nen. Das ist ein auf­wän­di­ges, weil Pati­en­ten­in­di­vi­dua­li­sier­tes Ver­fah­ren, aber hoch­in­ter­es­sant, da man auch hier mit der unglaub­li­chen Potenz des Immun­sys­tems agiert. Wel­che Kraft das Immun­sys­tem hat, sieht man etwa bei Auto­im­mu­ni­tät oder All­er­gien und die­ses Poten­tial ver­su­chen wir gegen Tumore ein­zu­set­zen. Ein drit­ter Bereich der Immun­the­ra­pie ist der Ver­such, gegen Tumore zu imp­fen. Auch hier gibt es stän­dig neue Ent­wick­lun­gen, etwa im Ver­ständ­nis der Funk­tion Anti­gen-prä­sen­tie­ren­der Zel­len. Tumore tra­gen manch­mal rela­tiv spe­zi­fi­sche Anti­gene. Dage­gen kann man ver­su­chen, zu immu­ni­sie­ren. Auch das ist noch lange kein Rou­tin­ever­fah­ren, aber die Wirk­sam­keit die­ses Ansat­zes ist tier­ex­pe­ri­men­tell gut dar­stell­bar. In der kli­ni­schen Appli­ka­tion ist das Ver­fah­ren der­zeit in Erpro­bung. Ein wei­te­res Bei­spiel für die Fort­schritte der letz­ten Jahre auf dem Gebiet der ange­wand­ten Immun­the­ra­pie ist die Trans­plan­ta­tion von Blut-Stamm­zel­len. Die ver­bes­serte Spen­der­aus­wahl, Infek­ti­ons­kon­trolle und das ver­bes­serte Ver­ständ­nis der Immun­vor­gänge, die im Zuge einer Trans­plan­ta­tion auf­tre­ten, wie etwa die Absto­ßung oder die Graft­ver­sus-Host-Reak­tion, haben dazu bei­getra­gen, dass heute mehr Kin­der mit­tels einer Trans­plan­ta­tion über­le­ben und diese auch bes­ser steu­er­bar ist.

Spe­zi­ell ange­sichts der Über­le­bens­rate bei Kin­dern mit einem Kar­zi­nom hat sich in den letz­ten Jah­ren doch auch eini­ges getan?
Selbst­ver­ständ­lich. Bei man­chen Krank­heits­en­ti­tä­ten gibt es klare Ver­bes­se­run­gen. In man­chen Berei­chen sind die Erfolge schon so groß, dass wei­tere Ver­bes­se­run­gen nur noch klein­schrit­tig sind. In Sub­grup­pen von Leuk­ämie, bei denen es heute schon eine Hei­lungs­rate von bis zu 95 Pro­zent gibt, ist der Fort­schritt natür­lich nur noch in ganz klei­nen Schrit­ten zu erwar­ten. Es gibt aber nach wie vor Dia­gnose-Kon­stel­la­tio­nen oder der­art aus­ge­dehnte Mani­fes­ta­tio­nen bös­ar­ti­ger Erkran­kun­gen, dass man sich auch heute noch in einer schwie­ri­gen Situa­tion befin­det. Hier erhof­fen wir uns viel Ver­bes­se­rungs­po­ten­tial und ich bin auch über­zeugt, dass noch viel mög­lich ist.

Von wel­chen Kar­zi­no­men sind Kin­der beson­ders häu­fig betrof­fen? Hat es im Laufe der letz­ten Jahr­zehnte Ver­än­de­run­gen gege­ben?
Leuk­ämien und Lym­phome sowie Mali­gnome des zen­tra­len Ner­ven­sys­tems zäh­len zu den häu­figs­ten Erkran­kun­gen. Typisch kind­li­che Erkran­kun­gen sind auch das Neu­ro­blas­tom, Kno­chen­tu­more und das Nephro­blas­tom. Die Ver­tei­lung und die Inzi­den­zen päd­ia­trisch-onko­lo­gi­scher Dia­gno­sen sind über die Zeit prak­tisch gleich geblie­ben. Kar­zi­nome, die es im Erwach­se­nen­be­reich häu­fig gibt und bei denen auch Umwelt­ein­flüsse eine große Rolle spie­len, sind bei uns außer­ge­wöhn­lich und sel­ten. Das ist zah­len­mä­ßig keine Bedro­hung für Kin­der. Vie­len Pati­en­ten kann man mit einer Stan­dard­the­ra­pie sehr gut hel­fen, denn der kind­li­che Orga­nis­mus ver­fügt über große Selbst­hei­lungs- und Erho­lungs­kräfte, was auch einen inten­si­ven The­ra­pie-Ein­satz mög­lich macht.

Umwelt­ein­flüsse spie­len also keine Rolle?
Leuk­ämie bei­spiels­weise ver­ste­hen wir heute zum Teil als bereits prä­na­tal ange­legt. Aber diese Anlage reicht für eine Erklä­rung des Krank­heits­aus­bruchs nicht aus. Bezüg­lich Kor­re­la­tio­nen zu Umwelt­ein­flüs­sen gibt es keine kon­klu­si­ven Ergeb­nisse. Für ioni­sie­rende Bestrah­lung, Magnet­fel­der und Pes­ti­zide gibt es Hin­weise. Bei der weit über­wie­gen­den Mehr­zahl der Pati­en­ten lässt sich aber keine Expo­si­tion zu sol­chen Noxen nach­voll­zie­hen. Viele Erkran­kun­gen muss man wahr­schein­lich als Schick­sal begrei­fen, ohne klare Ursa­che und Erklä­rung. Die bei Erwach­se­nen jahr­zehn­te­lang auf Ober­flä­chen­epi­the­lien wir­ken­den klas­si­schen kan­ze­ro­ge­nen Sub­stan­zen spie­len für die päd­ia­tri­schen Leuk­ämien, Lym­phome und Sar­kome ver­mut­lich keine Rolle.

Wann wer­den Ver­fah­ren wie die indi­vi­dua­li­sierte Immun­the­ra­pie zum Stan­dard gehö­ren?
Ich kann keine genaue Pro­gnose abge­ben. Aber wir bewe­gen uns sicher in einem vor­stell­ba­ren Zeit­rah­men. Die tech­ni­schen Ver­fah­ren sind schon so weit gereift, dass sie auch in der brei­ten Anwen­dung vor­stell­bar sind, dies betrifft die ver­fei­nerte mole­ku­lare Dia­gnos­tik wie auch die Anwen­dung der Immun­the­ra­pie. Mit die­sen Ver­fah­ren bekommt man aber auch jeweils eine unge­heure Menge an Daten, die man in ihrer gan­zen Trag­weite erst inter­pre­tie­ren ler­nen muss. Ich kann mir gut vor­stel­len, dass man sich in Zukunft rou­ti­ne­mä­ßig das Genom des Tumors ansieht, und dann sehr genau weiß, wel­che The­ra­pie sinn­voll ist, bei­spiels­weise wel­chen „pathway inhi­bi­tor“ man sinn­voll ein­set­zen kann, oder wel­che gene­ti­schen, epi­ge­ne­ti­schen, oder sons­ti­gen funk­tio­nel­len Modi­fi­ka­tio­nen vor­stell­bar sind, damit man im Tumor oder viel­leicht auch ein­fach im Immun­sys­tem des Pati­en­ten wie­der eine Art Schal­ter umle­gen kann, und damit den Tumor erfolg­reich bekämpft. Es sind span­nende Zei­ten, da kom­men viel­leicht Revo­lu­tio­nen auf uns zu.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 18 /​25.09.2013