Fokale Dystonie: Verhängnisvolle Spezialisierung

25.05.2013 | Medizin


Aufgaben-spezifische fokale Dystonien wie sie etwa beim Musizieren, Schreiben, Golfspielen, beim Billardspieler oder Glasbläser vorkommen, stellen Funktionserkrankungen des Gehirns dar, die die Motorik betreffen. Ursache ist vermutlich eine abnorme kortikale Plastizität.
Von Irene Mlekusch

Hochspezialisierte Aufgaben wie zum Beispiel das Musizieren verlangen dem menschlichen Gehirn komplexe sensorische und motorische Funktionen ab. Mit der modernen funktionellen Bildgebung mittels funktioneller Magnetresonanztomographie, topographischem Mehrkanal-EEG und repetitiver transkranieller Magnetstimulation, ist es möglich, die für Musiker einzigartige Neuroplastizität darzustellen. Diese spezifischen motorischen und prämotorischen Aktivitäten treten sogar dann auf, wenn das Spielen des Instrumentes lediglich imaginiert wird. Die Entwicklung einer derartigen neuronalen Adaption erfolgt bei professionellen Musikern durch konsequentes Üben, wobei je nach Musikinstrument täglich Spielzeiten von mehr als sechs Stunden erreicht werden. „Durch Überüben können Verkrampfungen in einzelnen Muskeln oder Muskelgruppen auftreten, die maßgeblich an lange geübten und hochkomplexen Bewegungsabfolgen der jeweiligen Instrumententechnik beteiligt sind,“ erklärt Univ. Prof. Thomas Sycha, Leiter der Spezialambulanz für Botulinumtoxin-Behandlungen an der Universitätsklinik für Neurologie der Medizinischen Universität Wien.

Univ. Doz. Sylvia Bösch, Leiterin der Dystoniemabulanz an der Universitätsklinik für Neurologie der Medizinischen Universität Innsbruck, macht darauf aufmerksam, dass die fokalen Dystonien von den paroxysmalen Bewegungsstörungen deutlich abgegrenzt werden müssen. „Die Erstsymptome werden oft falsch interpretiert“, bedauert sie. Und sie ergänzt: „Dabei vergehen vom ersten Auftreten der Bewegungsstörungen bis zum tatsächlichen Krankheitsbild nur Tage bis wenige Wochen.“

Fundierte Daten zur Epidemiologie der Dystonien fehlen bisher; man geht von einer Mindestprävalenz von 40 Betroffenen auf 100.000 Personen aus. Die Dunkelziffer ist nach Angaben der beiden Experten aber hoch, da vor allem Aufgaben-spezifische fokale Dystonien noch einige Zeit kompensiert werden können oder Erkrankte das Berufsfeld wechseln, bevor etwas von dieser Form der Dystonie zu bemerken ist. Am weitesten verbreitet in dieser Gruppe ist jedoch der Graphospasmus. Die dabei auftretenden, zum Teil schmerzhaften Verkrampfungen der Muskulatur von der Hand bis zum Schulterbereich, welche zusätzlich durch einen Tremor verstärkt sein können, erschweren das Schreiben und machen es – im schlimmsten Fall – sogar unmöglich. Beim dystonen und progredienten Schreibkrampf kommt es zusätzlich zu Bewegungsstörungen bei anderen manuellen Tätigkeiten und in weiterer Folge zu Fehlstellungen der Hand. Weitere, an spezifische Tätigkeiten gekoppelte Dystonien, sind der auch als „Yips“ bekannte Golfer-Krampf sowie der Melker-, Glasbläser- oder Dartspieler-Krampf. Sycha nennt noch den Auktionärs- und Billardspieler-Krampf. Auch kennt er Lehrer, die in bestimmten, alltäglichen beruflichen Situationen an Kieferöffnungsdystonien leiden.

Man geht davon aus, dass etwa ein Prozent aller Berufsmusiker vom Musiker-Krampf betroffen sind. Männer sind mit einem Durchschnittsalter von etwa 30 Jahren vier- bis fünfmal so häufig betroffen wie Frauen. Besonders gefährdet sind hochbegabte Musiker mit einem hohen Leistungsniveau, außerordentlich hohem Selbstanspruch und Hang zum Perfektionismus. Sycha nennt hier als Beispiel Robert Schuhmann, der beim Klavierspielen zunehmend die Kontrolle über den Mittelfinger seiner rechten Hand verlor.

Intensiviertes Üben erhöht Progredienz

Wenn die Betroffenen die ersten Krankheitsanzeichen als mangelhafte Vorbereitung oder falsche Technik interpretieren und in der Folge die Intensität des Übens verstärken, kommt es zu einer zunehmenden Progredienz der Bewegungsstörungen. Pianisten mit fokaler Dystonie leiden eher an einer Bewegungsstörung der rechten Hand; bei Geigern ist vorwiegend die linke Hand betroffen, während Gitarristen und Schlagzeuger beidseits in ihren Bewegungen eingeschränkt sein können. Bei Blech- und Holzbläsern zeigen sich Störungen der Lippenkontrolle. Bei der so genannten Ansatzdystonie kann aber auch nur ein Mundwinkel oder das Kiefer beeinträchtigt sein. Die Feinmotorik von Stimmbändern und Vokaltrakt kann bei der Dystonie von Sängern in Mitleidenschaft gezogen sein.

Unterschiede zeigen sich allerdings nicht nur bei der Verwendung von verschiedenen Instrumenten, auch zwischen den Musikstilen lassen sich deutliche Tendenzen erkennen. Jazzmusiker und Musiker, die improvisieren, sind deutlich seltener von fokalen Bewegungsstörungen betroffen als Interpreten der klassischen Musik. Dieser Umstand wird mit dem geringeren Kontrolldruck im Jazz und der freieren Auswahl des Repertoires in Verbindung gebracht.

Früher hat man die Dystonie bei Musikern als rein psychisch verursacht gesehen; die Betroffenen wurden zum Teil in psychiatrische Behandlung überwiesen. Behandlungsverfahren wie Psycho- oder Verhaltenstherapie konnten aber keine dauerhaften Symptomverbesserungen bewirken, obwohl bei den klassischen fokalen Dystonien psychogene Ursachen wahrscheinlich mit eine Rolle spielen. „Die Zusammenhänge zwischen Bewegungsstörungen und Psyche werden häufig überschätzt“, sagt Sycha. Der Stress vor oder beim Spielen verstärke zwar die Symptome, sei aber nicht deren Ursache. Umgekehrt kann man davon ausgehen, dass eine unzufriedenstellende Leistung beim Spielen eines Instruments einen Profimusiker emotional stark belasten und sich in der Folge eine Depression entwickeln kann. „Die Aufgaben-spezifischen fokalen Dystonien stellen Funktionserkrankungen des Gehirns dar, die eindeutig die Motorik betreffen“, sagt Bösch. Insgesamt geht man heute von einer komplexen Pathogenese aus. Auch eine defekte Kontrollwirkung der Basalganglien auf die neuronalen Schaltkreise des Hirnstamms und Rückenmarks, wie man sie bei den klassischen fokalen Dystonien vermutet, erklärt Erkrankungen wie die Musiker-Dystonie nicht zufriedenstellend. Die maladaptive Plastizität der sensomotorischen kortikalen Areale scheint bei den Aufgaben-spezifischen fokalen Dystonien die entscheidende Rolle zu spielen. Bösch dazu: „Es handelt sich bei diesen speziellen Bewegungsstörungen am ehesten um eine abnorme kortikale Plastizität in Kombination mit einer Prädisposition, wobei sich die kortikalen Repräsentationen mit der Zeit verändern.“ In einer Studie konnte bei Patienten mit Musikerdystonie eine Überlappung der rezeptiven Felder der Fingerrepräsentationen in der primären somatosensorischen Hirnrinde festgestellt werden.

Auch Sycha geht von einem „Softwarefehler“ aus und erinnert daran, dass die Ruhigstellung oder das Umlernen von motorischen Abläufen eine mögliche Therapie darstellen können. „Gerade bei der Musikerdystonie erschwert die emotionale Komponente das Entlernen der automatisierten Bewegungen“, so Bösch. Patienten mit Graphospasmus, die gelernt haben, mit der gesunden Hand zu schreiben oder ihre Schreibhaltung verändert haben, entwickeln in 30 bis 40 Prozent der Fälle wieder eine fokale Dystonie. Die Ergotherapie stellt somit einen weiteren Behandlungsansatz dar. Beide Experten schließen auch die selektive periphere Denervierung mit Botulinumtoxin des Serotyps A nicht aus. Dem Betroffenen muss aber klar gemacht werden, dass es sich um eine symptomatische Behandlung handelt, die in regulären Abständen wiederholt werden muss. Bösch empfiehlt im Einzelfall den adjuvanten Einsatz von Anticholinergika wie Trihexyphenidyl, wobei allerdings die Nebenwirkungen berücksichtigt werden müssen. Zentren, die sich auf die Gesundheit von Musikern spezialisiert haben, bieten den Umbau von Instrumenten an, um die überlernten motorischen Muster zu umgehen. Chirurgische Verfahren wie beispielsweise die tiefe Hirnstimulation sind Patienten vorbehalten, bei denen erhebliche sekundäre Gesundheitsschäden zu erwarten sind. Die Indikationsstellung sollte im Einzelfall neurologischen Zentren vorbehalten bleiben.

Dystonie – die verschiedenen Formen

Unter dem Begriff Dystonie fasst man Bewegungsstörungen mit länger anhaltenden, unwillkürlichen Kontraktionen der quergestreiften Muskulatur, die häufig zu verzerrenden und repetitiven Bewegungen sowie abnormen Haltungen oder bizzaren Fehlstellungen von Körperteilen führen zusammen. Die häufigste Form der Dystonie ist die fokale Dystonie. Dabei unterscheidet man je nach betroffener Körperregion Tortikollis, Blepharospasmus, oromandibuläre, spasmodische Dysphonie oder Gliederdystonie. Bewegungsstörungen, die nur bei bestimmten Tätigkeiten wie zum Beispiel beim Schreiben oder Musizieren auftreten, stellen eine separate Gruppe dar und werden als Aufgaben-spezifische fokale Dystonien oder Beschäftigungskrampf bezeichnet. Üblicherweise breiten sich diese spezifischen Dystonien nicht auf andere Tätigkeiten aus.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 10 / 25.05.2013