Depression im Alter: Unterdiagnostiziert und untertherapiert

25.09.2013 | Medizin

Schwierige Diagnose

Bis ins hohe Alter verdreifacht sich die Inzidenz der Depression. Jedoch wird nur jeder zehnte Betroffene richtig medikamentös behandelt. Denn speziell zu Beginn der Erkrankung sind Überschneidungen einiger Symptome mit jenen eines M. Alzheimer oder eines M. Parkinson möglich.

Von Barbara Wakolbinger

Die Ein-Jahres-Punktprävalenz für eine Depression liegt bei jüngeren Menschen in Europa bei Männern knapp unter zehn Prozent, bei Frauen sind es rund 15 Prozent. „Bis ins hohe Alter verdreifacht sich die Inzidenz“, sagt Univ. Prof. Peter Fischer, Leiter der Abteilung für Psychiatrie am SMZ-Ost (Sozialmedizinisches Zentrum Ost) auf Anfrage der Österreichischen Ärztezeitung. Demnach liegt für eine 80-jährige Frau das Risiko, an einer Depression zu erkranken, bei 40 Prozent, für einen 80-jährigen Mann zwischen 20 und 25 Prozent. Wer bereits in jüngeren Jahren von einer Depression betroffen war, hat ein zusätzlich erhöhtes Risiko. Depression im Alter war auch das Thema bei einer vom Hilfswerk Österreich veranstalteten Pressekonferenz in Wien. Speziell bei älteren Menschen sind die Symptome einer Depression nicht ganz so typisch, berichtete Reinhold Glehr, Präsident der ÖGAM (Österreichische Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin) dort. Dennoch sollte man auf Freudlosigkeit, Antriebslosigkeit, Schlaf- und Appetitstörungen sowie Pessimismus, Schuldgefühle und Rückzug aus dem sozialen Leben achten. Auf jeden Fall kann eine Depression eine massive Verschlechterung der Lebensqualität und eine schwere Einschränkung für den Patienten bedeuten – auch bei alltäglichen Verrichtungen wie Nahrungsaufnahme oder Körperpflege.

„Wie in jedem Alter entscheidet die Schwere der Krankheit über die Behandlung“, sagt Fischer. Bei einer mittelgradigen Depression, die sich auch in körperlichen Symptomen wie Gewichtsverlust oder Schlafstörungen äußere, sei eine medikamentöse Behandlung notwendig. Bei leichteren Verstimmungen können Psychotherapie, Licht sowie Bewegung ausreichend sein. Vorbeugend wirken vor allem vermehrte soziale Kontakte – auch zu Freunden und Bekannten. Tatsächlich könne auch im Alter 80 Prozent der Patienten mit einer State of the Art-Behandlung beim Facharzt geholfen werden, ergänzt Fischer. „Dass ältere Menschen schlechter auf Antidepressiva ansprechen, stimmt nicht“, sagt der Experte. Allerdings sei es nach Absetzen der Medikamente im hohen Alter wahrscheinlicher, dass die Erkrankung zurückkommt. „Je älter ein Patient ist, desto höher die Rekursionsrate.“

Wie eine deutsche Studie ergab, werden jedoch grundsätzlich nur zehn Prozent der Patienten richtig behandelt; die übrigen 90 Prozent gehen nicht zum Arzt oder aber es wird die falsche Diagnose gestellt oder es werden Benzodiazepine verordnet, berichtet Fischer. Diese Erkenntnisse könnten durchaus auch auf Österreich umgelegt werden. Obwohl ein Viertel der Menschen im Alter von 85 Jahren an einer Depression leidet, werde nur wenig darüber gesprochen, erklärte der Präsident des Hilfswerk Österreich, Othmar Karas. Und weiter: „Man muss das Bewusstsein erhöhen und eine Enttabuisierung vorantreiben. Man darf nicht einfach alles dem normalen Alterungsprozess in die Schuhe schieben.“

Neben dem zunehmenden Autonomieverlust im Alter, körperlichen Einschränkungen sowie Verlusterfahrungen können auch schwere traumatisierende Ereignisse wie nicht heilbare und chronisch fortschreitende Krankheiten eine Depression begünstigen. Denn chronische Erkrankungen bedeuten chronischen Stress. Aber auch einzelne Ereignisse können traumatisch sein: „Je jünger der Patient, desto gravierender ist ein Eingriff in seine Lebensführung – etwa auch durch einen Insult, Herzinfarkt oder eine Herzinsuffizienz. Deshalb gehen diese Ereignisse mit einer hohen Inzidenz von Depression einher“, erklärt Fischer. Antidepressiva spielen daher in der Rehabilitation eine große Rolle. Je eher ein Infarkt sofort behandelt und dadurch vom Patienten als weniger lebensbedrohlich erlebt wird, desto niedriger ist auch die Depressionsrate.

Organische Bereitschaft?

Ob es auch eine organische Bereitschaft des alternden Gehirns zu Depression gebe, darüber werde in der Wissenschaft noch diskutiert. Auch Ernährungsdefizite wie etwa ein Folsäure-, Vitamin B- oder Eisen-Mangel können eine Depression auslösen, schildert Glehr. Außerdem müsse man auch auf endokrine Erkrankungen wie Diabetes mellitus oder Hypothyreose als Auslöser achten. Problematisch ist die Überschneidung von einigen Symptomen der Depression mit einem beginnenden M. Parkinson oder M. Alzheimer. „Es kann zu Wechselwirkungen zwischen Depression, Angsterkrankung, Demenz und verschiedenen organischen Symptomen kommen, die nicht leicht voneinander zu trennen sind“, so Glehr. Vor allem bei älteren Menschen, die das erste Mal im Laufe ihres Lebens Anzeichen einer depressiven Verstimmung wie Freudlosigkeit und Antriebslosigkeit zeigen, während etwa Schuldgefühle oder Zweifel fehlen, sollte man auch an M. Parkinson denken, ergänzt Fischer. Bei M. Alzheimer sei die Unterscheidung noch einfacher: „Freud- und Interesselosigkeit sowie Rückzug kommen auch im Frühverlauf einer Alzheimer-Erkrankung vor, während Schlafstörungen und Gewichtsverlust eher zum Spektrum der Depression zählen“, so der Experte.

Unbehandelt kann sie sich auch negativ auf den Verlauf körperlicher Krankheiten auswirken und so die Mortalität der Patienten erhöhen. Nach einem Myokardinfarkt erhöht sich die Mortalität bei einer nicht behandelten Depression um das Vierfache, bei einem Insult sogar um das Siebenfache; bei chronischen Erkrankungen wie Diabetes mellitus erhöht sich die Komplikationsrate. „Depressive Patienten haben eine weitaus höhere Wahrscheinlichkeit, in den nächsten ein oder zwei Jahren zu sterben“, schildert Fischer. Das könne auch auf eine Schwächung des Immunsystems zurückgeführt werden. Einen weiteren Mechanismus, der zur erhöhten Mortalität beiträgt, sieht Fischer in der schwindenden Motivation, zum Arzt zu gehen oder sich um andere Erkrankungen zu kümmern. „Auch versteckte Suizidalität spielt hier eine Rolle.“ Denn generell zeige sich vor allem bei älteren Männern eine deutliche Zunahme der Wahrscheinlichkeit für einen Suizid: Ab dem 60. Lebensjahr steigt die Kurve steil an. „Ein Prozent der 80-jährigen Männer wird durch einen Suizid aus dem Leben scheiden“, berichtet Fischer. Als Ursachen dafür nennt er zunehmenden Macht- und Kontrollverlust sowie die nachlassende sexuelle Leistungsfähigkeit im Alter. Auch bei Frauen gibt es einen – wenn auch sanfteren – Anstieg der Suizide.

Therapie meist erfolgreich

„Schwierige Diagnose, einfache Behandlung“, fasst Fischer zusammen. Zwar müsse man bei modernen Antidepressiva auf etwaige Nebenwirkungen achten, grundsätzlich sei die Behandlung aber einfach und meist erfolgreich. Allerdings spreche nur etwa die Hälfte aller Patienten gleich beim ersten Therapieversuch auf nebenwirkungsarme SSRIs gut an – daher sei in der Behandlung auch Geduld gefragt. Regelmäßige Kontrollen und die Absprache mit dem Patienten stehen im Vordergrund. „Beinahe alle Patienten mit Depressionen kommen zuerst in die allgemeinmedizinische Praxis“, erzählt Fischer aus seiner Erfahrung. „Deshalb ist die Zusammenarbeit zwischen Haus- und Facharzt besonders wichtig.“

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 18 / 25.09.2013