Generalisierte Angststörung: Katastrophenhaltung dominiert

25.02.2013 | Medizin

Nicht zu wissen, wovor man eigentlich Angst hat – das ist das Charakteristikum der generalisierten Angststörung. Das aus der Epilepsieforschung stammende Pregabalin hat in den letzten Jahren äußerst gute Testergebnisse gezeigt, da es das Glutamatsystem beeinflusst und modulierend auf die Erregung wirkt.Von Barbara Wakolbinger

Die Lebenszeitprävalenz der generalisierten Angststörung (GAD) beträgt circa sechs bis acht Prozent der Bevölkerung; Frauen erkranken etwa doppelt so häufig wie Männer. Angsterkrankungen sind damit insgesamt etwa so häufig wie depressive Erkrankungen. Noch wird die generalisierte Angststörung jedoch viel zu selten erkannt und diagnostiziert, ist Univ. Prof. Siegfried Kasper, Vorstand der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Universität Wien, überzeugt.

Die Patienten zeichne ein dauerhaft anhaltendes erhöhtes Angstniveau aus, sie seien ständig körperlich angespannt und ihre Gedanken und Wahrnehmungen auf mögliche Gefahren eingestellt, skizziert Univ. Prof. Hans-Peter Kapfhammer, Leiter der Universitätsklinik für Psychiatrie an der Medizinischen Universität Graz. Das unterscheide die generalisierte Angststörung etwa von Panikattacken, die unerwartet mit hoher Intensität auftreten und auch mit einem subjektiven Kontrollverlust einhergehen. In seltenen Fällen können sie auch bei der generalisierten Angststörung vorkommen. Dabei sei keine klare phobische Ausrichtung – also etwa Angst vor Hunden – erkennbar. „Das Charakteristische an der generalisierten Angststörung ist, dass die Patienten einfach nicht wissen, wovor sie Angst haben“, erklärt Kasper.

Zusätzlich somatische Reaktion

Die Betroffenen werden ständig von unrealistischen Besorgnissen geplagt und legen eine dominierende „Katastrophenhaltung“ an den Tag, so Kapfhammer. Jede Angst werde aber auch von einer somatischen Reaktion begleitet. Besonders massive muskuläre Verspannungen können ein Hinweis auf eine generalisierte Angststörung sein. „Patienten kommen aus dieser Angstabwehrspannung gar nicht mehr heraus, oft ist diese mit Schmerzzuständen assoziiert“, erklärt Kapfhammer. Und weiter: „Es ist gar nicht selten, dass Patienten aufgrund dieser oft auch wandernden Schmerzen zum Arzt gehen.“ Weitere Begleiterscheinungen können etwa verstärktes Schwitzen und Zittern, Herzsensationen sowie Magen- und Verdauungsbeschwerden sein. Das dritte Kriterium ist Hypervigilanz, die Patienten sind schreckhaft, erwarten Unheil und sind ständig „auf dem Sprung“. Nach einer klassischen diagnostischen Abklärung der Beschwerden sollten Allgemeinmediziner auf jeden Fall die Idee der Angststörung im Hinterkopf haben, erklären die beiden Experten unisono. Außerdem gehe die generalisierte Angststörung häufig auch mit anderen psychischen Erkrankungen wie zum Beispiel Depressionen einher. Laut Kasper sind bis zu zwei Drittel der Patienten auch von depressiven Erkrankungen betroffen.

Oft schaffen sich Patienten ein Umfeld, in dem ihre Erkrankung akzeptiert und sie selbst weitgehend abgeschirmt werden, erzählt Kasper. Das Arbeitsumfeld beschütze sie – in wenigen Fällen komme es aber auch zu Entlassungen – und auch Ehepartner neigen dazu, Betroffene in Schutz zu nehmen. „Der Angstpatient, vor allem wenn er eine Frau ist, passt ganz gut in das gängige Rollenschema der häuslichen Ehefrau, die daheim bleibt und das Haus hütet.“ Kapfhammer ergänzt: „Eigentlich stellen die pathologischen Besorgnisse der Patienten ein kognitives Vermeidungsverhalten dar.“ Denn diese seien meist sehr allgemeiner Natur. Verspätet sich der Ehemann, haben Betroffene nicht das ganz konkrete Bild eines Autounfalls vor Augen. Stattdessen springen ihre Gedanken von Horrorszenario zu Horrorszenario bis hin zum finanziellen Ruin der Familie und Einsamkeit in der Zukunft. „Das ist ein paradox anmutender Versuch, die Angst zu reduzieren. Zwar kein sehr erfolgreicher, aber ein kompletter Kontrollverlust wie bei einer Panikattacke wird vermieden“, erklärt Kapfhammer.

Oft chronischer Verlauf

Die generalisierte Angststörung tritt meist in den späten 20ern der Patienten auf, viele Patienten haben chronische Verläufe. Allerdings gebe es auch einen erneuten Anstieg der Erkrankungen im höheren Lebensalter, meint Kapfhammer. „Der älter werdende Mensch ist besonders anfällig für die generalisierte Angststörung. Das ist biologisch und psychosozial nachvollziehbar.“ Einsamkeit, finanzielle Bedrohungen, körperliche Erkrankungen und Einschränkungen, aber auch der Blick auf die Generation der Enkel sind zentrale Besorgnisse.

„Die Behandlung der generalisierten Angststörung ist nicht schwieriger als die des hohen Blutdrucks, Asthma oder Diabetes“, stellt Kasper klar. Oftmals helfe es, sich den Patienten über den Körper zu nähern – etwa nach den Verspannungen, die den ganzen Tag hindurch anhalten, zu fragen und diese dann genauer zu lokalisieren. Mit der Frage „Haben Sie nicht Angst, krank zu sein?“ sei man dann schon bei der Angst. Auch konkrete Fragen, etwa nach dem ständigen Grübeln, können helfen. „Die Angst spreche ich immer als letztes an. Weil wenn Sie direkt danach fragen, sagen Patienten – vor allem männliche – schlicht ‚nein‘“, erklärt Kasper seine Vorgehensweise.

Therapie: SSRIs und SNRIs

Es gibt mehrere Standardansätze bei der medikamentösen Behandlung der generalisierten Angststörung. „Die meisten Patienten mit Angststörungen, Depressionen und anderen psychiatrischen Volkserkrankungen werden mehrheitlich bei Ärzten für Allgemeinmedizin behandelt“, so Kapfhammer. Die Präparate mit sehr guten Daten sind moderne Antidepressiva aus der Reihe der Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs). Darunter fallen etwa Citalopram, Escitalopram, Sertralin und Paroxetin. SSRIs seien wirksam und sicher einzusetzen. Auch zu Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern (SNRIs) wie etwa „Venlafaxin ER“ gebe es überzeugende Studien, wie der Experte weiter ausführt.

In den letzten fünf Jahren zeige auch der aus der Epilepsieforschung stammende Arzneistoff Pregabalin (Lyrica®) äußerst gute Testergebnisse. Im Gegensatz zu den bisher hauptsächlich verwendeten Arzneistoffen beeinflusst Pregabalin das Glutamatsystem und wirkt modulierend auf eine Übererregung. „Das ist ein ganz anderer Effekt und fühlt sich für die Patienten auch anders an“, erzählt Kapfhammer. „Wenn SSRIS und SNRIs oder auch Benzodiazepine keinen befriedigenden symptomatischen Linderungseffekt haben, lohnt es sich auf jeden Fall, Pregabalin zu versuchen“, so der Tipp des Experten.

Speziell bei der Einstellung zu Beginn der Therapie haben Benzodiazepine ihren überlegten und reflektierten Stellenwert, sagt Kapfhammer. In einer kleinen Subgruppe von generalisierten Angstpatienten sei auch der langfristige Einsatz von Benzodiazepinen unumgänglich, auch wenn die möglichen Nebenwirkungen wie beispielsweise Gewöhnung oder kognitive Defizite kontrolliert werden müssen. Neben der medikamentösen Behandlung sei auch das Gespräch mit dem Patienten wichtig, meint Kasper. „Ganz entscheidend ist, klar zu sagen, dass es sich bei der generalisierten Angststörung um eine gut behandelbare Erkrankung und nicht um eine charakterliche Fehlhaltung handelt. Denn Patienten haben häufig Angst, als ‚die Depperten‘ dazustehen.“ Hier könne das Bild des medizinischen Krankheitsmodells vom geschädigten, komplexen Nervensystem für ein besseres Verständnis hilfreich sein.

Zusätzlich ist es ratsam, eine Psychotherapie zu empfehlen. „Dabei darf sich der Patient natürlich nicht weggeschickt fühlen“, betont Kasper. Auch Kapfhammer rät zu begleitenden, störungsorientierten psychotherapeutischen Ansätzen. Es lägen sowohl für kognitivverhaltenstherapeutische als auch für psychodynamische Ansätze ermutigende Ergebnisse vor. „Viele Patienten brauchen Psychotherapie und Medikamente. Manche benötigen nur einen Ansatz und nicht alle brauchen beides gleichzeitig.“ In einigen Fällen sei die medikamentöse Einstellung Voraussetzung für eine Psychotherapie; in anderen wiederum müsse man eine notwendige medikamentöse Behandlung mit einer Psychotherapie vorbereiten.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 4 / 25.02.2013